Satt, aber grindig

Fabian Faltin beobachtet eine Gruppe junger Österreicher in ihrem Berliner WG-Exil.

Jakob
Gedrungen, verschwitzt und rasend verwirrt stieß Jakob Hartweger mit rollenden Augen und einem Sack voller Brötchen durch die Haustür. Die Postkästen im Flur rauchten an diesem Morgen: dicke, schwere, vor deutschem Ernst qualmende Zeitungszigarren in allen Schlitzen.
Es gab die Bild-Zeitung, doppelt so groß wie die Krone. Worüber sie berichtete, oft Unglaubliches, schien wichtig zu sein, es betraf 80 Mil­lionen Menschen. Doch die hatte er schon am Kiosk gesehen. Er sah ein Magazin, einen Spiegel. Er zog es heraus. Ja, sowieso, gleich auf dem Titelblatt:
Das Böse nebenan.
Undurchdringliche Büsche, schattiges Nachtblau, eine Hauswand mit drei Fenstern, in der grellroten Spiegelumrandung sah das noch viel bedrohlicher aus: wie ein schwarzes Loch, eine fatale Falle. Ein nicht wieder aus der Welt zu schaffendes Faktum und eine Sensation der übelsten Sorte.
Jakob verkrampfte beim Gedanken an die unfassbare Schande, die neuerlich über das ganze Land gekommen war, in das zurückzukehren er unwiderruflich geschworen hatte. Er lief los, mit einem kurzen, energischen Kopfschütteln, wollte seine Pein abschütteln, verlor die Treppe kurz aus den Augen, fing sich wieder. Unfreiwillig war er jetzt ins Keuchen gekommen. Er wurde aber nicht langsamer, sondern erklomm mit sturem Klack-Klack seiner Flip-Flops die vier Stöcke des Wohnhauses Glogauer Straße 3, Berlin-Kreuzberg.

