Ein Spaziergang durch Guben 14 Jahre danach

Nach der verlorenen Zeit

Die Prozessbeobachtungsgruppe Guben begleitete von 1999 bis 2002 das Gerichtsverfahren wegen des rassistischen Angriffs, der in der Politik und den Medien als »Hetzjagd von Guben« bekannt wurde. Zwei damalige Mitarbeiter des Projekts haben die Kleinstadt an der Neiße besucht. Ein Spaziergang durch Guben.

Wir fahren auf der Cottbuser Straße nach Guben hinein. Bereits an der ersten Ampel stehen wir mitten in Erinnerungen: links die Aral-Tankstelle, ein Stück weiter ein Flachbau, der »Dance Club«, vorne rechts die Hugo-Jentsch-Straße. Einmal abbiegen, da liegt schon Obersprucke.
Es sind Orte des Geschehens jener Nacht zum 13. Februar vor 14 Jahren. Hier trafen sich die Täter, hier brachten sie sich in Stimmung, hier jagten sie Farid Guendoul, Khaled B. und Issaka K. durch die Straßen. Hier starb der 28jährige Guendoul.
Für uns sind diese Orte Geschichte. Sie sind gebunden an die Gerichtsaussagen über die Abfolge der Ereignisse, an die Berichte der Opfer über ihr Erleben, an die Versuche, sich vorzustellen, was in dieser Nacht genau geschah. Dabei gibt es viele Bilder, die irreal wirken. Etwa wie die beiden Glatzköpfe Steffen H. und Ronny P. in ihren grünen Bomberjacken erst den Film »Romper Stomper« anschauen und dann in der Diskothek »Dance Club« die Auseinandersetzung mit Vietnamesen suchen. Wie P. den Kürzeren zieht und sich das Gerücht verbreitet, er sei mit einer Machete aufgeschlitzt worden, wie sich der Mob zusammenrottet und auf der Suche nach Ausländern herumfährt. Wie sie schließlich aus ihren Autos springen und losstürmen, als sie die drei Männer aus Algerien und Sierra Leone erblicken.
Dann gibt es das reale Bild des blutverschmierten Treppenhauses in der Hugo-Jentsch-Straße 14. Das alles ist hier passiert. Die Ampel schaltet jetzt auf grün.

Wir sind heute nach Guben gefahren, um uns ein Bild zu machen. Wir haben uns 1999 und in den folgenden Jahren eingemischt. Wir haben die Opfer und die Angehörigen des Toten begleitet, das Gerichtsverfahren verfolgt und ein Buch über den Fall herausgegeben. (»Nur ein Toter mehr. Alltäglicher Rassismus in Deutschland und die Hetzjagd von Guben«. Herausgegeben von der Prozessbeobachtungsgruppe Guben, Unrast-Verlag, 2001, Anm. d. Red.) Jetzt sind wir wieder am Ort des Geschehens, um zu sehen, was geblieben und was neu entstanden ist.
Auf der Fahrt haben wir uns über das öffentliche Bild der Stadt unterhalten. Im Laufe der Jahre ist so etwas wie die typische Guben-Reportage mit ihren eigenen Topoi entstanden. Eine kurze Darstellung der Tat gehört selbstverständlich dazu, die Biographie des Toten nicht. Auch wir kennen sie nicht im Detail. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf Guben, auf die Zeichen des Verfalls der Stadt und deren Umbau, auf die lokale Politik und die immer »schweigende Mehrheit«.
Es geht nicht nur um die hiesige rechtsextreme Szene mit ihrem »Chef« Alexander Bode, einem der Haupttäter von 1999. Die Reportagen handeln von Plattenbauten und Industriebrachen, Abwanderung und Arbeitslosigkeit, vom – inzwischen vorläufig des Dienstes entbundenen – Bürgermeister und seiner Frage, was die Asylbewerber nachts auf der Straße zu suchen hätten, von Wagenburgmentalität und Leuten auf der Straße, die einen stumpfen Rassismus präsentieren. Das kann man alles in Guben finden – sehr leicht. Auch die Erwartungen über die ostdeutsche Provinz lassen sich hier schnell bestätigen und einfache Erklärungen für die Existenz von Neonazis finden. Wir wollen wissen, ob diese Bilder heute noch zutreffen. Oder hat sich vielleicht etwas verändert? Wir machen uns auf die Suche.
Einer der ersten Menschen, denen wir in Guben-Obersprucke auf der Straße begegnen, ist ein Fahrradfahrer. Das Rad ist klapprig, der Mann hat lange Haare und trägt einen Mittelscheitel. Auf dem Rücken seines Kapuzenpullovers steht »Hooligan«. Er heißt Markus Noack und ist einer von zwei NPD-Abgeordneten im Kreistag Spree-Neiße. Manchmal trägt er dort mit mäßigem Einsatz Anfragen vor, die von der Kommunalpolitischen Vereinigung der NPD unter den Mandatsträgern der Partei herumgereicht werden. Er ist aber auch einer, der immer mit Fahne oder Transparent dabei ist, wenn der NPD-Kreisverband Lausitz seine Demonstrationen und Kundgebungen abhält. Noack war zehn Jahre alt, als Farid Guendoul starb. Jetzt fährt er weiter. Guben macht es einem nicht leicht, ohne Klischees auszukommen.
Wir stehen in Obersprucke vor dem Hochhaus. Es heißt das Hochhaus, weil es das einzige ist. Gebaut wurde es Anfang der sechziger Jahre, als die realsozialistische Stadt einen industriellen Boom erlebte und neue Wohnkomplexe entstanden. Heute steht das Gebäude leer, ist abgesperrt und dem Verfall überlassen. Seinen letzten Zweck erfüllt es als Träger der Telekommunikationsantennen auf dem Dach. Ansonsten ist das privatisierte Haus ein Mahnmal des Niedergangs und zugleich ein Symbol für Gubener Ambivalenz, denn es steht im Zentrum eines Stadtteils, der in den vergangenen Jahren fast flächendeckend saniert und umgebaut wurde.
Doch deshalb stehen wir nicht hier. Das Haus war in der Nacht zum 13. Februar 1999 auch der Ausgangspunkt der Gubener Hetzjagd. Ronny P. wohnte hier. Ein Teil der späteren Täter sammelte sich bei ihm. Am Hochhaus trafen auch Polizisten auf den aufgehetzten Mob – und taten nichts, um die Jugendlichen zu stoppen. Für wen spielen diese Details der Tatnacht heute noch eine Rolle?

