Joachim Gaucks Europa-Rede

Tatort Europa

Joachim Gauck träumt von einem gesamteuropäischen Fernsehsender.

Mit großem Interesse war die erste große Rede von Bundespräsident Joachim Gauck erwartet worden. Ausgerechnet Europa hatte dieser vergangene Woche im Schloss Bellevue zum Thema erhoben. Dabei gibt es nach jahrelangen Debatten um Euro-Krise und Schuldendebakel kaum noch jemanden, der begeistert darüber sprechen möchte. Auch Gauck gab zu Beginn seiner Ansprache zu, dass ihm seine frühere Europa-Euphorie teilweise abhanden gekommen sei. Zu viele Probleme, zu wenige Lösungen, könnte man seine Zweifel zusammenfassen. Damit sagte er zwar nur, was fast alle Politiker derzeit über dieses Thema denken. Aber Gauck wäre wohl kaum Präsident geworden, wenn es ihm nicht gelänge, selbst banale Erkenntnisse rhetorisch geschickt zu präsentieren.

Zumindest kennt er sich mit Alliterationen aus, wie seine Rede in Bellevue belegt. »Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter«, verkündete er pathetisch. Wie wenig es derzeit bedarf, um als großer Europa-Visionär zu gelten, zeigen schon die Reaktionen auf diese Passage. »Das ist Sprachgewalt, die nicht viele so beherrschen«, kommentierte beeindruckt Spiegel Online. Und auch in vielen anderen Medien kam die Rede gut an. Ein »leidenschaftliches Bekenntnis zu Europa«, bilanzierte die Bild-Zeitung, eine »glanzvolle Rede«, die »Zweifler und Kritiker« überrascht habe, heißt es im Stern. Gut möglich, dass der Zuspruch so üppig ausfiel, weil Gauck einen heiklen Aspekt aufgriff: Die deutsche Vormachtstellung in Europa. Viele Deutsche mögen genug haben von dem ewigen Lamento der »Pleite-Griechen« (Bild) oder den bankrotten Spaniern, viele fühlen sich als »Zahlmeister« von maroden Staaten ausgenutzt. Die rigide Sparpolitik, die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) seit Jahren betreibt, kommt deshalb gut an; nach wie vor ist sie eine der beliebtesten Politikerinnen im Land. Zugleich versteht man hierzulande nicht so recht, warum Deutschland in Europa so unbeliebt ist wie zuletzt vermutlich vor sechs Jahrzehnten.

In Italien gelang es dem ehemaligen Ministerpräsident Silvio Berlusconi diese Woche, mit einem antideutschen Wahlkampf immerhin zur zweistärksten politischen Kraft bei den Parlamentswahlen aufzusteigen. In Griechenland und Spanien sind antideutsche Ressentiments alltäglich. Kaum eine Demonstration, auf der nicht Plakate mit Merkel in Nazi-Uniform zu sehen sind. »Die Tatsache, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung zur größten Wirtschaftsmacht in der Mitte des Kontinents aufstieg, hat vielen Angst gemacht«, griff Gauck diese Entwicklung in seiner Rede auf. »Ich war erschrocken, wie schnell die Wahrnehmungen sich verzerrten, als stünde das heutige Deutschland in einer Traditionslinie deutscher Großmachtpolitik, gar deutscher Verbrechen.«
Seiner Meinung nach handelt es sich dabei eher um eine Art Missverständnis. »Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu unseren Erfahrungen und möchten sie gern vermitteln«, erklärte er. Der paternalistische Tonfall seiner Rede trifft womöglich gut das Verständnis, wie es in vielen Parteien und Zeitungsredaktionen anzutreffen ist. Demzufolge handele Deutschland zwar streng, aber gerecht. »Keine zehn Jahre ist es her, da galt Deutschland selbst als ›kranker Mann Europas‹. Die Maßnahmen, die uns damals aus der Wirtschaftskrise herausführten, haben (…) Früchte getragen«, führte Gauck weiter aus. Nun sollen also die maroden Eurostaaten von dieser Erfahrung profitieren. Auch eine halbherzige Entschuldigung für die teils groben Beleidigungen durch deutsche Journalisten und Politiker hatte er parat: In der »notwendigen Auseinandersetzung um den richtigen Weg« haben diese »vereinzelt (…) zu wenig Empathie« aufgebracht, was wiederum wie »Kaltherzigkeit und Besserwisserei« erschienen sei.
Den meisten EU-Ländern dürfte allerdings aufgefallen sein, dass sie von der Bundesregierung und dem Europaparlament keine wohlmeinenden Empfehlungen und Ratschläge erhalten, sondern Auflagen, die sie bei Strafe des ökonomischen Untergangs zu erfüllen haben. Unklar bleibt in Gaucks Rede auch, was geschieht, wenn alle EU-Staaten dem deutschen »Erfolgsmodell« folgen. Dann nämlich müssten europaweit Löhne gesenkt, Sozialleistungen ­gekürzt und die Arbeitsbedingungen verschärft werden. Gut möglich, dass dadurch zwar die Wettbewerbsfähigkeit steigen würde – nur könnte sich kaum jemand noch die so produzierten Waren leisten. Der abschließende Appell von Gauck, »mehr Europa« bedeute nicht ein »deutsches Europa«, sondern ein »europäisches Deutschland«, kann so auch als Drohung verstanden werden.

Kein großes Wunder, dass die Rede außerhalb Deutschlands eher verhaltene Reaktionen auslöste. Die meisten Zeitungen in Italien, Spanien und Griechenland beschränkten sich darauf, den Inhalt kurz wiederzugeben. Nur in Großbritannien fielen die Kommentare freundlicher aus. In einer Passage hat Gauck für Englisch als allgemeine Verkehrssprache in Europa geworben – was allerdings ohnehin schon Realität ist.
Ob eine andere Idee auf größeren Zuspruch treffen wird, muss sich indes noch zeigen. Ausgehend vom Beispiel des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte forderte Gauck einen gesamteuropäischen Fernsehsender, als eine Art Agora, einen Versammlungsort nach dem Vorbild der griechischen Antike. Was die europäische Hochkultur dort alles bieten könnte, kann Gauck schon erahnen: »Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort.« Das wäre allerdings ratsam. Denn es ist kaum anzunehmen, dass sich die Bürger in Europa nach der rigiden »Schuldenbremse« auch noch mit dröger deutscher Fernsehkost malträtieren lassen.