Diedrich Diederichsen im Gespräch über die Zeitschrift Spex, Pop und Kultur in Deutschland

»So obskur, wie es gerade noch ging«

Die Anfang der achtziger Jahre in Köln gegründete Zeitschrift Spex prägte wie kaum ein anderes Medium das Schreiben über Pop und Kultur in Deutschland. Diedrich Diederichsen erzählt von seinen Spex-Jahren.

»Wir selbst sind schließlich auch keine erfahrenen Rockjournalisten, sondern haben alle unsere Probleme mit der Schreiberei, die wir gar nicht vertuschen wollen.« Solche Sätze – wie diesen von Clara Drechsler – konnte man in Deutschland in der 1980 gegründeten Popzeitschrift Spex lesen. Nun hat Max Dax, der von 2007 bis 2010 Chefredakteur des Magazins war, gemeinsam mit der Journalistin Anne Waak einen Sammelband zusammengestellt, der die wichtigsten Texte aus »33 1/3 Jahre Pop« vorstellen soll. Der ursprüngliche Untertitel der Zeitschrift war »Musik zur Zeit«. Widerspricht ein Buch, das die besten Texte versammelt und damit ein historistisches Verständnis von Pop schafft, nicht dem ursprünglichen »Spex-Spirit«?
Musik zur Zeit war immer schon dialektisch gedacht. Auch wenn ich da mutmaßen muss, ich war bei der Gründung nicht dabei. Der Untertitel bedeutet natürlich einen Bruch. Das war punkmäßig gemeint. Ein Bruch mit der dominanten Rock-Kultur der siebziger Jahre, ein Bruch mit Udo Lindenberg und Stadion-Rock – die dominierten, ohne mit der Zeit etwas zu tun zu haben. Man kann sich ja heute gar nicht mehr vorstellen, wie dominant diese Musik in den achtziger Jahren noch war. Wenn man sich heute in der Geschichtsschreibung mit den achtziger Jahren beschäftigt, dann nur mit den Phänomenen, die damals neu waren. Aber diese neuen Phänomene hatten doch nur einen kleinen Anteil am allgemeinen Geräusch. Was insgesamt wahrgenommen wurde, war zum großen Teil das Etablierte. Das Etablierte hatte im Verhältnis zum Neuen einen sehr viel größeren Anteil als heute. Heute ist dagegen ein Etabliertes kaum sichtbar ist und alles geriert sich als neu oder speziell. Diese Gegenwartsbezogenheit war einfach nicht da. Der Untertitel »Musik zur Zeit« ist wohl in dieser Hinsicht zu verstehen.
Aber auch die Spex hat von Anfang an Retro gemacht. Gerald Hündgen und Clara Drechsler haben sich von Beginn an mit Soul-Phänomenen, Mod-Kultur oder Rockabilly beschäftigt. Später in den achtziger Jahren gab es dann ein unglaublich ausgefeiltes Rumgehubere über sechziger Jahre Psychedelic. Das war von Anfang an immer auch wahnsinnig retro. Dass heute Retromania als ein neues Phänomen verkauft wird, ist mir vollkommen unverständlich, wenn ich mir alte Spex-Hefte ansehe.
Im Vorwort des Buches wird die neue Weise, über Pop zu schreiben, stark in den Vordergrund gestellt. Wenn man sich aber in anderen Feldern umschaut, dann sieht man, dass es durchaus vorher schon experimentelle Formen des Schreibens über Film – zum Beispiel in der Filmkritik – gegeben hat. War das neue unkonventionelle Schreiben in den sechziger und siebziger Jahren vielleicht einfach woanders zu finden?
Klar, das war keine Erfindung der Spex. Noch vor Punk waren aber die Bezugspunkte für alle Autoren, die etwa bei Sounds damit angefangen haben, amerikanische, später auch britische Autoren, und weniger frühere deutsche Autoren. Man könnte es natürlich kultursoziologisch plausibel finden, dass jemand, der ein irgendwie nichtakademischer Intellektueller sein wollte, um 1970 mehr mit Film zu tun hatte, um 1990 dagegen mehr mit Popmusik. Das würde ich auch so stehen lassen. Aber die konkreten Autoren, die bei uns so geschrieben haben, waren alle eher von Leuten wie Julie Bur­chill oder Lester Bangs beeinflusst als von Frieda Grafe und Uwe Nettelbeck, auch wenn das vielleicht besser gewesen wäre. Den Einfluss von Lester Bangs kann man sogar schon früher festmachen. Sounds hat Lester Bangs und andere Autoren schon in den mittleren siebziger Jahren übersetzt. Schon das ganze alte Sounds, das in den Sechzigern erschienen ist, hat Texte der US-Counter Culture von Abbie Hoffman oder Frank Kofsky übersetzt.
