Tuvia Tenenbom im Gespräch über die Deutschen

»Die Deutschen sind so neurotisch wie ich«

Im Dezember erschien das Buch »Allein unter Deutschen« von Tuvia Tenenbom, in dem der Autor seine Erfahrungen während eines sechsmonatigen Aufenthalts im Jahr 2010 in Deutschland beschreibt. Seit zwei Monaten befindet sich das Buch auf der Bestsellerliste des Spiegel. Tenenbom ist Leiter und Gründer des Jewish Theater of New York und Journalist. Er kommt aus einer jüdischen deutsch-polnischen Familie, der Großteil der Familie wurde von den Nazis ermordet. Derzeit ist er auf Lesereise in Deutschland.

Sie schreiben am Ende Ihres Buches, Sie seien ziemlich erleichtert gewesen, Deutschland wieder den Rücken zu kehren. Wie schwer fiel es Ihnen, nach Deutschland zu reisen?
Ich schrieb damals schon für die Zeit und kannte Deutschland auch von Theateraufführungen ein wenig. Die Menschen, die ich hier vor 2010 kennengelernt habe, waren nett und gebildet, sie luden uns zu gutem Essen ein und alles war gut. Wenn jemand in New York sagte, die Deutschen seien Antisemiten, erwiderte ich: Was zum Teufel redest du da? Die Deutschen sind wirklich hübsch und nett.
Dann machte man mir das Angebot, ein paar Monate nach Deutschland zu kommen und ein Buch zu schreiben. Ich sagte: Klar, warum nicht? Aber das, was ich hier herausfand, war vollkommen anders als das, was ich erwartet hatte. Ich dachte, dass ich nicht mehr als drei Seiten über Juden schreiben würde. Als ich die ersten Male antisemitisches Zeug hörte, habe ich es nicht einmal aufgeschrieben. Erst als es sich ständig wiederholte, wurde mir klar: Das ist ein großes Problem in diesem Land. Was mir die Leute erzählten, war erschreckend.
Gleichzeitig gibt es hier gute Leute. Bevor Hitler an die Macht kam, hatten Juden und Deutsche ja auch eine sehr gute Beziehung. Die Zusammenarbeit der beiden Kulturen war sehr produktiv und fruchtbar gewesen. Und ich hoffe, dass der Tag kommen wird, an dem sich diese Art der Zusammenarbeit erneuern wird.
Das heutige jüdische Leben in Deutschland kommt in Ihrem Buch nicht besonders gut weg.
Jüdisches Leben in Deutschland heute ist ein trauriger Witz. Vor dem Krieg waren die deutschen Juden die Krone des Judentums. Die jüdische Reformbewegung begann hier. Heute ist das deutsche Judentum ein trauriges Abbild seiner selbst. Es existiert eigentlich gar nicht wirklich, weil die meisten der hier lebenden Juden aus Russland kommen. Es ist eine Maskerade. Die Synagoge in Köln hat mehrere Millionen Euro gekostet. Ich habe dort einen einzigen Juden aus der dortigen Gemeinde getroffen. Dann gehe ich nach München. 70 Millionen Euro hat die Synagoge dort gekostet, aber fast ohne Juden. Für die Deutschen ist es toll: Wir haben jüdische Zentren, Rabbiner und Judaismus hier! Wir heißen die Juden willkommen, schaut euch die Zentren an, die wunderbaren Synagogen! Aber es ist ein Museum für die Toten, leblos.
Wenn sich ein Jude traut, Jakob Augstein zu kritisieren, oder wenn eine amerikanische Organisation Augstein auf eine Liste setzt, sagen die Führer der hiesigen Juden, es sei nicht weise, Journalisten zu kritisieren. Was auch immer man von Jakob Augstein halten mag – aber was soll nicht weise daran sein, Journalisten zu kritisieren? Und wenn ein nichtjüdischer Deutscher etwas Schlechtes über Israel sagen will oder Argumente braucht, um nicht mehr über den Holocaust reden zu müssen, findet er immer einen Juden, der die dreckige Arbeit für ihn macht.
Aber ist es nicht so, dass immer mehr Juden, zum Beispiel aus Israel, gerne nach Deutschland kommen?
Ich habe nie gesagt, dass die Juden schlauer seien als irgendjemand sonst. Die NPD schreibt das vielleicht, ich habe das nicht gesagt. (lacht)
In Ihrem Buch fragen sie danach, was »typisch deutsch« sei. Mit Verallgemeinerungen haben Sie offenbar keine Probleme.
Das kommt darauf an, wie man die Verallgemeinerung macht. Wenn ich sechs Monate durch Deutschland reise und mir acht von zehn Menschen erzählen, dass die Juden für die Finanzkrise verantwortlich sind und sich alle untereinander kennen, sich unterstützen oder lieben; wenn keiner aufhören kann, an die Palästinenser zu denken – aber nur an die im Gaza-Streifen, nicht an die Palästinenser zum Beispiel in Jordanien, die unter unmenschlichen Bedingungen leben. Dann frage ich mich: Was passiert da?
