Waren auf der Spielwarenmesse in Nürnberg

Hello Lottie

Weltraumknete und Body-Confidence-Puppen: Dass Spielzeug eine ernste Sache ist, haben Elke Wittich und Boris Mayer auf der Spielwarenmesse in Nürnberg erfahren.

Wichtigsein ist wichtig, auch und vielleicht sogar gerade auf einer Spielzeugmesse. Das jedenfalls dachte sich wohl der ältere Mann, der, angetan mit einer grellgelb-orangenen Warnweste durch die Hallen läuft. Auf dem Rücken prangt der Schriftzug der Fachzeitschrift, für die er arbeitet, irgendwas mit Modellbau und Eisenbahnen.
Wenn man sich nur für Güterzüge und Lokomotiven und Dampfmaschinen interessieren würde, wäre die Halle vermutlich das Paradies. Tut man zwar nicht, trotzdem ist es immer wieder nett, dort vorbeizuschauen, denn auf die Idee, Hello-Kitty-Eisenbahnen herzustellen, ist bislang noch niemand gekommen, weswegen es bei den Modellbauern auch bemerkenswert unrosa zugeht. Ansonsten ist die 1975 zum ersten Mal auf einer Geldbörse abgedruckte nied­liche japanische Katze auch in ihrem 38. Lebensjahr überall. Und manchmal führt sie vielleicht sogar eine illegale Existenz, denn auch bei Spielwaren ist die sogenannte Produktpiraterie verbreitet. An einigen Ständen, wo man beispielsweise bekannte Automarken-Logos auf Spielzeugen zeigt, herrscht Fotografierverbot, dazu verkünden mehrsprachige Schilder, dass Lizenzierungen beantragt worden seien, aber eine Entscheidung noch nicht gefallen sei.
Die zahlreichen Hersteller von Legosteinen, die keine Legosteine sind, müssen sich allerdings keine Sorgen wegen Stichproben deutscher Behörden machen. 2008 unterlag die dänische Klötzchenfirma in einem Markenrechtsstreit gegen einen kanadischen Hersteller vor dem Europäischen Gerichtshof. Nachdem der Patentschutz ausgelaufen war, hatte Lego versucht, beim EU-Markenamt im spanischen Alicante einen Stein als Geschäftsmarke anzumelden. Das gelang auch zunächst, bis das Unternehmen Mega Brands Beschwerde einlegte und der Eintrag wieder gelöscht wurde. Die Form der Bausteinchen ergebe sich aus der technischen Funktion, urteilte der Gerichtshof, ein Markenschutz sei damit ausgeschlossen, weil er gleichbedeutend mit einer dauerhaften Verlängerung des technischen Patentschutzes sei.
Auf der Messe zeigen nun viele Hersteller ihre Versionen der erfolgreichen Bausteine, einige werben explizit damit, dass ihre bunten, oft originelleren Produkte mit Lego kompatibel sind. Die gemeinsame Konkurrenz ist jedoch digital, wie Gidi Shulman von der auf Lernspielzeug spezialisierten Firma Diamant Toys erklärt. »Gerade im Dezember wurde von Toys News eine Befragung von Kindern aus aller Welt nach ihrem größten Wunsch zu Weihnachten veröffentlicht. Ein eigenes Tablet stand ganz oben.« Immerhin sei die Nachfrage nach Spielzeug, das den Nachwuchs nicht nur beschäftigt, nach wie vor groß, was an der Wirtschaftslage liege: »Die Leute bleiben mehr zu Hause. Wenn man sich überlegt, was ein Besuch im Kino oder in einem Vergnügungspark kostet, ist das sehr verständlich. Zehn, 15 Euro für pädagogisch wertvolles Spielzeug auszugeben, ist eine echte Alternative.«
