Seit zehn Jahren regiert die AKP die Türkei. Eine Bilanz

Der konservative Modernisierer

Seit dem 12. März 2003 ist Recep Tayyip Erdoğan Ministerpräsident der Türkei. Eine Bilanz von zehn Jahren AKP-Regierung.

Ausgerechnet auf der UN-Konferenz »Allianz der Zivilisationen« behauptete er, Zionismus sei wie Islamfeindlichkeit, Antisemitismus und Faschismus ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ein Sturm der Entrüstung brach ob der Gleichsetzung von Zionismus und Faschismus los, in der türkischen Presse hielt sich die Aufregung dagegen in Grenzen, da er aussprach, was viele ohnehin dachten. Recep Tay­yip Erdoğan polarisiert gern, im eigenen Land hat er erbitterte Gegner wie glühende Verehrer. Zehn Jahre lang ist er nun schon Ministerpräsident in der Türkei. Seine Vorgänger verschwanden mit dem herausragenden Sieg der islamisch-konservativen »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) 2002 von der politischen Bildfläche. Tansu Çiller, Mesut Yılmaz, Necmettin Erbakan – sie alle waren nach Jahrzehnten der Korruption, Menschenrechtsverletzungen und einer unverhohlenen Dominanz des türkischen Militärs über die Politik nicht mehr wählbar.
Erdoğan, der beliebte ehemalige Oberbürgermeister von Istanbul, konnte 2002 aufgrund eines gegen ihn verhängten Politikverbots nicht sein Amt als Ministerpräsident antreten. Er war in den neunziger Jahren der Ziehsohn des Islamistenführers Erbakan gewesen. Als Erdoğan 1998 von einem Staatssicherheitsgericht wegen Volksverhetzung zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt wurde, empfanden das viele als ungerecht. Anlass für das Verfahren war eine Rede bei einer Konferenz in der Stadt Siirt, in der er aus einem Gedicht des türkischen Dichters Ziya Gökalp zitiert hatte: »Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Da Gökalp als ein Vorreiter der nationalistischen Staatsideologie in der Türkei so hoffähig ist wie in Deutschland Hoffmann von Fallersleben, war die Verurteilung mehr als fragwürdig.
Zur gleichen Zeit wurde die Regierungskoalition von Çiller und Erbakan mit Putschdrohungen zum Rücktritt gezwungen. Die Reformer innerhalb des islamistischen Lagers, allen voran Erdo­ğan und Abdullah Gül, verabschiedeten sich daraufhin von einem die Einführung der Sharia fordernden Islamismus und gründeten die AKP. Erst nach einer Verfassungsänderung, die das für ihn geltende Politikverbot aufhob, wurde Erdoğan am 12. März 2003 Ministerpräsident.

In den ersten Jahren leitete die AKP umfangreiche Gesetzesänderungen im Rahmen der Verhandlungen mit der EU in die Wege. Die Bestrafung von Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe etwa war eine bahnbrechende Neuerung, die von der türkischen Frauenbewegung jahrelang gefordert worden war. Die Staatssicherheitsgerichte wurden abgeschafft und Strafgefangenen mehr Rechte eingeräumt. Doch die Gesetzesänderungen wurden nicht adäquat umgesetzt. 2013 ist die Türkei weltweit das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten und Studierenden und die Gewalt gegen Frauen grassiert. Jeden Tag werden durchschnittlich fünf Frauen in der Türkei von ­Familienangehörigen ermordet. Nur Centel von der Koç-Universität stellte Mitte Dezember fest, dass es in der Türkei nur 81 Frauenhäuser gibt – bei einer Bevölkerungszahl von 80 Millionen Menschen. In Deutschland gibt es etwa 300 Frauenhäuser. Im vergangenen Sommer erklärte Erdoğan, Abtreibung sei Mord. Seine Regierung erließ danach eine Indikationsregelung nach EU-Standard mit einer Frist für Abtreibungen bis zur zwölften Woche. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen beklagen jedoch, dass bei schwangeren Frauen in staatlicher Obhut eine Abtreibung in vielen Fällen verhindert wird, bis diese Frist überschritten ist. In staatlichen Frauenhäusern untergebrachten Vergewaltigungsopfern wird kein Krankenhausbesuch ermöglicht, inhaftierten Frauen ebenfalls nicht.
Ende September 2012 wurde Erdoğan auf dem Parteitag der AKP für weitere drei Jahre als Parteivorsitzender bestätigt, einen Gegenkandidaten gab es nicht. Nach den Statuten der AKP war dies seine letzte Wiederwahl. Es wird aber erwartet, dass er sich 2014 um die Präsidentschaft bewirbt. Die AKP plant dieses Jahr eine umfangreiche Verfassungsänderung,die seit langem ansteht. Die derzeit gültige Verfassung besteht zu einem Großteil noch aus Relikten der nach dem Septemberputsch von 1980 von den Generälen verfügten Verfassung. Ein zentraler und strittiger Punkt in der geplanten Änderung ist die Einrichtung eines Präsidialsystems. Der Präsident ist bereits heute das Staatsoberhaupt der türkischen Repu­blik. Er ist »Hüter der Verfassung« und repräsentiert die »Einheit der türkischen Nation«. Zudem beaufsichtigt er »die Anwendung der Verfassung und die Tätigkeit der Staatsorgane«. Er ernennt hohe Justizangehörige, die Leitenden der Zentralbank und des staatlichen Rundfunks sowie die Universitätspräsidenten. Legt der Präsident ein Veto gegen ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz ein, muss es sich erneut damit befassen. Im Präsidialsystem gibt es zwei allgemeine Wahlen, die Parlamentswahl und die Präsidentenwahl. Es kann dazu kommen, dass der Präsident gegen die Parlamentsmehrheit anderer Parteien regiert.