Als die erste Ausgabe der Spex erschien, hast du noch bei Sounds gearbeitet. Kanntest du die Leute? Wie fandst du damals diese neue Zeitschrift?
Ich kannte die Leute erstmal nicht. Die Spex kam mir zu einem Zeitpunkt in die Hände, als ich gegenüber deutscher Musik immer skeptischer wurde. War man 1979/80 zuerst noch stark euphorisiert von deutscher Musik, so begann das in der Zeit gerade etwas an seine Grenzen zu stoßen. Mein erster Eindruck war, das ist ein Blatt, das sich auf die deutschen Bands konzentriert. Das schien mir die prioritäre Idee dahinter zu sein. Ich verstand das eher als eine Ausdifferenzierung. Einerseits natürlich auch wie eine Feindschaft, Konkurrenz, aber andererseits eben auch als eine Rollenaufteilung: Wir in Hamburg bei der Sounds arbeiten weiterhin über britische und amerikanische Musik und die in Köln übernehmen die deutsche Musik. Diese Entlastung fand ich ganz gut. Natürlich lernte ich die Leute dann auch recht schnell alle kennen.
Wo hast du die Spex-Leute getroffen?
Die Welt war wahnsinnig klein damals. Eine heute irgendwie weltberühmte Band, die auch aus damaliger Perspektive weltberühmt war, spielte doch nur zwei Konzerte in Deutschland. Zu denen gingen dann jeweils 100 Zuschauer. Die Pop Group oder die Slits, die 1980 im Diskurs groß waren, haben zwei Konzerte, eines in Köln und eines in Nürnberg, gespielt. Dort ist man hingefahren, weil es gar keine andere Möglichkeit gab, und da traf man dann eben Clara Drechsler oder wen auch immer. Große Ereignisse, die heute in Berlin fünf- bis 25mal pro Tag stattfinden, die gab es damals vielleicht fünfmal im Jahr. Die fanden mal in Düsseldorf, mal in Hamburg und mal in Berlin statt, und da musste man eben hinfahren und da traf man die anderen. Und Köln gehörte eigentlich nicht zu den Städten, in denen was los war. Das waren Hamburg, Berlin und Düsseldorf – und nicht Köln. Die Kölner kamen eher nach Düsseldorf, weil da was ging. Es gab aber mit der Künstlergruppe Mülheimer Freiheit eine Kraft, die an dem Verhältnis von Pop und Bildender Kunst dran war. Das war wichtig für die Gründung von Spex.
Gab es Autoren und Autorinnen, die dir besonders aufgefallen sind?
Natürlich Clara Drechsler, aber auch Peter Bömmels. Das waren die beiden Personen, die einem als meinungsstark aufgefallen waren. Später erst merkte ich, wie wichtig auch Gerald Hündgen gewesen ist, der eigentlich die Person war, die den Laden zusammengehalten hat. Ich hatte wahrscheinlich zuerst Clara und Peter wahrgenommen, weil die im Gegensatz zum eher vorsichtig schreibenden Gerald lauter waren.
Das Verhältnis zur Bildenden Kunst war für die Spex wichtig. In gewisser Weise ist die Zeitschrift auch ein Art-School-Produkt. Umso erstaunlicher ist, dass kaum Texte zur Bildenden Kunst in diesem Sammelband zu finden sind. Neben einem Interview mit Raymond Pettibon wurde nur noch ein Gespräch mit Beuys abgedruckt.
Das Interview mit Beuys ist natürlich Quatsch, das hätte ich nie reingenommen. Das ist von Gottfried Tollmann von der Fred Banana Combo – das war ein entfernter Rand der Spex-Welt. Es gibt in der Kunstwelt Leute, die der Spex sehr viel näher standen als Beuys. Dieser Text taucht hier wohl eher aus Promi-Gründen auf. Der einzige Beuys-Schüler oder Anhänger, den es im Spex-Umfeld gab, war Walter Dahn. Beuys war zwar nicht nur ein Hippie, man hatte schon einen gewissen Respekt vor ihm, aber trotzdem es gab andere Sachen, die weitaus wichtiger waren. Warhol war viel wichtiger für die Spex. Jutta Koether hat aber ja auch tausend andere Verbindungen in der Spex hergestellt, dazu wurde Spex später auch der Ort, an dem alle möglichen Annäherungen zwischen Kunst und Popmusik stattfanden, die heute normal sind. Auch das Gespräch mit Mike Watt in der Mike-Kelley-Ausstellung hätte viel besser reingepasst.
