Ein Nachruf auf den Datenschutz-Pionier Alan Furman Westin

Der Mann, der die Privacy erfunden hat

Alan Furman Westin war ein US-amerikanischer Pionier im Bereich Datenschutz und Recht auf Privatsphäre. Ein Porträt.

Wie sehr sich das Bedürfnis nach dem Schutz der Privatsphäre in den letzten 60 Jahren gewandelt hat, zeigt ein Blick in die vielen mittlerweile digitalisierten Ausgaben der Tageszeitungen aus den fünfziger Jahren. In der Miami News, der damals führenden Abendzeitung der Stadt, erfährt man am 6. Juli 1954 beispielsweise in einer eigenen Urlaubsspalte, dass Mr. und Mrs. Hill aus Kendall in die Ferien gefahren sind, zuallererst ihren Neffen besuchen wollen und dann bis zum frühen Herbst in einem gemieteten Ferienhaus in Miami wohnen werden. Derart lässiger Umgang mit dem eigenen Privatleben verblüfft – andererseits wären Herr und Frau Hill sicher nie auf die Idee gekommen, ein öffentliches, für jeden lesbares Tagebuch zu führen und zu verbreiten.
In der Miami News erschien an diesem 6. Juli auch ein zweispaltiger Bericht über die Hochzeit von Alan Furman Westin und Beatrice Shapoof, in der die Leser nicht nur Einzelheiten über das Kleid der Braut (eine wadenlange Robe aus weißem Chantilly mit pinkem Satineinsatz), den Namen des Rabbiners, der die Zeremonie leitete, und das Ziel der Hochzeitsreise (Mexiko) erfahren. Auch die genaue Anschrift der Brauteltern sowie der Arbeitsstellen der beiden frisch Verheirateten werden verzeichnet. Dieser Artikel ist jedoch nicht wegen der detaillierten Schilderungen einer Hochzeit in den Fifties interessant, sondern weil aus dem Bräutigam einer der führenden Experten im Bereich Datenschutz von Konsumenten und Recht auf Privatsphäre werden sollte.

Für Alan Furman Westin, der am vergangenen 18. Februar verstorben ist, war Privatsphäre »weit mehr als das Recht des Individuums, in Ruhe gelassen zu werden«. Bekannt wurde der Jura-Professor im Jahr 1967, als sein heute als Standardwerk angesehenes Buch »Privacy and Freedom« erschien. Die breite Öffentlichkeit erfuhr erst durch diese Publikation von der Existenz damals modernster Abhörtechniken wie in Wasserspendern verborgenen Mikrofonen, als Alltagsgegenständen getarnten Fotoapparaten sowie der Möglichkeit, mit Hilfe eines Computers Daten zu sammeln. Das Individuum, so lautete eine der Kernthesen in »Privacy and Freedom«, habe »das Recht, darüber zu bestimmen, wie viel persönlichen Informationen an wen weitergegeben werden und wie sie vorgehalten und verbreitet werden«. Es gebe in den Sozialwissenschaften eine Lücke, schrieb Westin weiter: »Wenige Werte, die so fundamental für die Gesellschaft sind wie die Privatsphäre, sind in den Sozialtheorien so wenig definiert geblieben und das Subjekt derartig vager und konfuser Texte von Wissenschaftler gewesen.«
1972 schrieb Westin gemeinsam mit Michael Baker ein weiteres Standardwerk, »Databank in a Free Society«, in dem die zunehmende Datensammelei durch Regierungsstellen sowie kommerzielle und nichtkommerzielle Unternehmen behandelt wurde. Obwohl viele Bürger schon damals Angst vor Überwachung hatten, sahen die Autoren durchaus auch die Chancen des herannahenden Computerzeitalters – und propagierten beispielsweise die heute gängigen Opt-in und Opt-out-Verfahren. Denn, so Westin, das Individuum habe sowohl das Recht, seine privaten Daten nicht herauszugeben, wie das Recht, sie zur Benutzung freizugeben, um zum Beispiel auf Sonderangebote aufmerksam gemacht zu werden.
Westin bezog sich in seinen Arbeiten immer wieder auf den US-amerikanischen Juristen Louis Brandeis, der 1890 das »right to privacy« (Recht auf Privatsphäre) mitentwickelte, indem er einen Artikel in der Harvard Law Review schrieb, von dem es später unter Juristen hieß, er habe »unserem Recht nichts weniger als ein ganz neues Kapitel hinzugefügt«. Der glühende Zionist, der unter dem Spitznamen »Robin Hood des Gesetzes« bekannt war, wurde von Präsident Woodrow Wilson 1916 als erster Jude zum Richter am Supreme Court berufen, aber vom Senat erst nach langen Debatten mit 47 zu 22 Stimmen bestätigt. Brandeis profilierte sich unter anderem 1928 im Fall Olmstead vs. United States. Der Supreme Court hatte darüber zu entscheiden, ob das Abhören privater Telefongespräche durch Bundesagenten ohne das Einholen einer gerichtlichen Erlaubnis eine Verletzung der Grundrechte darstelle. Der Fall war spektakulär, denn Roy Olmstead war während der Prohibition einer der bekanntesten Bootlegger der USA und hatte seine lukrative Karriere bereits als Leutnant der Polizei in Seattle begonnen. Nach seiner ersten Verhaftung hatte er aus dem Dienst ausscheiden müssen und sich anschließend ganz auf den illegalen Import von Alkohol aus Kanada verlegt. Olmstead erwarb sich rasch den Spitznamen »The Good Bootlegger«, weil er im Unterschied zu den anderen Profiteuren der Prohibition Wert auf ehrliche Geschäfte legte – er verkaufte keine gepanschte Ware, erpresste Geschäftspartner nicht und räumte auch lästige Konkurrenten nicht aus dem Weg. Weil er sich überdies weigerte, in anderen Kriminalitätsfeldern wie Zuhälterei, illegalem Glücksspiel oder Waffenschmuggel aktiv zu werden, galt er vielen Gangstern seiner Zeit nicht als »echter Krimineller«. 1924 hatten Olmstead und seine Frau Elise mit der Radiostation KFQX überdies ein legales Unternehmen begründet, wo Elise jeden Abend um viertel nach sieben Kindern als »Tante Vivian« Gutenachtgeschichten erzählte. (Viele Leute glaubten, dass sie darin codierte Botschaften an das Schmugglernetzwerk ihres Mannes verbreitete, was allerdings nie ­verifiziert wurde.)
Ein Jahr später wurde Roy Olmstead gemeinsam mit 89 weiteren Bootleggern verhaftet und zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. Er wollte sich mit dem Urteil jedoch nicht abfinden und legte Berufung ein. Doch der Supreme Courtbestätigte mit einer knappen 5:4-Mehrheit, gegen den entschiedenen Widerstand von Richter Louis Brandeis, die Verurteilung, für die das eigenmächtige Abhören privater Telefongespräche eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Brandeis hatte seine Bedenken schriftlich niedergelegt: »Kann es wirklich sein, dass die Verfassung keinen Schutz vor einer derartigen Verletzung individueller Sicherheit bietet?« fragte er in dem berühmt gewordenen Text, in dem er festhielt, dass die damals gerade zum Massenkommunikationsmittel werdende Telefonie mindestens den gleichen Schutz verdiene wie das gesetzlich verankerte Briefgeheimnis. Im vorliegenden Fall, so argumentierte Brandeis, handele es sich um »unclean hands«, ein zuerst im 13. Jahrhundert während des 4. Laterankonzils erwähntes Rechtsprinzip, wonach ein Klage dann unberechtigt ist, wenn sie durch unethisches Verhalten oder in böser Absicht des Klägers zustande gekommen ist. »Wenn die Regierung zum Rechtsbrecher wird, bewirkt sie damit die allgemeine Verachtung des Rechts und lädt alle Bürger ein, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen«, schrieb Brandeis weiter.

