Der rassistische Angriff im Jahr 1999 und das Gedenken in Guben

Eine sehr deutsche Geschichte

Farid Guendoul starb 1999 in Guben, als er versuchte, vor Neonazis zu flüchten. 14 Jahre nach der »tödlichen Hetzjagd« will sich dort kaum jemand an das Opfer rassistischer Gewalt erinnern.

Um Menschen zu treffen, die Ende der neunziger Jahre in Guben gegen Neonazis aktiv waren, muss man schon lange nicht mehr in die Lausitz fahren. Sie sind fast alle fortgezogen. Viele von ihnen leben jetzt in Leipzig. In den Jahren um die Jahrtausendwende sahen viele angesichts der sich ausbreitenden Neonazi-Gruppierungen und des allgemeinen gesellschaftlichen Klimas in der Stadt keine andere Möglichkeit.
Lukas A. ist heute Anfang 40 und hat 34 Jahre seines Lebens in Guben verbracht. »Ich hatte schlicht keine Perspektive mehr in der Stadt«, sagt er, ein Satz, der von fast allen befragten ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern Gubens zu hören war. Damit meinen sie nicht nur eine berufliche Perspektive – es geht ihnen immer auch um die gesellschaftlichen Zustände, um den Alltag. »Schon früh war ich antifamäßig unterwegs und hatte irgendwann mehrere Generationen alternativer Jugendlicher erlebt«, sagt Lukas. »Man fing immer wieder bei null an, man hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten.«
Dabei war die Gubener Antifa bereits kurz nach dem Mauerfall entstanden. Die Neonazi-Gruppen wuchsen allerdings schneller und fingen bald an, Jagd auf Menschen zu machen, die nicht in ihr Weltbild passten. Lukas A. und seine Freundinnen und Freunde gehörten zu den wenigen, die von Anfang an versuchten, diese Entwicklungen zu bekämpfen.

Es sei eine sehr unruhige, aufreibende, nervöse Zeit gewesen, erinnern sich Eva R. und Ute C. Eva R. ist ebenfalls Anfang 40 und pendelte zuletzt täglich zu ihrer Arbeitsstelle nach Cottbus, damit sie in Guben bleiben und ihr Kind dort eine »unbeschwerte Schulzeit« haben konnte. Obwohl sie sich ihrer Stadt »verbunden« fühle, weiß sie kaum Positives über Guben zu erzählen. So erinnert sie sich an eine Arbeitskollegin: »Sie sprach nicht akzentfrei deutsch und hat ihre Tochter gebeten, im Freien nicht mit ihr zu sprechen, damit niemand hört, woher sie kommen.« Diese Episode verdeutlicht für Eva, »welche Angst sie hatten«. Daran habe sich bis heute kaum etwas geändert, ergänzt Ute: »Vor dem Kaufland begegnet man Menschen, die Thor-Steinar-Jacken tragen, oder es werden Unterschriften zur Wiedereinführung der Todesstrafe gesammelt. In einer Großstadt wie Leipzig kann man das offen und laut anprangern. In Guben macht das niemand.« Sie erwähnt aber nicht nur negative Erlebnisse im Guben der Jahrtausendwende und erinnert etwa an das antirassistische Sommercamp, das im nahen Forst im Jahr 2000 organisiert wurde, und an die Begegnungen mit auswärtigen Antifaschisten auf Demonstrationen. »Wütend und traurig« bleibe Ute trotzdem, denn »die Jahrestage, die an die Opfer rassistischer Gewalt und Morde erinnern, kommen und gehen, aber nur wenige setzen sich tatsächlich gegen Rassismus ein.«
Im vergangenen Jahrzehnt haben viele Leute nicht nur Guben, sondern die gesamte Lausitz verlassen. Die Gründe sind immer dieselben: Keine Arbeit, fehlende Alltagskultur, Perspektivlosigkeit. Für Antifaschisten zählen aber auch der Schock nach der rassistischen Hetzjagd vom 13. Februar 1999, die zermürbenden Kämpfe um die gesellschaftliche Ächtung der Tat und der Täter, die fehlende Anerkennung der Opfer sowie die allgemeine gesellschaftliche Ignoranz zu den wichtigsten Gründen, warum sie diesen Ort verlassen haben.