Im Vorwort behauptet Max Dax, 1989/90 habe sich ein Bruch zwischen einer Gitarrenfraktion und den Anhängern elektronischer Musik aufgetan. Hast du das als damaliger Redakteur auch so wahrgenommen?
Das ist retroaktiv rekonstruiert. Es gab eher einen Bruch zwischen einer Fraktion, die alle möglichen Arten von Underground wollte, darunter gitarrenbasierter Indie-Rock, und eine anderer Fraktion, die Pop und HipHop, wohlgemerkt HipHop und nicht elektronische Musik, wollte. Und das begann schon 1987 und nicht erst 1989/90. Eine »elektronische« Fraktion gab es vor 1993 eigentlich nicht. In den neunziger Jahren gab es ganz andere Konstellationen: Es war eher so, dass es eine elektronische Fraktion gab, die über Clubs und Raves reden wollte, und eine Cultural-Studies-Fraktion, die Rassismus-Diskussionen führen wollte. Natürlich leistet dieses Buch etwas, und ich beneide niemanden um die Aufgabe, diese Vielfalt repräsentieren zu wollen. Aber grundsätzlich finde ich, dass sich die Auswahl der Texte zu stark an bekannten Namen und Themen orientiert. Von mir hätte ich nicht Duran Duran, sondern Prefab Sprout, von Gerald Hündgen nicht Simple Minds, sondern Bobby Womack, von Mark Sikora nicht AC/DC, sondern Death Metal ausgewählt. Heute noch bekannte Namen wie Beastie Boys, Guns’n’Roses, The Fall, Pet Shop Boys durchziehen das ganze Buch.
Vor dem Hintergrund eines erstarkendem Rassismus im wiedervereinigten Deutschland widersprichst du in deinem viel zitierten Text »The Kids Are Not Alright« der These von einer immanent emanzipatorischen Jugendkultur. Dieser und andere Essays markierten eine Phase der Repolitisierung der Spex. Es war dein eigener Wunsch, dass dieser Text nicht in das Buch aufgenommen wird, weil du Platz für andere Texte freihalten wolltest.
Das ist im Vorwort vielleicht missverständlich dargestellt. Der Text ist mehrfach überarbeitet worden, und andere Versionen sind wesentlich besser als die, die damals in der Spex stand. Es gibt insgesamt vier veröffentlichte Versionen und die sind alle allgemein zugänglich. Außerdem war dieser Text auch Bestandteil einer internen Debatte, die es damals in der Spex gegeben hat, und den Kontext dieser Debatte hätte man dann mitdokumentieren müssen. Das ist das eine. Das andere ist, dass dieser andere Text, »Hören, Wiederhören, Zitieren«, der im Vorwort erwähnt wird und im Buch auch abgedruckt ist, ein Text ist, auf den ich ständig angesprochen werde, der aber bis jetzt ausschließlich in einer alten Spex-Ausgabe aus dem Jahr 1997 zu finden war.
Insgesamt fällt auf, dass nur wenige der vielen in den Neunzigern enstandenen explizit politischen Texte ausgewählt wurden.
Das Hauptproblem der politischen Texte in der Spex war, dass irgendwann wieder eine gewisse Arbeitsteilung betrieben wurde. Das Problem, das sich dann stellte, war – und das begann schon in den späten Neunzigern und wurde im neuen Jahrtausend unter den Redakteuren Uwe Viehmann und Max Dax auch nicht gelöst –, dass sozusagen die verschiedenen Ressorts oder Departements nicht mehr miteinander verbunden waren. Schon bevor es zur Repoli­tisierung kam, also in den achtziger und auch in den frühen neunziger Jahren, hatte irgend­eine politische Reflexion, wie irre auch immer, eigentlich jeden Text durchzogen. Da musste nicht »Banlieues-Riots«, »Mexiko« oder »Abschiebehaft« in der Überschrift stehen. In einem Text über eine Band wie die Bad Brains ging es dann halt auch um die RAF oder und um die Volkszählung. Diese Verbindung fand ich ideal. Und dann gab es in den neunziger Jahren ein neues Paradigma und das Paradigma musste erst einmal aufgearbeitet werden. Folglich gab es in dieser Zeit viele »ausgewiesen« politische Texte, die Grundlagen legen mussten für das, was mittlerweile in den USA und in Frankreich und anderswo gedacht und reflektiert wurde. Und dann gab aber doch auch eine kurze Phase, in der Politik wieder über Musik transportiert wurde. Das findet man wahrscheinlich am ehesten in den Texten von Christoph Gurk, Mark Terkessidis und Kerstin Grether. In den späten neunziger Jahren fällt das dann wieder auseinander.