Die Wohnung, Base-Camp, ein gut abgesichertes Dauerprovisorium. Zwischen den zwei Wohnungstüren links und rechts war ein regelrechtes Bollwerk im Treppenhaus entstanden; Bretter, rostige Fahrräder, TV-Kartons mit Zeitschriften und Hi-Fi-Boxen, eine alte Matratze, verschrumpelte Kakteen und Malerplanen, ein Surfrigg sowie ein Kajak, Modell »Mondsee 200«, bei der Wassertaufe im Landwehrkanal angeknackst, anscheinend irreparabel. Hinter diesem Festungswall hauste ein Rudel Exil-Österreicher, unangemeldet, in nahezu vollkommener Kreuzberger Miet- und Narrenfreiheit. Das wenige an Miete zu Zahlende – die Nachmiete einer Untermiete eines mit der Hausverwaltung und dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg gerichtlich prozessierenden Hauptmieters – konnte zumeist auf Touristen, Erasmus-Studenten und amerikanische Zwischenmieter abgewälzt werden, die Conny Götzlbacher, bei weitem die Jüngste unter ihnen, mit großem Ehrgeiz aufspürte.
Jakob betrat die Wohnung durch die linke Tür. Satte österreichische Gemütlichkeit brandete ihm entgegen, wie von einem längst vergessenen Faschingsfest, hier und da zwar schon grindig befleckt, außerdem mit Ablaufdatum, aber alles in allem eine gute, lässige und ihm wohlig vertraute Atmosphäre.
Er wanderte vorbei an Jacken, Taschen, Fahrradmonturen. Er umrundete eine grünlich fluoreszierende Altglassammlung und einen Schuhberg, vorwiegend Frauenschuhe, auch einige verheißungsvolle Lederstiefel; darin sah er manchmal noch einen Grund zu bleiben, sowie in den diversen Plastiktüten. Keine möchtegernkultigen Billa-Sackerl, die mit ihrem pseudofröhlichen Rotgelb die Augen erschlugen, sondern ganz sachliche, stinknormale deutsche Plastiktüten. Bunt bedruckt mit Gemüse von Edeka, oder mit einer altmodischen preußischen Kaffeekanne von Kaiser’s, da schlägt das Herz: Da schlug es wirklich irgendwie immer etwas anders als in Österreich.
Die Wohnung war unverschämt groß und günstig, eigentlich zwei zusammengelegte Wohnungen; ein grenzenloser deutscher Lebensraum. War es nicht genau das, wonach diese schmutzigen, schmierigen Südländer seit eh und je gierten? Jakob versuchte seine eigenen schlechten Witze wegzuhusten, aber es stimmte ja: Fast um den halben Hinterhof lief diese Wohnung, auf Zimmer folgte Zimmer folgte Zimmer, insgesamt waren es sieben, zuzüglich Küche, Stauräumen, zwei Gängen und einem großen Bad. Alles für sage und schreibe 320 Euro kalt. Undenkbar in Wien.
Ein kleiner Wermutstropfen nur: Der Ausblick in den Hof war nicht gerade der beste. Grauer Berliner Wirtschaftsputz, eine sparrige Esche mit Elstern im Winter, spärlichem Grün im Sommer. Und: kein authentischer Altbau, keine Dielen. Nur billige Holzlatten, die ausgerechnet an der Decke klebten und ein klaustrophobisches Saunagefühl verbreiteten.
Jakob grüßte in Richtung einer Gestalt auf der abgewetzten Sofagruppe, durchwanderte den schmalen Pfad zwischen Kicker und wandhohen Bücherregalen, wo sich DJ Kunis tausendstarke Sammlung von Platten, CDs und Achtziger-Jahre-Kassetten staute, nebst Benjamins Red-Bull-Dosenpyramide und Rolfs sogenanntem »Austroquarium«, voll mit den gesammelten Werken Robert Musils, Thomas Bernhards und Elfriede Jelineks, den »Piefke-Saga«-DVDs, verschiedenen Falter-Ausgaben und dergleichen nestbeschmutzerischen Erzeugnissen mehr. Jakob murmelte etwas Unverständliches in Ritas ehemaliges Zimmer hinein, sah ihre zwei neuen, wiederum von Conny herangeschafften österreichischen Nachmieterinnen; zwei großgewachsene Graphiker-Mädels, die sich das Zimmer teilen wollten, bis sie etwas Größeres fanden, idealerweise mit Holzdielen und hohen Altbaudecken. Sie sagten nichts und drehten sich nicht nach ihm um. Sie saßen bloß wie gebannt vor ihren MacBooks, ihr langes, aufgeladenes Haar erleuchtet von einem rosaroten Raster und einer animierten, anscheinend sehr aufregenden Spielfläche voll blinkender Banner und Buttons. Versuchten auch sie zu Hause zu arbeiten, oder waren sie doch eher von zu Hause aus arbeitslos? Man musste Rolf fragen, Rolf von Raulick, der war zuständig für alles, was ein normales Hirn zum Rauchen brachte.
»Yo, Conny?«
Jakob wurde sofort unruhig, als er sie im nächsten Zimmer nicht fand. Sie war ihm in seinen Krisenmomenten immer eine echte Hilfe. Kaum war sie nicht da, lagen die Nerven auf einmal wieder blank – war sie etwa überhaupt nicht mehr hier?
Ächzend navigierte er in die Küche; die stehengebliebene, im Stand aber rasant auslaufende Berliner Zeit, wie aus dem Nichts schlug sie zu, sog ihn auf, zog ihm den Boden unter den Füßen weg und ließ ihn plötzlich durch ein weißlich-trübes Erinnerungsplasma wie Milchschaum strudeln. Er war ein Gefangener in der sogenannten Berliner Milchschaummatrix, wie Rolf es einmal formuliert hatte, durchlebte aufs Neue alle seine alten Sehnsüchte, an ­deren Ende sich jedoch nichts fand als lähmendes Unbehagen – und nicht einmal ein echter Kaffee.

Ein echter Kaffee, der Leben rettet.
Echter österreichischer Kaffee, röstfrisch, direkt aus der Maschine.
Die Maschine knatterte, mahlte, knackste.
Warten.

