Wer ließ den linken tunesischen Politiker Chokri Belaïd ermorden?

Ermittlungen mit Hindernissen

Vier Verdächtige wurden im Zuge der Ermittlungen zur Ermordung des tunesischen linken Politikers Chokri Belaïd verhaftet. Die entscheidende Frage ist, wer die Hintermänner des Anschlags sind.

Wer hat Chokri Belaïd getötet? Das war die einzige Frage, die die lautstarke Demonstration mit etwa 3 000 Beteiligten am Samstag in Tunis stellte. Einige Cybernauten, nach Angaben des Journalisten Seif Soudani ohne Verbindung zu Parteien, hatten die Initiative ergriffen und zu der Demonstration über die sozialen Netzwerke aufgerufen. Hamma Hammami, der prominente Sprecher des linken Front Populaire, zu dessen Führungspersonal auch der am 6. Februar erschossene Chokri Belaïd gehörte, löste eine Debatte im Netz aus, als er einen offiziellen Aufruf des Front zu der Demonstration dementierte und lediglich sagte, seine Organisation »unterstützt die Bewegung«.
Wer hat Chokri Belaïd getötet? Das war auch die Frage, auf die Basma Khalfaoui, die Witwe des Ermordeten, am Montagabend bei einer Sendung des französischen Fernsehsenders Europe 1 eine Antwort erwartete. Kurz zuvor waren Meldungen aufgetaucht, nach denen es in dem Mordfall erste Festnahmen gegeben habe. Fast mehr noch interessierte Basma Khalfaoui aber die Frage nach den Hintermännern. »Alle Tunesier haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren und zu wissen, wer die wahren Auftraggeber dieses sehr gut organisierten Mordes waren. Alles zu wissen, ist mein Recht und das Recht aller«, sagte sie. Als Zeichen des guten Willens der Regierung, so zitierte sie die Webpage Leaders.com, forderte sie »die unmittelbare Auflösung der Ligen zum Schutz der Revolution, die Chokri Belaïd unaufhörlich angeprangert hatte und die bislang vom System geschützt werden«.
Am Dienstag verdichteten sich die Hinweise, dass die Ermittlungen erste Ergebnisse zutage gefördert haben. Auf einer Pressekonferenz sagte der noch amtierende Innenminister Ali Laarayedh nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP: »Der Mörder ist identifiziert und wird gejagt.« Und er fügte hinzu: »Die anderen vier Verdächtigen wurden verhaftet. Sie gehören einer radikalen religiösen Strömung an.« Laarayedh verwies auf »das, was man die salafistische Bewegung nennt«. Der tunesische Radiosender Mosaique FM hatte unter Berufung auf eine hochrangige Quelle aus den Sicherheitskräften berichtet, eine Polizeibrigade aus Gorjani habe einen Verdächtigen verhaftet, der aus Kram stamme, einer armen Banlieue im Norden von Tunis. Das Magazin Jeune Afrique berichtete, eine Quelle aus dem Polizeiapparat habe präzisiert, der mutmaßliche Mörder sei in der Liga zum Schutz der Revolution (LPR) in Kram aktiv gewesen. Seif Soudani schrieb auf der Webpage des Magazins Le Courrier de l’Atlas: »Wir haben Mitglieder der LPR von Kram am Abend (des Montag, Anm. d. Red.) kontaktiert. Sie leugnen die Verhaftung ihres Chefs, Imad Deguij, bestätigen aber die Verhaftung von zwei Jugendlichen aus dem Viertel des 5. Dezember, ohne die genauen Gründe zu kennen. Sie behaupten, dass Deguij unerreichbar sei, weil er sich ›unter den Seinen befindet, weil seine Familie sich durch den Tod seines Onkels am Sonntag in Trauer befindet‹.«
Sollte sich bestätigen, dass Verdächtige im Mordfall Belaïd in der Liga zum Schutz der Revolution in Kram aktiv waren, stellen sich eine Reihe von Fragen. Unangenehm sind sie vor allem für zwei hohe Würdenträger der tunesischen Politik, und zwar für Ali Laarayedh, den noch amtierenden Innenminister, der als neuer Ministerpräsident vorgesehen ist, und für den Übergangspräsidenten Moncef Marzouki.