Bereits die Gründungsmitglieder der Zeitung waren mehr oder weniger Linksradikale, die von einer unhedonistisch-miefigen deutschen Linken einfach abgestoßen waren, oder?
Wilfried Rütten, Gerald Hündgen und Peter Bömmels hatten alle eine linke Vergangenheit, und zwar eine organisierte. Gerald war bei den Trotzkisten. Es gibt ja auch eine traditionelle Beziehung zwischen Trotzkisten und Soul. Mehr noch als eine linke Argumentationsvergangenheit hatten diese Leute auch eine linke Kulturvergangenheit.
Dein Verhältnis zur deutschen Linken war ebenfalls gespannt.
Bei mir gab es nach einer Jugend in linken Organisationen eine Reihe von dramatischen Abgrenzungen. Ich wollte mit denen 1978 nichts mehr zu tun haben, ich habe die deutsche Linke gehasst. Der Hass entzündete sich vor allem an der Dumpfheit des altmarxistischen Ableitungsgedankens. Ich fand das unwahr. Das scheiterte tagtäglich an der Wirklichkeit. Doch das Gegenmodell einer radikal-populären Gegenwartsbezogenheit ohne irgendeine Normativität, dieser ganze Popgedanke, war nach 1982 ebenfalls an eine Grenze gestoßen, so dass sich die Frage stellte: Was kann man mit linken Diskussionen noch machen? Bei der Spex gab es ähnliche Bezugspunkte, aber eine etwas andere Position dazu. Die waren eigentlich eher der Meinung, wenn ich es mal sehr vereinfacht zusammenfassen darf, wir aus Hamburg wären eh abgehoben und nicht bodenständig und hätten uns brachial abgewandt von politischen Realitätsbegriffen, während die Kölner meinten, sie hätte das eher so durch­gearbeitet, und jetzt wäre es weg. Deswegen gab es auch keinen Grund für eine Rückkehr des Politischen. Das war der Konflikt damals, aber an sich war die Grundlage schon die gleiche. Was uns später einte, war die Tatsache, dass es einen neuen Feind gab, und das waren die Zeitgeistzeitschriften wie Tempo. Wobei es durchaus auch Leute in der Spex gab, die Tempo toll fanden.
Gab es eigentlich in der Zeit, als du Redakteur warst, den Wunsch, größer zu werden und sich dem Mainstream zu öffnen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir haben aktiv dagegen gearbeitet – zwar nicht alle –, dass aus Spex eine große Zeitschrift wurde. Es gab das Begehren, größer zu werden, aber es hat die Auseinandersetzung verloren. Wie ich finde, zum Glück. Es gab Leute, die fanden Spezialisten so unsichtbar und Intellektuelle mochten sie auch nicht. Die wollten Hacks sein, richtige Journalisten. Wir fanden das Schreiben das Wichtigste. Und für die war eben nicht das Schrei­ben das Wichtigste, sondern die Themen. Wie auch in diesem Buch die Themen – von Pet Shop Boys bis Oasis – das Wichtigste sind. Das ist in der Tat das, was am wenigsten in diesem Buch repräsentiert ist: Die Obskurität von Spex! Spex war gezielt okskur. Es gab eine Absicht, obskur zu sein. So obskur, wie es gerade noch ging, ohne das Verführerische zu verlieren..
Umso erstaunlicher, dass im Vorwort behauptet wird, dass Cultural Studies, Gender Studies, französischer Dekonstruktivismus und PC für Spex den Verlust von Leichtigkeit bedeutet hätten. Andere Begriffe, die fallen, sind »theorielastige Komplexität« oder »auf Minoritäten zugeschnittenes Themenspektrum«.
Leichtigkeits-Apologeten sollen zur Degeto ­gehen. Es war ja die größte Leidenschaft von Spex, auf Verständlichkeit geschissen zu haben – aus unterschiedlichen Gründen. Der Wunsch, Theorie zu machen, war ja nur einer, ein vielleicht stärkerer war Poesie. Sich davon zu distanzieren, heißt natürlich, etwas Entscheidendes zu verpassen. Es wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Ich denke ja, dass die »verständlichen« wie die »unverständlichen« Texte heute als historische erläuterungsbedürftig sind. Gerade weil Gegenwartstexte kryptisch sein müssen – neue Namen sind geil –, weil man der Gegenwart nur habhaft werden kann, wenn man neue Namen und neue Begriffe entwickelt. So ist bei historischen Texten, bei denen es ja durchaus Fakten zu wissen gibt, die man erläutern müsste, in diesem Buch die Hälfte der Texte erläuterungsbedürftig.
