Tödliche Lyrik

Der Literaturwissenschaftler Martin Baxmeyer entzaubert in seiner Studie über anarchistische Lyrik im Spanischen Bürgerkrieg den Anarchismus.

Mal ist die spanische Nation die Mutter, »keusch, treu und bescheiden«, mal ist sie »unsere süße Mutter Spanien«, die vor allem »großzügig« ist. Verfasst haben diese Verse keine glühenden Nationalisten, sondern Anarchisten. Geschrieben wurden sie zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, also zwischen 1936 und 1939, als anarchistische Milizen auf Seiten der Republik gegen die nationalistischen Truppen kämpften. Und solche Gedichte gab es viele.
In einer materialreichen Studie widmet sich der Romanist Martin Baxmeyer der literarischen, insbesondere lyrischen Produktion der Anarchistinnen und Anarchisten während des Bürgerkriegs. Er entdeckt dabei »literarischen Nationalismus« und stellt die Frage: Wie konnte es kommen, dass »die literarische Selbstdarstellung einer Bewegung, zu deren Charakteristika jahrzehntelang ein unversöhnlicher Antinationalismus gehört hatte«, sich derart wandelte? Die Metapher »Mutter Spanien« ist schließlich keineswegs die einzige nationalistische Sprachfigur, die in der Lyrik der Libertären auftaucht.
Die These des Buches, dass es in der literarischen Produktion der Anarchisten zu einer gewaltigen nationalistischen Wendung kam, mag vielleicht zunächst wenig spektakulär sein. Die dreißiger Jahre liegen weit zurück, und der Anarchismus ist wesentlich älter. Außerdem: Wen interessieren schon solche Gedichte? Hält man sich jedoch die historische Situation vor Augen, um die es in der Studie geht, wird die Brisanz von Baxmeyers Studie deutlich.
Der Spanische Bürgerkrieg ist eines der geschichtspolitisch wirkungsmächtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Im Juli 1936 putschten einige rechte Generäle, darunter Francisco Franco, gegen die linke Regierung der Republik. Die Republik organisierte die militärische Gegenwehr, wurde aber von Großbritannien und Frankreich im Stich gelassen. Unterdessen kämpften italienische und bis zu 15 000 deutsche Soldaten auf Seiten der Faschisten. In einigen Regionen, vor allem in Katalonien, wurde dem Aufstand der Generäle mit einer sozialen Revolution begegnet. Dies geschah vor dem Hintergrund einer europaweit einzigartig starken anarchistischen Bewegung. Die anarchistische Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) war damals mit etwa zwei Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Welt.
Dass neben Mexiko nur die Sowjetunion die Republik unterstützte, hatte weitreichende Folgen. Denn Stalin passte die soziale Revolution ganz und gar nicht, er setzte auf den militärischen Sieg und ließ alles aus dem Weg räumen, was dem Sieg angeblich im Wege stand. Der stalinistische Geheimdienst ermordete systematisch Trotzkisten, und im Mai 1937, mitten im Krieg gegen Franco, schossen in Barcelona Kommunisten und Anarchisten aufeinander.
Der Spanische Bürgerkrieg war mehr als ein militärisches Ereignis. Damals wurden auch entscheidende ideologische Kämpfe ausgefochten. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschien er bereits vielen Zeitgenossen als eine Schlacht, die über die Ausbreitung oder die Eindämmung des Faschismus in Europa entscheiden würde. Nicht zufällig fanden sich linke Intellektuelle aus aller Welt wie etwa George Orwell, die ungarischen Fotografinnen Gerda Taro und Kati Horna und der französische Surrealist Benjamin Péret auf den Schlachtfeldern Spaniens ein. In den spanischen Schützengräben standen nicht nur Spanierinnen und Spanier einander gegenüber, sondern auch die Linke der Rechten, die Arbeiterbewegung der Reaktion, der Internationalismus dem Nationalismus und nicht zuletzt der libertäre Kommunismus seinem autoritären Pendant. Die kulturelle Dimension des Bürgerkriegs ist nicht zu unterschätzen.
Und sie war auch schon damals offensichtlich. Kultur im engeren Sinne – Theater und Plakatkunst, Zeichnungen, Gemälde und eben fiktionale Literatur – wurde von der gesamten Linken als probates Mittel im Kampf um die interlektuelle Vorherrschaft wahrgenommen und eingesetzt. Für die Anarchisten war die kulturelle Produktion, wie Baxmeyer betont, »sogar zentraler Bestandteil ihrer revolutionären Utopie«.
