Gefangen im Boulevard

»Beleidigung als Plastikprinzessin« titelte die britische Boulevardzeitung The Sun empört und sprach von einer »giftigen Attacke« auf die Herzogin von Cambridge und damit auf den Stolz des ganzen Landes. Ein Aufschrei ging durch die britische Presse und das Establishment, als die Kritik der Bestsellerautorin Hilary Mantel an Kate Middletons öffentlicher Darstellung bekannt wurde. Premierminister David Cameron schaltete sich von seiner Indienreise aus ein und nannte Mantels Aussagen »komplett fehlgeleitet« und »falsch«. Ebenso empörte sich der Oppositionsvorsitzende Ed Miliband. Richtig zugehört hatte offenbar keiner von ihnen. Eingeladen vom London Review for Books hatte Mantel eine Rede mit dem Titel »Undressing Anne Boleyn« gehalten – ihr Spezialgebiet als wichtigste zeitgenössische Historienschriftstellerin des Landes. In ihrer Rede sprach sie auch über Middle­tons Funktion als »Schaufensterpuppe ohne eigene Persönlichkeit«, die »komplett über das definiert wird, was sie trägt«. Middletons Leben sei daher bis dato unbedeutend gewesen, nun sei ihr einziger Sinn und Zweck, zu gebären.
Beim Lesen der vollständigen Rede werde klar, dass Mantel über die Repräsentation der Herzogin und ihrer Vorgängerin, Prinzessin Diana, in den Medien spricht und die Eindimensionalität der Darstellung kritisiert, verteidigen sie ihre Unterstützerinnen. Mantels feministische Kritik an der Monarchie wollen fast die gesamte bri­tische Presse und Regierung jedoch als persönliche Attacke gegen Middleton missverstehen – und antworten mit Angriffen auf Mantel, die ihre Kritik am Sexismus nur bestätigen. The Sun schrieb am Tag nach Bekanntwerden der Rede: »Strahlende Kate mit Babybauch lacht den Angriff weg« zu einem Foto, das Middleton beim Besuch eines Suchtzentrums zeigte. Die Boulevardpresse unterstellte Mantel, sie sei nur eifersüchtig auf die schlanke und schwangere Kate, da beides für sie unerreichbar sei. Die 60jährige Autorin, die als erste Frau zweimal den Booker-Preis, den wichtigsten englischen Literaturpreis, erhalten hat, studierte Jura und war als Sozialarbeiterin tätig. Vor vielen Jahren wurde bei ihr die Krankheit Endometriose diagnostiziert: Ihre Gebärmutter wurde entfernt, sie blieb kinderlos. Und sie ist übergewichtig. Dass Schlankheit und Gebären nicht der einzige Lebenssinn einer Frau sein können, verstehen aber anscheinend immer noch nicht alle.