Wie wird es unter Erdoğan weitergehen in der Türkei? Außenpolitisch agiert die Regierung immer stärker populistisch-pragmatisch, neben der Unterstützung der »Freien Syrischen Armee« ließ sie Patriot-Abwehrraketen der Nato stationieren. Die Westanbindung will sie auf keinen Fall verlieren, sie verwehrt sich aber gegen Einmischungen in »innere Angelegenheiten«. Die EU und auch den UN-Sicherheitsrat bezeichnet Erdoğan immer öfter als parteiisch. Viel lieber wäre es der Regierung, andere politische Bündnisse unter eigener Führung einzugehen. Ein Dämpfer wurde der »neo­osmanischen Politik« allerdings durch die Palästinenser erteilt. Ägypten und die USA sind im Nahost-Konflikt nach wie vor die Hauptakteure, die Türkei war von niemandem bei den jüngsten Gesprächen als Vermittler gefragt – wie sollte sie auch nach dem Zerwürfnis mit der israelischen Regierung in dem Konflikt vermitteln?
In der EU-Politik gibt sich Erdoğan angriffslustig. Im Oktober 2012 forderte er, die Türkei müsse bis 2023, pünktlich zum 100. Jubiläum der Republikgründung, Mitglied der Europäischen Union sein. Beim Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Februar wurde jedoch deutlich, dass es keine Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen gibt. Merkel hat, wie viele an­dere europäische Konservative, grundsätzliche Vorbehalte gegen die Aufnahme der Türkei, während Erdoğan keine Bereitschaft zeigt, mit der Anerkennung Zyperns und innenpolitischen Reformen die Beitrittsbedingungen zu erfüllen.
Ob als EU-Mitglied oder nicht, bis 2023 will die AKP-Regierung das Land in vielen Bereichen grundlegend modernisieren. Für die kommenden Generationen bereitet die Regierung »eine ganz andere Türkei vor«. Wirtschaftlich verfolgt sie einen neoliberalen Expansionskurs. Politisch müsste sie Opposition zulassen, ähnlich den einst bekämpften Laizisten setzt sie eine Erziehungsdemokratie unter ihren eigenen ideolo­gischen Vorgaben durch. Die Politik gegenüber Oppositionellen ist widerspüchlich. Verhandlungen mit der PKK und deren Führer Abdullah Öcalan waren bislang ein Tabu, das die AKP gebrochen hat. Gleichzeitig sitzt ein Großteil der kurdischen Opposition im Gefängnis oder wird durch Gerichtsverfahren in Schach gehalten. Die Anschläge auf die US-Botschaft in Ankara und auf drei kurdische Aktivistinnen in Paris wurden schnell den Kurden selbst und der Ultralinken zugeschrieben. Beide Bewegungen waren immer stark mit dem türkischen Geheimdienst verwoben. Die jüngsten Anschläge entsprachen nicht dem üblichen Muster dieser Organisation, sie haben aber weltweit Aufmerksamkeit erregt und beide Oppositionsbewegungen diskreditiert. Beweisen lässt sicht nichts, es bleibt abzuwarten, ob der AKP ein Reformkurs im alten Fahrwasser gelingt.