In dem Jahr, in dem Brandeis’ Bewunderer Westin sein erstes Buch veröffentlichte, wurde ein weiterer spektakulärer Abhörfall vor dem Supreme Court entschieden, Katz vs. United States. Charles Katz hatte eine öffentliche Telefonzelle in Los Angeles, die vom FBI mit einer Abhörvorrichtung ausgestattet worden war, benutzt, um Wettquoten nach Miami und Boston zu übermitteln. Der Supreme Court gab seiner Beschwerde statt und erklärte, dass der Schutz der Privatsphäre auch in diesem Falle gelte, schließlich seien Telefonzellen mit Türen ausgestattet, damit Gespräche nicht von Dritten mitgehört werden können. »Auf den Prinzipien, die von Westin entwickelt wurden, basieren heute buchstäblich zehntausende Gerichtsurteile, Regulationsmaßnahmen und ethische Prinzipen in Unternehmen, und das weltweit«, schrieb sein Geschäftspartner und Freund Bob Belair in einem Nachruf. »Er war der erste, der die Auswirkungen der Computertechnik wie auch der weiteren modernen Technologien auf die Privatsphäre erkannte.« Westin habe, so Lance Hoffman, Rechtsprofessor an der Indiana University, »die Spannungen, die heute zwischen Privatsphäre und Freiheit, Individualismus und Kontrolle und Überwachung existieren, vorausgesehen«.
Manchen Datenschutz-Aktivisten ging Westin jedoch niecht weit genug, weil er immer versuchte, eine Balance zwischen der Privatsphäre der Bürger und den Interessen von Unternehmen und Anbietern zu finden. »Ich identifiziere Gefahren für die Privatsphäre, aber meine Lösungen bestehen hauptsächlich darin, miteinander in Widerstreit liegende Werte zu erkennen, die zu einem gewissen Ausgleich gebracht werden müssen«, sagte er einmal in einem Interview. Er würdige die Rolle, die diverse Datenschutz-Organisationen spielten, vor allem wenn es um »die Gefahren neuer Gesetze geht, in denen Maßnahmen gegen Überwachung verboten werden sollen. Aber leben wollte ich unter einem Regime totalen Datenschutzes nicht.« In seinen letzten Jahren beschäftigte sich Westin mit der unkontrollierten Datenflut bei Google, Facebook und anderen sozialen Netzwerken. »Er erkannte, dass die Probleme beim Datenschutz nun so groß sind, dass sie nicht mehr durch das Recht allein ge­regelt werden können, sondern eine Mischung von juristischen, sozialen und technischen Lösungen erfordern«, sagte sein Freund und Kollege Professor Jeffrey Rosen. Er wird nun auch das letzte Buch fertigstellen, an dem Westin gearbeitet hat: Eine Abhandlung über die Privatsphäre als historisch-philosophisches jüdisches Kon­strukt.