Ceren Türkmen im Gespräch über Mieterproteste in Berlin

»Migranten sind besonders betroffen«

Mit der Kampagne gegen Zwangsräumungen hat die Mieterbewegung in Berlin neuen Schwung bekommen. Von den steigenden Mieten in den innenstädtischen Bezirken sind Migranten und Migrantinnen besonders häufig betroffen, und auch an den Protesten haben sie einen bedeutenden Anteil. Die Jungle World sprach mit der in Berlin lebenden Soziologin Ceren Türkmen über den Zusammenhang von Armut, Gentrifizierung und Migration.

In Berlin haben die Mieterproteste in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Wie lässt sich das erklären?
Wenn wir uns die Zahlen angucken, sehen wir, dass zum Beispiel im Berliner Stadtteil Neukölln die Mieten innerhalb der letzten vier Jahre um 34,5 Prozent gestiegen sind. Die Löhne und die Einkommen in Arbeiterhaushalten oder bei prekär Beschäftigten dagegen sinken. Von diesem Widerspruch sind verschiedene soziale Gruppen betroffen, nicht zuletzt Migrantinnen und Migranten mit geringen Einkommen. Durch den Widerstand gegen Zwangsräumungen wird der daraus resultierende Verdrängungsprozess jetzt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Unbekannt dagegen bleiben die vielen Räumungen, die freiwillig verlaufen. Manche Menschen ziehen einfach aus, andere versuchen sich zu arrangieren, indem sie versuchen, mit dem Geld, das nach Abzug der Miete übrig bleibt, irgendwie klarzukommen oder noch mehr zu lohnarbeiten.
Unter den Mieteraktivisten finden sich auffallend viele Menschen, die vor Jahrzehnten als Arbeitsmigranten nach Berlin gekommen sind. Ist diese Gruppe von den Mieterhöhungen besonders betroffen?
In Kreuzberg und Neukölln sind migrantische Menschen in einer besonderen Form von Gentrifizierung und Neuordnungen im Kiez betroffen, weil der Stadterneuerungsprozess nicht nur ein ökonomischer Vorgang ist. Häuser werden nicht nur verkauft, saniert und teurer vermietet, um mit Hilfe neuer Gesetze vermögenden Menschen zu mehr Rendite zu verhelfen. Es kommen bei diesem Prozess der Gentrifizierung auch soziale, kulturelle und ideologische Verhältnisse zur Geltung. Migrantische Familien, die sich dagegen wehren, in die Randbezirke verdrängt zu werden, wissen aus langer Erfahrung, dass sich ihre Situation in Deutschland auch in der Schule, der Stadt und am Arbeitsplatz verschlechtert. Die liberale Illusion der Chancengleichheit und Gerechtigkeit wirkt bei ihnen schon lange nicht mehr. Zudem verfestigt sich in Zeiten von Niedriglohn- und Leiharbeit eine ethnisierte Arbeitsteilung. Hier fallen Klassenunterdrückung und Rassismus zusammen.
Was bedeutet das in der Praxis – mal abgesehen von Mieterhöhungen?
Ich persönlich kenne viele Rentner, die freiwillig in die Türkei zurückkehren, weil sie sich das ­Leben in Deutschland nicht mehr leisten können, obwohl sie lange in den Fabriken geschuftet haben. Das ist eine Art spurenlose Rückkehrpolitik.
Es ist auffällig, dass der Mieterwiderstand vor allem im Stadtteil Kreuzberg gewachsen ist. Ist das rebellische Kreuzberg vielleicht doch kein Mythos?
Das rebellische Kreuzberg als Mythos ist eine Erfindung der Angst und der Begierde des Bürgertums. Heute hat die linke Subkultur diesen Mythos wahrscheinlich selbst verinnerlicht. Pier Paolo Pasolini sagte einmal, die Bourgeoisie liebe es, sich mit ihren eigenen Händen zu strafen.
Die autonome Geschichte des Stadtteils spielt bei dem derzeitigen Widerstand doch aber ­sicher auch eine Rolle, oder?
Ich denke, die autonome Geschichte des Stadtteils muss neu geschrieben werden. Die Mieter­bewegung, die Mietstreiks und der Aufbau der Kieze wären ohne die Bewegung, das Wissen, die Kampfbereitschaft, die Selbstorganisation und die Kämpfe der Migrantinnen und Migranten nicht möglich gewesen. An diese heterogene Geschichte knüpfen die derzeitigen Kämpfe doch an, indem sie auf die positiven Erfahrungen und Gefühle sowie auf das produzierte Wissen zurückgreifen. Es ist allerdings wichtig, nicht nur an die kleinen Erfolge anzuknüpfen, auch die Niederlagen müssen kollektiv verarbeitet werden. Dazu gehört für mich auch die kommunitaristische Identitätspolitik im Kiez – auf allen Seiten.
Sie haben in einem ihrer Texte Kritik an einer Linken geübt, die sich von Klassenverhältnissen und der Welt der Arbeit zugunsten einer Politik der Lebensstile verabschiedet habe. Ist die aktuelle Mieterbewegung nicht ein Indiz dafür, dass das Soziale wieder eine stärkere Rolle in der Linken spielt?
Bei dem Text handelte es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Identitätspolitik von autonomen und postautonomen Gruppen. Es ging um die Frage, was linke außerparlamen­tarische Gesellschaftspolitik heute eigentlich noch bedeutet.
Zur Organisierung von Mieterprotesten bedarf es notwendigerweise eines Kontaktes zur Nachbarschaft. Neue mythische Subjekte der Revolution lassen sich dort nicht finden, dafür aber die Akteure der aktuellen Mieterbewegung. Ich sehe genau hier Chancen und Möglichkeiten, die soziale Frage neu zu formulieren und für migrantische Menschen, Frauen, Queers und Lohnabhänge wieder zum Thema zu machen.
Die Krise der Klassenanalyse ist nicht überwunden, wir verdrängen sie nur kollektiv, weil sie zu schwierig ist. Wir wissen nicht so recht, wie wir über Klassen nachdenken sollen, ohne in die Haupt- und Nebenwiderspruchsthematik zu verfallen. Doch ohne Klassenanalyse verstehen wir Rassismus oder Gentrifizierung nur partiell, und umgekehrt ist es genauso.
Die hohen Mieten sind ja nur ein Thema, und sie sind auch wegen des boomenden Niedriglohnsektors zu einem Problem geworden. Sehen Sie Ansätze, den Widerstand gegen hohe Mieten mit Kämpfen am Arbeitsplatz oder im Jobcenter zu verbinden?
Ja,immerhin haben bereits in den siebziger Jahren die Kämpfe von Migranten, kritische Linksgewerkschafter und antirassistische Bündnisse zu einer Neuorganisierung der sozialen Bewegungen beigetragen und Themen wie Arbeit und Leben verknüpft. Für eine ähnliche Bewegung heute müssten eine Verbindung von Kämpfen gedacht, neue Konflikte artikuliert und neue Sprachen gefunden werden. In den USA etwa werden Kämpfe gegen Abschiebungen in einen engen Zusammenhang mit Kämpfen für Arbeitsrechte gestellt. So etwas ist ja prinzipiell auch hier denkbar. Der Niedriglohnsektor hierzulande betrifft vor allem Migrantinnen und Migranten, Frauen sowie geringqualifizierte Männer, und steigende Mieten treffen wiederum vor allem arme Menschen. Da erscheint eine Verbindung dieser Themen sehr dringlich. Ali Gülbol hat es selbst nach der Zwangsräumung gesagt: »Der Kampf beginnt erst jetzt.«