Irgendwann wurde der Kaffee fertig. Jakob schüttelte neuerlich den Kopf, seine Berliner Pein ab und sich versuchsweise wieder ins rechte Lot.
Neben ihm, auf der ausgehängten Küchentür, klebte der Bikini-Körper der österreichischen Romy-Gewinnerin Mirjam Weichselbraun mit dem collagierten Kopf des Bundeskanzlers Gusenbauer. Das hybride Ungetüm lag auf der grünen Wiese und warb für Spar-Bio-Joghurt. Daneben ein ozeanblaues Windsurfposter. Eine einzige Welle, die in den Himmel lockte, der Surfer darin ein Winzling. Es gab auch Flyer mit Telefonnummern von Pizzalieferanten und Yoga-Lounges, ein Smiley-Sticker von DJ Kuni, die stark vernachlässigte Strichliste für den WG-Mannerschnitten-Rekord.
Zum Kaffee genehmigte sich Jakob ein Säckchen Zucker, aus der edlen, schwarzen Julius-Meinl-Blechdose. Der Anblick der offenen Küchenkästen ließ ihn zurückdenken an seinen ­legendären Anfall, als er die Türen eigenhändig ausgehebelt und aus dem Fenster geschleudert hatte.
Still geworden war es seither.
Wütend zu sein, gab es keine Gründe mehr.
Begeistert zu sein aber auch nicht.
Er glaubte sich momentan geläutert von allen menschlichen Regungen. Er machte vorsichtig Platz am großen Küchentisch, stapelte die Zeitschriften, schob sanft die angesammelten Spreegurkengläser, zwei eingetrocknete Töpfe und einen geöffneten Videorekorder an die Wand. Dort hingen noch einige seiner liebsten typographischen Trophäen, eine alte Wiener Nummerntafel, eine aus Arizona und ein echter Glücksgriff vom Flohmarkt in Schwechat: eine Holztafel mit dick aufgemaltem Spruch. Das Beste an Wien ist der Schnellzug nach Berlin.
Er schlürfte seinen Kaffee und dachte daran. Er starrte durch eine welke Bananenpalme zum Fenster. Dann starrte er auf die Spüle. Verkrustete Putzmittel, verkalkte Fliesen, abgeschabtes, aufgewelltes Resopal, noch mehr Poster. Er wartete, ob die Spüle tropfte, ob es ihn gleich wieder stechen würde.
Nichts geschah.
Keine Berliner Klaustrophobie.
Kein Anfall von Austrophobie.
Jakob glaubte hoffen zu dürfen, dass er das Schlimmste jetzt schon hinter sich hatte. Er ließ seine Flip-Flops unterm Tisch gegen die Wand schießen. Er zog eine alte Surf aus dem Zeitschriftenstapel und begann, einen Zigarettenfilter zuzuschneiden. Er sah die wellenreitenden Pretty Boys, die am Horizont entlangzischten, sich gegenseitig auf den gebräunten Rücken schlugen, die leeren Sandstrände mit Bikini Girls teilten und »thumbs up« zeigten. Es war komisch – wem oder was galt dieses optimistische Zeichen?
Galt es Mirjam Weichselbraun, die gleich aus den Wellen tauchen würde?
Womöglich auch dem Promi-Minister Karl-Heinz Grasser und seiner Fiona Swarovski, Letztere auch im Bikini, die beide nur auf ein solches Zeichen warteten, um sich auf ihrer Yacht ins Bild hineinzuschiffen?
Dann fehlte bloß noch der österreichische Sextourist Josef Fritzl, der aus einer Strandhütte kam und in Bermudashorts seinen Bierbauch zum Besten gab.
Nein, nein! Es fehlte doch nur Conny; Conny, die ihm das alles ausredete und ihm glaubhaft machen konnte, dass es überhaupt ein mögliches Leben nach Berlin gab. Denn Berlin war beschlossene Sache. Oder auch nicht. Jedenfalls waren sie in dieser WG beide Kommilitonen der ersten Stunde, und wenn Conny wegging, dann sicher auch er. Sie warteten nur noch auf den richtigen Moment. Der endgültige Entschluss, aus Berlin wegzugehen, würde so unverhofft und spontan in ihr Leben treten wie der Entschluss vor drei Jahren, hierherzuziehen. Er lag wie ein Kuckucksei in Connys Nest, ein geheimnisvolles Ding, das in aller Stille ausgebrütet wurde auf ihre eigene, undurchschaubare Art.