Ganz besonders toll werden Spielzeuge jedoch immer dann, wenn sie so richtig nutzlos sind. Wie Silly Putty. Nur in ausgewählten Läden erhältlich, war die aus unerfindlichen Gründen in einem durchsichtigen Ei verpackte rosafarbene Masse für viele verschiedene Zwecke einsetzbar: Man konnte sie wie Knete zu irgendwas formen und anschließend durchschneiden, man konnte aus ihr einen leidlich funktionierenden Flummy machen und man konnte sie ausrollen und auf ein Zeitungsbild legen, das dann anschließend spiegelverkehrt auf dem Silly Putty erschien (was, wenn man das anschließende Reinigen vergaß, dazu führte, dass das hübsch glänzende Rosa ganz schnell matschfarben wurde). Die Knete wurde in den USA während des Zweiten Weltkrieg entwickelt. Mit dem synthetischen Gummi wollte man sich unabhängig von Rohstoffimporten machen. Silly Putty schaffte es sogar ins All, bei der Apollo-8-Mission durfte die Knete mitfliegen, die Astronauten nutzen sie, um diverse Gegenstände damit festzupappen (und um sich die Zeit zu vertreiben). Auf Nerd-Zubehör spezialisierte Anbieter wie »Think Geek« vertreiben die rosa Masse noch heute. Allerdings fehlt ihr mittlerweile ein essentielles Feature, so bemängeln enttäuschte Käufer: Zeitungsseiten kopieren geht nicht mehr. Das liegt daran, dass moderne Druckfarben nicht mehr auf Petroleum basieren und daher nicht länger so wunderschön abfärben.
Dafür wurde Silly Putty von einer kanadischen Firma zu Blobimals weiterentwickelt. In verschiedenen Sets wird unterschiedlich gefärbte Knete angeboten, mit der man alienartige Figuren formen kann. Und dann muss man nur noch die mitgelieferten Accessoires wie Arme, Augen, Stacheln sowie Zähnchen hineinstecken und das Ganze auf eine Tischkante stellen, wo das Zeugs dann nach und nach verläuft, was toll aussehen kann, aber nicht muss. Außerdem gibt es keine pinken Blobimals und die Sache mit den Zeitungsseiten können sie auch nicht, was klare Punktabzüge gibt.
Ein anderes, seit Jahrzehnten zuverlässig nutzloses Ding ist die Zaubertafel »Etch A Sketch«. Vordergründig nutzlos, denn der Erfolg der magischen Tafel rührt natürlich nicht daher, dass irgendeine Marketingabteilung wild zur Pädagogik entschlossenen Eltern eingeredet hatte, dass die Dinger die Hand-Auge-Koordination förderten oder ungemein wichtig für die Entwicklung motorischer Fähigkeiten seien. Nix. Toll waren die Tafeln, weil man darauf, ohne Beweise zu hinterlassen, fast alles, was man an Formeln für Mathe- oder Physikarbeiten brauchte, unterbringen konnte. Zum Beispiel. Oder Kommentare über das Leben, idiotische Lehrer und die Streber-Deppen aus der ersten Reihe mit den Sitznachbarn austauschen konnte. An der Erfindung der magischen Tafel war übrigens eine Mehlallergie schuld: André Cassagnes konnte durch diese nicht in der elterlichen Bäckerei arbeiten, weswegen er einen Job beim Pariser Bilderrahmenhersteller Lincrusta annahm. Hier entdeckte der im Januar 2013 im Alter von 86 Jahren Verstorbene, dass eine mit Aluminiumpartikeln bedeckte Folie ganz außerordentlich interessante Eigenschaften aufwies – die L’ècran magique war erfunden und wurde 1959 auf der Nürnberger Spielwarenmesse vorgestellt.