Rund 20 000 Gedichte sind während des Bürgerkriegs veröffentlicht worden. Selbst die Anthologie »Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts« im Reclam-Verlag (2003), sonst eher nicht das Format für Begeisterungsstürme, nennt das »ein Phänomen ohne seinesgleichen in der modernen europäischen Kultur«. Rund 500 dieser Gedichte, ausschließlich von Anarchistinnen und Anarchisten verfasst, hat Baxmeyer analysiert, dazu noch 125 Prosaarbeiten. Diese zumeist von literarischen Laien verfasste Literatur findet sich in kaum einer Gedichtsammlung. Zum größten Teil hat Baxmeyer die Gedichte in Archiven entdeckt.
Bisher hat sich die Forschung nicht mit ihnen beschäftigt. Während die soziale Revolution selbst in Spanien fast völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist, loben Anarchismusforschung und anarchistischer Aktivismus nach wie vor die tatsächlich nicht geringen Erfolge libertärer Kulturpolitik in den dreißiger Jahren: Vor allem die Alphabetisierungskampagnen, aber auch freie Bibliotheken und alternative Schulmodelle erfreuten sich großer Beliebtheit. Dass diese Errungenschaften aber auch mit so gar nicht emanzipatorischen Begleiterscheinungen wie dem Nationalismus einhergingen, wurde bislang nicht wahrgenommen. Allein deshalb schon könnte die Studie zu einer Revision allzu heroischer Selbstbilder führen, wie dies bereits durch das Buch des Historikers Michael Seidman, »Gegen die Arbeit«, angeregt wurde. Er hat gezeigt, dass die anarchistische Gewerkschaft CNT die Arbeiter und Arbeiterinnen während des Bürgerkriegs durchaus zu Arbeit und Produktivitätssteigerung angehalten hatte. Anarchismus und Arbeitsregime, das schien sich bis dahin auszuschließen. Wie Seidman nimmt auch Baxmeyer anarchistische Inhalte und Ziele sehr ernst – und rekonstruiert sogar eine »anarchistische Literaturtheorie«. Und wie in Seidmans Studie ist die Analyse besonders stark, wenn sie politisch betrachtet am frustrierendsten ist.
Bei unreflektierten Rückgriffen auf nationale Symbolik blieb es nämlich nicht. Dass auf Seiten Francos auch marokkanische Truppen eingesetzt wurden, veranlasste die anarchistischen Dichter, und, wie Baxmeyer nachweist, auch renommierte anarchistische Politikerinnen wie Federica Montseny, zu regelrechter rassistischer Hetze. In den verbalen Attacken gegen die »Mauren« sieht Baxmeyer daher auch den »wohl radikalsten Bruch« mit den egalitären und transnationalistischen Ideen des Anarchismus. Statt ihren eigenen Idealen treu zu bleiben, propagierte die Bewegung also eine nationale Identität. Denn das tut Literatur: Sie kann bestehende Identitätsentwürfe »spiegeln, gestalten und verbreiten«, so Baxmeyer.
Zum einen, schreibt er, ging es um die »Delegitimierung des Kriegsgegners«, also auch darum, wer mit Fug und Recht beanspruchen konnte, für Spanien zu kämpfen. Damit einher ging ein »Konformitätsdruck« in der republikanischen Zone. Auch die anderen Linken argumentierten so. Und schließlich waren auch die Schulbücher schuld, ein gründlich ansozialisiertes, positives Spanienbild zeitigte seine Effekte. Aber nicht alle Gründe lagen außerhalb des Anarchismus selbst. Zum anderen nämlich legt die soziologisch wie politisch bestens informierte Literaturanalyse eine »philonationalistische Tradition« innerhalb der anarchistischen Bewegung offen. Gemäß dieser war das spanische Volk immer schon mit einer »welthistorischen Aufgabe« betraut. War es einmal die koloniale Eroberung der Welt, sollte es nun die Revolution sein. Schließlich führt Baxmeyer noch eine kunsttheoretische Begründung an: Für die nationalistische Wende war nicht zuletzt auch das funktionalistische Verständnis von Kunst und Literatur verantwortlich, das die Anarchisten vertraten und in der das Schreiben ganz der politischen Wirksamkeit untergeordnet war. Das Gedicht war eine Waffe, die »Mutter Spanien« die erstbeste Munition.

Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936–1939) und ihr Spanienbild. Edition Tranvia/Verlag Walter Frey, Berlin 2012, 599 Seiten, 36 Euro