Das einzige Zeichen, welches an Farid Guendoul und dessen Tod erinnert, ist ein Gedenkstein. Er ist in eine Wiese an der Hugo-Jentsch-Straße eingelassen, ein paar Meter vom Tatort entfernt. Der Wohnblock, in dem der junge Algerier starb, wurde im Zuge des Stadtumbaus allerdings abgerissen. So liegt der Stein heute abseits und niemand muss sich durch seine Existenz diskreditiert fühlen. Angesichts der Mischung aus Gewöhnung und Vergessen findet er kaum mehr Beachtung. Lediglich am Jahrestag trifft sich hier eine Handvoll Gubener und legt Blumen nieder.
In diesem Wohngebiet haben die Neonazis nur wenige Spuren hinterlassen. Ein offensichtlich einige Jahre altes Graffito für Rudolf Heß ist übertüncht worden. Daneben sieht man ein paar verwitterte Aufkleber. Neuer zu sein scheinen kleine Edding-Kritzeleien auf Hauswänden gegen das Verbot der »Widerstandsbewegung in Südbrandenburg«. Gubener sind präsent in der rechtsextremen Szene der Region. Die Markierungen im öffentlichen Raum spiegeln das nicht wider, dieser ist auch nicht mehr umkämpft – Anti-Nazi-Parolen finden wir nicht.
Am Wilhelm-Pieck-Monument – dem Denkmal für den KPD- und SED-Politiker, der von 1949 bis 1960 Präsident der DDR war und in Guben geboren wurde – zeigt ein Foto auf einer Tafel Demonstranten, die sich hier 1989 versammelten. Der Platz war gefüllt mit Menschen. Jetzt herrscht hier Leere zwischen sanierten Wohnblocks. Im vergangenen Sommer hat die NPD am Monument eine Kundgebung abgehalten. Etwa 20 in Reihe aufgestellte und Fahnen schwenkende Leute. Protest dagegen? Fehlanzeige. Publikum? Gibt es auch nicht.

Die »schweigende Mehrheit« verrät nicht, ob sie dafür oder dagegen ist. Was die Einzelnen denken, bleibt im Privaten. Wir vermuten, dass dort eine rhetorische Frage sehr häufig gestellt wird: was einen das alles anginge. Manche der wenigen Menschen, denen wir auf unserem Weg durch die Stadt begegnen, sind freundlich, andere wirken zurückgezogen und verschlossen. Wir versuchen, ihr Alter zu schätzen. Es gelingt uns kaum. Sie scheinen aus der Zeit herausgefallen zu sein. Wir spazieren durch eine Stadt, in der Resignation und Warten Alltag geworden sind.
Wir unterhalten uns mit Samy, der noch zur Schule geht und erzählt, er wolle aus Guben wegziehen, sobald er sie abgeschlossen hat. Samy ist unangepasst, er ist einer der wenigen Jugendlichen, die sich hier als links verstehen. Er spricht von seiner Wahrnehmung der Stadt, von den Neonazis und von den Schwierigkeiten, gegen sie aktiv zu werden. Auf die Frage, was er vom Tod Farid Guendouls wisse, sagt er: »Sehr wenig.« In der Schule sei das kein Thema gewesen, in seiner Familie habe man aber darüber gesprochen.
Samy wird in ein paar Monaten gehen, wir fahren jetzt. Es bleiben wieder Bilder. Der Asylbewerber war im Leben nicht Teil dieser Stadt, sein Tod ist es auch nicht. Sichtbare Spuren hat die Tat kaum hinterlassen. Meinungen gibt es wohl, aber ein Wissen darum, was am 13. Februar 1999 in Guben geschah, fehlt ebenso wie eine politische Diskussion in der Stadt. Letzteres umfasst allerdings weitaus mehr. Es ist die Teilnahmslosigkeit, die einem in Guben auffällt. Die Oberfläche der Stadt hat sich verändert. Millionen Euro sind in den Stadtumbau geflossen. Das politische Leben scheint davon unberührt. Von einer aktiven Debatte darüber, wie die Gubener leben wollen, ist nichts zu bemerken. Alles geht seinen Gang. Die Neonazis sind nachgewachsen. Nur die Konflikte um sie sind weniger geworden, weil ihnen die unmittelbaren Gegner abhanden gekommen sind.