Ein Buch wie dieses betreibt durch die Auswahl von Texten auch Geschichtsschreibung. Die Prozesse, Konstellationen und Konflikte, die in den neunziger Jahren stattfinden, sind relativ einfach zu rekonstruieren, die achtziger Jahre jedoch sind aber ein blind spot.
Die neunziger Jahre darzustellen, das ist relativ leicht: Sie sind, wie Lars Bang Larsen neulich geschrieben hat, eh immer noch nicht vorbei. Aber was wirklich undurchdringlich für eine heutige Perspektive ist, das sind die achtziger Jahre. Ich glaube, es hat auch kaum Aufarbeitungen gegeben. Die Themen der Cultural-Studies-Phase der Spex sind ja alle noch da: Rassismus, Queer Studies, Feminismus. Die Autoren und Autorinnen, die herangezogen wurden, sind auch noch da. Die siebziger Jahre kennt auch jeder, die achtziger Jahre hingegen sind völlig verschüttet. Die Frage, die zu stellen wäre: Um was ging es eigentlich überhaupt? Warum war denn Baudrillard so wichtig? Wovon handeln diese Texte? Was hat das ausgelöst? Was war toll an Bands wie Frankie goes to Hollywood oder an Peter-Greenaway-Filmen? Eigentlich müsste es darum gehen, mal genauer zu schauen, wie wurde das letzte Jahrzehnt der Kalten-Kriegs-Konstellation gelebt. Diese Koordinaten des Kalten Krieges wirkten so stark, gleichzeitig glaubte man sich auch im Zeitalter der Post-Histoire. Auf der anderen Seite hatten die konkurrierenden Systeme überhaupt keine Realität mehr. Dieses Irrealisierungsgefühl auf der einen Seite und zugleich aber die Tatsache, dass trotz allgemeiner Irrealisierung und dem berühmten Blixa Bargeld-Satz, »El Salvador gibt es doch gar nicht«, mit unglaublich heftigen Bandagen gekämpft wurde. Die Leute haben sich ja jeden Abend in der Kneipe geprügelt. Offensichtlich ging es um etwas.
Das deutsche Feuilleton hat sich seit Mitte der neunziger Jahre gewandelt. Popkultur hat einen hohen Stellenwert. Wo siehst du interessante Entwicklungsprozesse im ­Schreiben über Pop heute?
Es hat in den letzten Jahren eine unglaubliche Akademisierung statt gefunden. Der Feuilletonisierungsschub fand zwischen 1995 und 2005 statt, an dessen Stelle ist zwischen 2005 und 2015 eine Akademisierungsschub getreten. Es erscheinen wahnsinnig viele Bücher über popkulturelle Mikrothemen, wie zum Beispiel – ich erfinde jetzt etwas – »Die 2 Live Crew und die Sexismus-Debatte in den frühen Neunzigern in den USA«. Ähnliche Phasen konnte man bei der Geschichte des Filmjournalismus auch erleben. Es gab so ein Phase in Deutschland von den späten sechziger Jahren bis zu den späten siebziger Jahren, in der Filmjournalismus erst in der Zeitschrift Filmkritik eine neue Sprache gefunden und dann auch einzelne Leute hervorgebracht hat, die erst im Feuilleton und dann in der Filmwissenschaft landeten. Gertrud Koch war auch Journalistin und wurde dann Wissenschaftlerin, Frieda Grafe schrieb zuerst in der Filmkritik und später in der Süddeutschen. Doch die Frage ist: Was entspricht heute der Beschäftigung mit Film 1970 oder Pop 1990? Das ist zur Zeit sicherlich ein ziemlich verstreuter Komplex von Diskussionen über Urheberrechtsfragen, Aneignungsfragen, aber auch Fragen prekären Arbeitens, Kreativitätsdiskussion und dem Thema künstlerischer Formate und Dis­positive. Bloß hat dieser Komplex keinen Namen und wahrscheinlich wäre eine Zeitschrift dafür auch nicht die richtige Organisationsform. Aber wenn dieser Komplex seinen eigenen Ton hervorbringen würde, damit wäre schon viel gewonnen.

Max Dax/Anne Waak (Hg.): Spex. Das Buch.
33 1/3 Jahre Pop, Metrolit-Verlag, 480 Seiten, 28 Euro