Marzouki hatte am 12. Januar, zwei Tage vor den Revolutionsfeierlichkeiten, in seinem Präsidentenpalast demonstrativ eine Delegation der LPR empfangen. Ein Bild, das auf der präsidialen Facebook-Seite präsentiert wurde, zeigt unter anderen Imad Deguij alias Recoba von der LPR aus Kram, einer der gewalttätigsten der Ligen, in der Runde mit dem Präsidenten. Marzoukis Partei, der Kongress für die Republik, sperrte sich bislang gegen die Auflösung der Ligen, die von der Opposition als »Milizen al-Nahdas« bezeichnet werden.
Aber auch Ali Laarayedh könnte eine Reihe unangenehmer Fragen zu beantworten haben, die sein Innenministerium betreffen. Eine Recherche der oppositionellen Webpage Nawaat.org hat ergeben, dass ein »mit al-Nahda verknüpfter Parallelapparat« existiert, in den nicht nur Mitglieder von al-Nahda und der Ligen zum Schutz der Revolution, sondern auch das Innenministerium verwickelt ist. In der undurchsichtigen Affäre, in der es um den Ankauf von Waffen geht, tauchte den Recherchen zufolge ein Video auf, in dem ein Mitglied von al-Nahda zu dem seit Ende Dezember inhaftierten Geschäftsmann Fathi Dammak sagt: »Herr Fathi, wählen Sie uns zwei politische Persönlichkeiten aus, den Typen mit dem Schnurrbart, Chokri Belaïd, und einen anderen, wir werden uns darum kümmern.« Vorläufige Schlussfolgerung der Website: »Ohne das Durchsickern der Videos und die Aufdeckung dieser Affäre durch Nawaat wäre Fathi Dammak der ideale Verdächtige bei eventuellen politischen Morden gewesen.«

Ausgerechnet Ali Laarayedh ist der neue designierte Ministerpräsident. Die Ermordung von Chokri Belaïd, der die regierenden Islamisten scharf kritisiert hatte, am 6. Februar hatte eine politische Schockwelle in Tunesien ausgelöst, deren Folgen knapp drei Wochen später noch immer unüberschaubar sind. Der islamistische Ministerpräsident Hamadi Jebali hatte, um das Abgleiten des Landes »ins Chaos« zu vermeiden, wie er später sagte, am Abend des Mordtags die Bildung einer Technokratenregierung angekündigt, ein Vorschlag, der von der eher säkularen Opposition weithin begrüßt wurde. Aber Jebali scheiterte mit deren Bildung, vor allem, weil sich seine eigene Partei dem Vorschlag widersetzte und mit einer Demonstration am Samstag vorvergangener Woche die »Legitimität« der Übergangsregierung unterstreichen wollte. Doch obwohl aus dem ganzen Land Anhänger al-Nahdas nach Tunis gekarrt wurden, waren nach unterschiedlichen Angaben nur zwischen 10 000 bis 16 000 Personen auf der Straße. Das war nicht gerade ein überzeugende Machtdemonstration angesichts der Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden, die tags zuvor bei der Beerdigung Chokri Belaïds die Straßen Tunesiens überschwemmt hatten. Mitte voriger Woche, nachdem die Idee einer Technokratenregierung gescheitert, trat Jebali zurück. Der Rat der Choura seiner Partei, der von den Anhängern von Rachid Ghannouchi beherrscht wird, präsentierte dem Übergangspräsidenten Moncef Marzouki einen neuen Ministerpräsidenten in spe, der 14 Tage Zeit hat, um eine neue Regierung zusammenzustellen – Ali Laarayedh.
Dieser, der unter Ben Ali im Jahr 1987 verhaftet, zum Tode verurteilt, dann begnadigt, später erneut verhaftet und gefoltert wurde und schließlich 14 Jahre im Gefängnis saß, ist nicht gerade ein Kompromisskandidat. Die Opposition kritisiert ihn für das harte Vorgehen der Pollizei gegen die große säkulare Demonstration am 9. April vergangenen Jahres, dem »schwarzen Tag für die Demonstrationsfreiheit« in Tunesien; eine Kommission, die eingerichtet wurde, um die Vorfälle zu untersuchen, hat bis heute nichts zustande gebracht. Insbesondere kritisiert die Opposition auch Laarayedhs »lasche Haltung« gegenüber den Salafisten, denen er bis zur Attacke auf die amerikanische Botschaft im September vergangenen Jahres bei ihren Angriffen auf Künstler, Journalisten, Frauen und Oppositionelle weitgehend freie Hand gelassen habe. Im Oktober ließ er anlässlich eines Generalstreiks in Siliana die Polizei mit Schrot auf Demonstranten schießen, insgesamt wurden bei den Auseinandersetzungen mehr als 250 Menschen verletzt.
Wie Laarayedh unter diesen Bedingungen eine »Regierung für alle Tunesier« zustande bringen will, wie er sie vorige Woche versprach, steht in den Sternen. Seit acht Monaten ist eine Regierungsumbildung angekündigt, die bereits unter Jebali nicht erfolgte, vor allem, weil sich al-Nahda weigerte, die von ihr gehaltenen Schlüsselministerien preiszugeben.
Wer hat Chokri Belaïd getötet? Vielleicht kann Laarayedh sich auf die Fahnen schreiben, dass die Ermittlungen zu einem ersten Ergebnis kamen. Die zweite Frage aber, die die Witwe des Ermordeten aufwirft, ist mindestens ebenso wichtig: Wer waren die Auftraggeber des Anschlags? Wenig deutet derzeit darauf hin, dass diese Frage von den tunesischen Behörden klar beantwortet werden wird.