Die Debatte über »Armutsmigranten«

Die Grenzen der Freizügigkeit

Die deutsche Debatte über »Armutsmigranten« aus Bulgarien und Rumänien zeugt von rassistischen Ressentiments.

Wenn in Deutschland gegen Armut gekämpft werden soll, dann ist meist nicht der Kampf gegen deren ökonomische Ursachen gemeint, sondern der Kampf gegen die Armen selbst. Millionen Hartz-IV-Empfänger können ein Lied davon singen und sich zugleich glücklich schätzen, weil ihr deutscher Pass sie vor drastischeren Maßnahmen schützt. Der einheimische Arme gilt hierzulande immer noch mehr als der zugewanderte. Bei Spiegel Online zeigte man kürzlich sogar Empathie für deutsche Obdachlose, weil diese neuerdings von »Armutsmigranten« aus Notschlafstellen und Straßenambulanzen verdrängt würden.

»Armutsmigranten« sind das Schreckgespenst der Stunde, innereuropäische Wiedergänger der »Wirtschaftsflüchtlinge«, die in den achtziger und frühen neunziger Jahren kamen, um mittels Asylantrags eine Zeitlang die fragwürdigen Freuden von Container-Unterbringung mit Residenzpflicht zu genießen, bevor man sie wieder abschob. Die neuen »Armutsmigranten« dagegen kann man nicht abschieben, gilt doch in der EU »Arbeitnehmerfreizügigkeit«, was nicht einmal Horst Seehofer (CSU) grundsätzlich in Frage stellt. Zwar verkündete er schon vor zwei Jahren, er werde sich gegen solche Migranten »sträuben bis zur letzten Patrone«, meinte damit aber nicht die jungen, gut ausgebildeten Spanier oder Griechen, die Jobs in deutschen Großstädten suchen, seit die deutsche Niedriglohn- und Exportpolitik die Arbeitsmärkte ihrer Länder destabilisiert hat.
Welche spezielle Migration Seehofer meinte, präzisierte unlängst noch einmal der Deutsche Städtetag mit dem Positionspapier »Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien«. Durch sie seien »die soziale Balance und der soziale Friede in den Städten in höchstem Maße gefährdet«. Insbesondere wenn am 1. Januar 2014 auch noch die Grenzkontrollen zu diesen Ländern wegfallen. 120 000 bis 180 000 Menschen könnten dann nach Deutschland kommen. So prophezeit es jedenfalls eine alarmistische Schätzung der Bundesagentur für Arbeit (BA), die derzeit überall zitiert wird, ohne die Kompetenz der BA zur Einschätzung der Situation in den betreffenden Ländern zu prüfen.
Der Deutsche Städtetag nahm immerhin Bezug auf Zahlen des dafür eigentlich zuständigen Statistischen Bundesamts, als er behauptete: »Die jährliche Zahl der Armutseinwanderer aus Rumänien und Bulgarien hat sich in den vergangenen vier Jahren von 64 000 auf rund 147 000 mehr als verdoppelt (…).« Allerdings ist auch das falsch, da hier schlicht alle Zuwanderer zu »Armutsmigranten« gemacht werden. Die Wahrheit ist, dass »80 Prozent der Menschen, die seit Beginn der EU-Mitgliedschaft im Jahr 2007 aus diesen beiden Ländern nach Deutschland gekommen sind, einer Erwerbsarbeit nachgehen. Von diesen sind 22 Prozent hochqualifiziert und 46 Prozent qua­lifiziert.« Das teilte umgehend das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) mit und erklärte die zuvor vorgelegten Zahlen zur »Unstatistik des Monats«.
Den bereits entfachten medialen Furor wird diese Klarstellung leider kaum mildern können, und auch als Beleg dafür, dass es sich bei der Debatte um Armutsmigration letztlich um eine rassistische handelt, hätte es sie nicht gebraucht. Im Gegensatz zum Deutschen Städtetag nehmen viele Journalisten ohnehin kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die über den deutschen Volkskörper herfallenden Parasiten zu ­benennen: Es sind Roma. Und dass diese kriminell und arbeitsscheu sind, Frauen vergewaltigen und ganze Stadtviertel in Müllhalden verwandeln, ist tief verwurzeltes Volkswissen.