Und das wiederholt sich ständig. Da bringen die israelischen Gewalttaten einen jungen Studenten in München um den Schlaf, während er die Gewalttaten der Russen gegen die Tschetschenen, die ein kleines bisschen näher geschehen, nicht sieht. Es gibt das riesige Unglück der Kurden und mein Gegenüber weiß nicht einmal, wovon ich rede. Da sehe ich ein Muster. Diese Art der Verallgemeinerung ist richtig. Das Gleiche machen wissenschaftliche Umfragen. Ich glaube an Tatsachen, wir müssen die Fakten ständig überprüfen. Und wenn sich gewisse Dinge ständig wiederholen, können wir etwas verallgemeinern. Ich habe die Nase voll von »intellektuellen« Deutschen, die mir sagen: »Hör’ auf zu verallgemeinern, wie es alle Amerikaner tun« und die Absurdität dieser Aussage nicht einmal begreifen.
Einige Kritiken in deutschen Medien fielen sehr harsch aus. Kam Ihnen das nicht wie eine Bestätigung der Thesen im Buch vor?
Ja, es gab sehr harsche Kritiken. Und bei manchen dachte ich mir: Was zum Teufel erzählen die da? Steht das im Buch? Die Rezension im Deutschlandfunk etwa war ein Beispiel für sehr unprofessionellen Journalismus. Der Journalist zitiert in seinem Beitrag Volkhard Knigge, den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, und lässt ihn erklären, was angeblich im Buch steht. Und anstatt mich nach einer Reaktion zu fragen, befragt er eine weitere Person, die ich im Buch kritisiert habe, nach ihrer Meinung. Als ob er nicht wüsste, was die ihm erzählen würde.
Dann gab es einen Beitrag im WDR, dort wurde ich »peinlich bis dumm« genannt. Man kann das machen, aber dann sollte man wenigstens erwähnen, dass der WDR in meinem Buch angegriffen wird, weil er die antiisraelische Kölner Klagemauer schamlos über Jahre hinweg unterstützt hat. Und die Buchkette Thalia wollte das Buch nicht einmal ausliefern. Ich musste mit ihrer Presseabteilung telefonieren, es gab Medienberichte und jetzt verkaufen sie es doch wieder. Solche Sachen sind doch verrückt. Dabei geht es vielen wohl darum, die Ehre Deutschlands zu verteidigen.
Es wurde Ihnen teilweise Effekthascherei mit dem Vorwurf des Antisemitismus vorgeworfen. Und dass dieser Vorwurf durch inflationären Gebrauch an Gewicht verliere.
Das Gleiche hat natürlich Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung in einem Fernsehbeitrag gesagt. Sie sagte, dass ich die Definition von Antisemitismus ausdehnen würde und so weiter. Wann ist jemand ein Antisemit? Wenn du denkst, dass die Juden von Natur aus anders sind oder 70 Prozent des Geldes in der Welt kontrollieren, bist du ein Antisemit. Du magst es nicht wissen, aber du bist einer. Wenn du denkst, dass die Juden Barack Obama oder den amerikanischen Kongress kontrollieren, bist du ein Antisemit. Wenn die einzige Person, die du in der Welt kritisierst, der israelische Ministerpräsident ist und das einzige Problem für dich der israelisch-palästinensische Konflikt, dann bist du blind, taub, naiv und ein Idiot. Außerdem ein Antisemit.
Es kommt bei Umfragen auch darauf an, wie man die Fragen stellt. Man weiß, zwischen zehn und 20 Prozent der Deutschen sind antisemitisch. Aber wie erfährt man vom latenten Antisemitismus? Wenn du zu den Leuten gehst, sagen sie dir erst wunderschöne Dinge und nach ein paar Bier erzählen sie dir aus heiterem Himmel von den furchtbaren Juden. Das findet man nicht in den Umfragen. Das findest du, wenn du dich zu ihnen an den Tisch setzt.
Sechs Monate Deutschland – würden Sie sich das noch einmal antun?
Ich bin immer noch hier, ich lese und diskutiere. Ich sage nicht: Ihr seid Idioten und ich gebe euch auf. Es ist wichtig, Leuten eine Chance zu geben, und wenn die Leute mit mir reden wollen, mache ich das. Ich kann die Deutschen oft gut leiden. Sie sind so neurotisch wie ich und ich fühle mich sehr wohl hier. Aber gleichzeitig frage ich mich: Wie lange kann man die gleiche Geschichte über die Juden hören, wie lange kann man an so einem Ort leben? Sie sprechen ja über mich. Aber vielleicht wird die Liebe am Ende gewinnen. So war das bei Leuten in Polen, die sehr antisemitisch waren. Danach saßen wir am Tisch und sie sagten: Weißt du, ich habe noch nie einen Juden getroffen, aber ich fange an, sie zu mögen. Wenn wir das schaffen könnten, das wäre gut.