Wie Cassagnes kommen auch heute noch Erfinder nach Nürnberg, um ihre Entwicklungen vorzustellen, von denen sie hoffen, dass sie den Kinderzeitgeist treffen. Der ist immerhin in vielen Sparten global:
Während in Deutschland weltweit am meisten Brettspiele verkauft werden, sollen sie in Indien nicht besonders beliebt sein, erzählt ein indischer Manager. Das liege auch am Preis. In vielen Familien gebe es zwar die Klassiker wie Monopoly und Ludo, aber ansonsten seien kreative und konstruktive Beschäftigungen gefragt. Davon abgesehen, unterscheide sich das Spielzeug, das indische Kinder sich sehnlich wünschen, nicht von dem, was ihre Altersgenossen in anderen Ländern gerade bevorzugen: »Besonders beliebt sind Figuren aus gerade aktuellen Animationsfilmen, die Meerjungfrau Arielle war genauso ein Hit wie die Tiere aus ›Ice Age‹.« Auf der Messe hofft seine Firma, Interessenten für ein Wickelspiel zu gewinnen. Twistoys funktioniert wie Luftballonsverknoten, nur ohne Luftballons. Ein weißer weicher Schlauch wird so lange verdreht und abgebunden, bis eine Figur entstanden ist, zum Beispiel eine Giraffe mit kleinen Hörnchen, eine Schildkröte, ein Dackel. Das fertige Werk kann anschließend angemalt oder mit Augen, Mündern, selbstgemachten Haaren dekoriert werden. »Je weniger ein Spielzeug kann, desto mehr wird ein Kind damit anfangen können«, laute das Credo der Twistoys-Macher – die allerdings wenig mit dem Bild von Erfindern zu tun haben, die ihre Ersparnisse zusammenkratzen, um sich einen kleinen Messestand leisten zu können. Das Spielzeug ist nämlich eine Art Abfallprodukt des Unternehmens Sunlord Apparels Mfg. Co. Ltd. aus New Dehli, das seit 1979 Damenoberbekleidung und Heimtextilien herstellt.
Am Rande der großen, rosabunten Puppen- und Teddys-Halle versucht das kleine britische Unternehmen Arklu, Kunden zu finden, die Lottie vertreiben möchten. Lottie sieht aus, wie ein neunjähriges Mädchen eben aussieht. An ihrer Entwicklung waren zwei Fachleute beteiligt, der Mediziner Prof. David McCarthy sowie Dr. Margaret Ashwell, eine Biochemikerin, die an der Entwicklung mehrerer Ernährungsprogramme arbeitet und beim britischen Ernährungsministerium beschäftigt war. Lottie ist ein Mädchen in Barbiegröße, dem alle entscheidenden Attribute der Glamour-Doll fehlen, wie Lucie Follett, Chefin der Firma, erklärt. »Wir wollten kleinen Mädchen ab drei Jahren eine realistische Alternative bieten, nämlich eine Spielgefährtin, die das tut, was Kinder in dem Alter eben tun – im Garten spielen, zum Ballett gehen, reiten oder einen Herbstspaziergang machen. Und eben nicht bloß shoppen oder nur konsumieren.« Und, ganz wichtig: »Lottie ist keine dauergrinsende Puppe, ihr Gesichtsausdruck ist freundlich, aber mit ihr sollen alle Emotionen nachgespielt werden können, die Kinder eben haben.«
In Großbritannien wurde das kleine Mittelklasse-Puppenmädchen im vorigen Jahr mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Die Parlamentsabgeordnete Jo Swinson, eine der Initiatorinnen der Campaign für Body Confidence, die sich für die Vermittlung eines realistischen weiblichen Körperbildes in Medien und Werbung einsetzt, unterstützt das Projekt Lottie. Bei der Puppe wurde schließlich Wert auf realistische Maße gelegt, nachdem eine Umfrage unter Müttern kleiner Mädchen ergeben hatte, dass bereits ganz junge Kinder sich »zu fett« finden oder bestimmte Kleidungsstücke nicht anziehen wollen, weil sie darin »dick aussehen«, wie Follett erklärt. »Eine Vierjährige sagte beispielsweise, ihre Beine und ihr Bauch seien zu rund.« Lotties Oberschenkel sind realistisch geformt, »sie hat keine Kurven, sondern sieht eben aus wie ein Kind«. Die Kleider, die in den ersten sechs Themenpackungen enthalten sind, sind nicht sexy und nicht ausschließlich rosa. Und zweckmäßig: Beim Herbstset steht beispielsweise auf der Packung, die Puppe möge es, mit ihrem kleinen Hund bei Matschwetter spazieren zu gehen, »dreckig zu werden, durch Blätter zu trampeln, Hütten zu bauen«.