Nicht erst die nationalsozialistische Rassenlehre erkannte die Roma als »durch endogame Fortpflanzung degenerierte Mischrasse«. Schon im alten Volkslied »Lustig ist das Zigeunerleben« werden sie als Wilddiebe klassifiziert, die »dem Kaiser kein Zins« geben und als glückliche Arbeitslose in Erdlöchern schlafen. Ihren Charakter beschreibt Meyers Konversations-Lexikon von 1888 als »treulos, furchtsam, der Gewalt gegenüber kriechend, dabei rachsüchtig (…) und unverschämt«. Und als wäre das nicht schlimm genug, sind sie auch noch »mit fremden und asozialen Elementen vermischt«, wie der Kleine Brockhaus von 1954 ergänzt.
Bei einer solchen Bedrohungslage wundert es nicht, dass sich Sandra Maischberger das Thema in den vergangenen drei Monaten gleich zweimal in ihrer Talkshow vornahm. Beim ersten Mal durften noch der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth gegen Phi­lipp Gut antreten, dessen Blatt Weltwoche sich wegen antiziganistischer Hetze eine Rüge des Schweizerischen Presserats eingehandelt hatte. Beim zweiten Mal trat nur noch der Schauspieler Hamze Bytyci als Verteidiger der Roma auf, als die »No Angels«-Sängerin Lucy Diakovska kraft ihrer Expertenschaft als gebürtige Bulgarin verkünden durfte, dass sich Roma eben »nicht in normale Wohnverhältnisse integrieren« ließen, da sie ihre Wohnungen verwüsteten, indem sie Ziegen und Pferde darin hielten.
Solche Formen der Viehhaltung mag es unter den gegenwärtigen bulgarischen Verhältnissen, in denen es keinerlei Berufs- oder Bildungsper­spektiven für Roma gibt, sogar geben. Tatsächlich aber war die Lebens- und Arbeitssituation der Roma in Rumänien und Bulgarien vor 1990 eine ganz andere. Erst nach dem Ende der sozialistischen Regime wurden sie als Minderheit völkisch diskriminiert und ausgegrenzt, waren stets als erste vom Stellenabbau betroffen, wurden ghettoisiert und ihrer Bildungsmöglichkeiten beraubt, so dass heute Teile der jüngsten Roma-Generation nicht einmal mehr die jeweilige Landessprache beherrschen.
Gleiches geschah in allen Ländern Osteuropas, und die rassistische Ausgrenzung hat bis heute nicht nachgelassen. In Serbien und Bulgarien etwa werden Roma gezielt in die Obdachlosigkeit getrieben, indem man ihre Elendsquartiere abreißt. In Rumänien befürworten 50 Prozent der Bevölkerung inzwischen eine staatlich kontrollierte Geburtenbeschränkung für Roma. Ein Aufruf der »Autonomen Nationalisten« verspricht gar jeder Romni, die sich sterilisieren lässt, eine Belohnung von 300 Lei (68 Euro). Im tschechischen Ústí nad Labem wurde 1999 sogar eine Mauer errichtet, um die Roma zu separieren, nach Protesten allerdings wieder eingerissen. Es gibt jedoch weiterhin Diskriminierung im Bildungssysten und vielerorts abgesonderte Wohngebiete für Roma. Der tschechische Roma-Aktivist Václav Miko zog 2009 Vergleiche mit dem südafrikanischen Apartheidssystem.