In der Nacht des 13. Februar 1999 wurden Farid Guendoul, Issaka K. und Kahled B. von elf deutschen Jugendlichen im Gubener Stadtteil Obersprucke angegriffen. Die Täter waren Angehörige der rechten Schlägerszene sowie aktive Neonazis. In dieser Nacht waren sie, aufgeputscht von der Musik der Neonaziband »Landser«, auf der Suche nach »Ausländern« (s. Seite 4). Die angegriffenen Flüchtlinge aus Algerien und Sierra Leone versuchten zu entkommen. Auch wenn sie nicht verstanden, was die Jugendlichen brüllten, wussten sie sofort, dass sie in höchster Gefahr waren. Einigen der Verfolger gelang es, Kahled B. einzuholen. Sie traten ihn, bis er ohnmächtig auf der Straße liegen blieb.
Farid Guendoul und Issaka K. suchten Schutz im Hauseingang der Hugo-Jentsch-Straße 14. Guendoul trat in seiner Panik die Türscheibe ein und verletzte sich dabei an der Beinschlagader. Der 28jährige Algerier verblutete wenig später im Treppenhaus.
Das Gerichtsverfahren gegen die elf jungen Männer endete im November 2000 vor dem Landgericht Cottbus: Acht von ihnen wurden der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen. Das Strafmaß bewegte sich zwischen drei Jahren Haft und einer richterlichen Verwarnung. Erst der Bundesgerichtshof trug im Revisionsverfahren dem Vorsatz Rechnung und bewertete im Oktober 2002 die Tat als versuchte Körperverletzung mit Todesfolge. Auf das Strafmaß hatte dies keinen Einfluss.
Das Gerichtsverfahren wurde von einem gleichbleibend hohen Medieninteresse begleitet. Das gehörte zu den Besonderheiten des Umgangs mit der rassistischen Tat, die als »tödliche Hetzjagd von Guben« bekannt geworden ist, und die in eine Zeit fiel, in der der öffentliche Diskurs über Neonazis einen Wandel erlebte. Denn Guben war und ist kein Einzelfall: Mindestens 180 Menschen sind in Deutschland seit 1990 von Neonazis getötet worden. Die Reaktionen auf die rassistischen Taten haben sich in diesen Jahren oft geähnelt: Es findet sich immer irgendein Politiker, der das Geschehen herunterspielt; die Existenz einer lokalen rechten Szene wird geleugnet; die Opfer werden selbst für das Geschehene verantwortlich gemacht. Nach dem üblichen Aufschrei der »Zivilgesellschaft«, nach antifaschistischen Demonstrationen und den obligatorischen Forderungen nach einem Verbot der NPD kehrt spätestens mit der Verkündung eines Gerichtsurteils wieder Ruhe ein. An den ersten Jahrestagen werden noch Blumen niedergelegt, vielleicht fordert eine Initiative die Umbenennung einer Straße oder setzt eine Gedenktafel durch. Schulklassen absolvieren die immer gleichen Projekttage über »Toleranz« und »Demokratie« und »gegen Extremismus und Gewalt«. Festzustellen bleibt in der Regel, dass sich nichts geändert hat, weder am Fortbestehen mörderischer rechter Gewalt, noch an den immer gleichen Reaktionen darauf.