Noch schlimmer ist es nur in Ungarn, wo Roma-Kinder häufig als geistig behindert eingestuft werden, um sie auf Sonderschulen verbannen zu können, wie das European Roma Rights Centre berichtet. Der rechtsextremen Partei Jobbik reicht das nicht, sie fordert Lagerunterbringung und Zwangssterilisation. Ähnlich tönt es auch aus der regierenden Fidesz-Partei. Zsolt Bayer, ein persönlicher Freund von Ministerpräsident Viktor Orbán und dessen Mann fürs Grobe, schrieb unlängst in der Zeitung Magyar Hírlap: »Ein bedeutender Teil des Zigeunertums ist fürs Zusammenleben nicht geeignet, (…) besteht aus Tieren und benimmt sich wie Tiere. (…) Das gilt es zu lösen – aber sofort und wie auch immer!« Diese Forderung wurde als »Endlösung der Zigeunerfrage« von tschechischen und rumänischen Rechten übernommen, die damit meist die Depor­tation nach Indien meinen, wo man den Ursprung der Roma vermutet. Roman Kwiatkowski vom Verein polnischer Roma fasste es in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza kürzlich so zusammen: »Keine andere Minderheit wird in Europa so sehr diskriminiert wie die Roma. Ihre Situation gleicht so langsam derjenigen der Juden vor dem Zweiten Weltkrieg.«
So problematisch derlei Vergleiche sind, bleibt festzuhalten, dass es auch in den westeuropäischen Ländern Diskriminierung von und Ressentiments gegen Roma gibt, die sich zuweilen in regelrechten Pogromen entladen, wie 2008 in Neapel, wo ein rasender Mob eine Barackensiedlung in Brand setzte und mit Eisenstangen auf die Bewohner eindrosch. Ministerpräsident Silvio Berlusconi rief daraufhin den »Nationalen Notstand« aus und ließ Roma gegen geltendes EU-Recht abschieben. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy tat es ihm 2010 nach, während sich der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) 2012 auf die Abschiebung serbischer und mazedonischer Roma beschränkte, um eine EU-Rüge zu vermeiden.

Wie verheerend es um die öffentliche Meinung über Roma in Deutschland bestellt ist, bewies nicht nur Fernsehkoch Tim Mälzer, als er in der Talkshow »Kölner Treff« der Sinti-Musikerin Dotschy Reinhardt erklärte, »seine Emotionalität« spreche dagegen, »Zigeuner« zu mögen. Auch die so Angesprochene hielt es für angebracht, sich in einem Interview mit dem Deutschlandradio von den schmuddeligen Verwandten aus dem Osten zu distanzieren: »Ich kenne keinen Sinto, der mit seinem Kind auf der Straße sitzt und bettelt. (…) Aber letztendlich bekommt man dieses Bild übergestülpt als deutscher Sinto, obwohl man wirklich auch von den Sitten und Gebräuchen der Roma meilenweit entfernt ist.«
Damit fällt sie sogar hinter das Positionspapier des Deutschen Städtetags zurück, in dem dieses Erscheinungsbild der Roma wenigstens nicht mit »Sitten und Gebräuchen«, sondern mit Armut erklärt wird: »Wir stellen dabei auch fest, dass die soziale Notlage der Menschen vielfach missbraucht wird«, was den Druck verschärfe, »sich illegal Einkommen zu verschaffen, zu Dumpinglöhnen zu arbeiten oder der Prostitution sowie der Bettelei nachzugehen.« Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, bestätigte gegenüber der Bild-Zeitung: »Die Zuwanderung der Roma wird durch eine regelrechte Armutsmafia organisiert. Sie versklavt die Leute, beutet sie hemmungslos aus und zwingt sie zur Kriminalität.«
Trotzdem kommt der Deutsche Städtetag nicht auf die naheliegende Idee, ein verschärftes Vorgehen gegen die Ausbeuter zu fordern, sondern schlägt vor, die Situation der Roma in Rumänien und Bulgarien zu verbessern, damit diese bleiben, wo sie sind. Da es jedoch kaum möglich sein wird, in Jahresfrist nachzuholen, was im Laufe der EU-Beitrittsverhandlungen jahrzehntelang versäumt wurde, werden Übergangslösungen wie die von Bundesinnenminister Friedrich verlangte »Einreisesperre« für Roma gefordert. Dafür müssten diese aber erst mal als solche identifiziert werden. Mittels Gen-Analyse und Passstempel im Herkunftsland oder nach Augenschein deutscher Polizisten? Die Indizien sind immerhin hinlänglich bekannt: dunkle Haut, bunte Röcke und stets ein lustiges »Faria, faria, ho!« auf den Lippen.