Die Europabgeordnete Ska Keller (Grüne) hatte als Kreisgeschäftsführerin bis zum vergangenen Jahr noch eine Adresse in Guben. Sie habe kein rein negatives Bild der Stadt, erzählt sie, für sie sei Guben lange einfach Alltag gewesen. Um die Jahrtausendwende suchte auch sie ihren Weg durch die politischen Verwerfungen nach dem Tod von Farid Guendoul. Und auch sie kommt nach langer Erfahrung in der Politik zu dem Schluss: »Anscheinend hat sich über all diese Jahre, alle Jahrestage, alle Gedenksteine und Fernsehreportagen hinweg nichts geändert.« Sie beklagt, heute wie damals, den Mangel an Empathie, die Wiederkehr der immer gleichen Relativierungen dessen, was in der Nacht des 13. Februars geschah, und die Larmoyanz eines Gemeinwesens, das sich bis heute für das eigentliche Opfer der ganzen Tragödie hält. »Ich habe das Gefühl, dass gerade wieder niemand aufpasst in Guben«, sagt sie mit Blick auf die örtliche Neonaziszene und die trügerische Ruhe, die derzeit in der Stadt herrscht. Aber wer könnte das auch sein? Die wenigen aktiven Antifaschisten sind abgewandert oder infolge frustrierender Ausein­andersetzungen verstummt.
Presseanfragen zum Thema Neonazis stoßen bei Politikerinnen und Politikern in Guben nach wie vor auf wenig Begeisterung. So antwortete der örtliche SPD-Vorsitzende Günther Quiel, über dieses Thema sei schon »so viel Verwirrendes« geschrieben und geäußert worden, »und immer zum Nachteil dieser ohnehin problematischen Stadt«. Umso mehr bemühen sich die politischen Institutionen, ein Stück kleinstädtischer Idylle zu präsentieren. Der kommissarische Bürgermeister Fred Mahro (CDU) berichtete etwa vom Neujahrsempfang und dem Stadtfest, die gemeinsam mit der polnischen Nachbarstadt Gubin begangen werden, und verweist auf eine »Schule ohne Rassismus« im Ort. Er betonte, rechte Tendenzen würden nicht unterschätzt, es gebe »aber auch keinerlei Veranlassung«, dieses Thema »zu dramatisieren«. Das brandenburgische Innenministerium erklärte auf eine Anfrage der Jungle World, Guben sei keine »Problemregion«, dass die Situation dort aber »wegen des vergleichsweise hohen rechtsextremistischen Personenpotentials und wegen des Gewalttäters Alexander Bode Sorge« bereite.
Bode, der Haupttäter des tödlichen Angriffs vom 13. Februar 1999, ist nämlich seit 2008 Stellvertretender Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Lausitz. Nach dem Tod von Guendoul war der damals 21jährige zu zwei Jahren Jugendknast verurteilt worden. Kein Grund zur Sorge, findet Bürgermeister Mahro, der in der NPD »eine in sich geschlossene Gruppierung«, sieht »die mit ihrem Gedankengut bei den Gubenern keine Aufmerksamkeit erregt«. Doch die NPD konnte mit 4,3 Prozent der Stimmen in die Stadtverordnetenversammlung einziehen. Zum Abgeordneten Marco Neuling sagte Mahro, dieser spiele in der politischen Arbeit »keine Rolle«.
Auf die Frage, ob und wie in Guben an den Tod von Farid Guendoul erinnert werde, verwies der Bürgermeister auf den Gedenkstein, an dem sowohl die Kirche als auch die Parteien jährlich eine Mahnveranstaltung durchführten. Edeltraud Mäser vom Ortsverband der Partei »Die Linke« zeigte sich über diese Antwort verwundert: »Ich habe in den vergangenen Jahren weder Fred Mahro noch andere Vertreter der Stadt am Gedenkstein gesehen.« Ausgerechnet dieses Jahr hätten sich jedoch Vertreter der Stadtverwaltung zur Veranstaltung am Gedenkstein angekündigt, sagte Peter Stephan, einer der Organisatoren des jährlichen Gedenkens.
»Niemand ist vergessen«, lautete eine der Parolen vieler Gedenkinitiativen und auf zahllosen Demonstrationen der neunziger Jahre. Guben ist nur ein Beispiel von vielen. Eine Handvoll Leute gibt es dort noch, die Farid Guendoul nicht vergessen wollen. Möglicherweise werden auch sie bald die Stadt verlassen. Vielleicht wird auch Farid Guendouls Familie irgendwann zum Gedenkstein nach Guben kommen. Dass sie dort auf jemanden treffen, der die Geschichte kennt, wird immer unwahrscheinlicher.

Das online-Projekt »Re:Guben« befasst sich mit den Folgen des tödlichen Angriffs und mit dem Umgang des Staates mit den Opfern rechter Gewalt in Deutschland