Einstweilen musste Jakob weiter im Leerlauf umherirren. Er verbriet seine Zeit, mal hier, mal dort, einfach gucken, was alles noch kommt. Er blieb unentschieden, bis zuletzt. Eine Entscheidung über Berlin war unmöglich, bis zuletzt. Das Kommen und Gehen in dieser flüchtigen Stadt war nicht er, sondern um ihn herum.
Er fand sich plötzlich auf der Wiener Straße wieder, alles stand still, und er dachte neuerlich daran, dass er Berlin verlassen wollte; aber dann schien vieles wieder möglich, alles auf der Welt war möglich, immer noch: jungfräulicher Glanz der Straßen, große Häuser, Menschen ohne Scheuklappen, wie am ersten Tag. Wie beim ersten Mal, im großen Teich Berlin.
Es gab neue Clubs zu entdecken in der Revaler Straße. Mädels, nach denen es sich den Kopf umzudrehen lohnte. Ein frischer Wind, der die Lungen auffüllte, null Stress, und alles neu und alles schön.
In Berlin gab es außerdem keine grantigen Omas, die einen mit dem Spazierstock vom Sitzplatz schlugen. Dafür fuhren Busse und U-Bahn die ganze Nacht; oft ging die Party in der U-Bahn oder an der Busstation erst richtig los. Viele äußerst gesellige Amerikaner, Dänen, Franzosen, Deutsche waren hier unterwegs, Bier war immer zur Hand, und wenn man es aus der Hand gab, kam immer einer von Hartz IV und nahm die Flasche wieder mit. Was in Wien aussah wie Müll und sofort weggeräumt wurde, gehörte hier einfach dazu, nicht nur oben in der Wohnung: alte Sofas unter Bäumen, rostige Fahrradkadaver, an Zäune gekettet, und sogar noch im Frühsommer die aufgeweichten Feuerwerkskörper von Silvester auf der Straße. Außerdem ein haushoch gesprayter Alien und ein kleiner, menschenfressender Rabe, an die Ziegelwand im Hof gemalt.
Zu Berlin gehörten auch original Ost-Punks und Penner mit Einkaufswägen an Lagerfeuern, die in den verwilderten Parks bis in die Früh weiterrauchten und Funken in die graublaue Morgendämmerung bliesen.
Und allerorts Neonjacken und glitzernde Flyer.
Und Tag und Nacht eine lange Menschenschlange vor dem Hühnerland, riesige Apple-Plakate am Potsdamer Platz, überall Werbung für Mediamarkt, Audi und VW, und die neuesten Filme auf der Berlinale: Wer einmal in Berlin gewesen war, der wusste, wohin der Hase lief, und dass Österreich immer nur hinterherlief und den Anschluss nicht schaffte.
Die Österreicher, wurde ihm jetzt schmerzhaft bewusst, waren nur Pfuscher, die sich fünf Jahre später als der Rest der Welt mit Ware zweiter Wahl abspeisen ließen. Die sogenannte Zweite Republik, von der Rolf so gerne schwadronierte, war in Wirklichkeit nichts als eine kümmerliche Restpostenrepublik. In Berlin aber wurde die Welt Tag für Tag neu erfunden, und hier entdeckte Jakob sich selbst gerade noch einmal neu. Hier war echtes Leben.
Gewesen.
Er starrte die Wiener Straße auf und ab.
Das war jetzt wortwörtlich seine Straße.
Er schaute aufs Handy.
Es war Zeit.
Es war –

Alpenrepublik
Es wurde viel geredet in der Küche. Dann wurde wieder länger geschwiegen. Das Thema war natürlich Österreich, die bevorstehende Rückkehr in die Heimat, die Conny mehr als ein wenig Angst bereitete. Für den abendlichen Anlass hatte sie sich schwarz und nachtblau gekleidet. Schwarzes Top, dunkle weite Jeans, bleiches Gesicht, ein Nachtgespenst am Küchentisch, das von Angst und Österreich sprach und dabei pausenlos blinzelte.
Niemand in dieser auslaufenden WG befasste sich mehr mit den trivialen Problemen des Putzens, der Untermieten, der Heizkosten und des zittrigen W-LAN-Routers. Der ehemalige Jour Fixe existierte nicht mehr als solcher. Die Kommilitonen befassten sich mit anderen, grundlegenderen Dingen, und das auch regelmäßiger als zuvor. Einem unausgesprochenen Ehrenkodex verpflichtet, fanden sie sich verlässlich ein zu den sogenannten Ösi-Runden: Sie suchten kollektiven Austausch darüber, was sein würde, wenn es so weit war. Keine Kaffeekasse war vonnöten, kein Knabbergebäck, keine studentischen Leselisten, um die Diskussion in Gang zu kriegen. Alle verstanden instinktiv den Ernst der Lage, die sie in immer ­enger werdenden Kreisen und Schlaufen umrundete, von der sie selbst unaufhaltsam ein­gekreist und eingekesselt wurden, bis alles ein fester, fataler Knoten wurde und tief drinnen im Hals feststeckte, dass ihnen im Schattenreich der Küche angst und bange wurde, sogar um die eigene Atmung.
»Also, was mir schon sehr auf den Keks geht, wenn ich jetzt nach Österreich zurück muss«, sagte Conny in die versammelte Ösi-Runde, »ist vor allem eines.«
»I scheiß mi an«, witzelte Kuni versuchsweise, doch ein Zittern, ein gesenkter Tonfall verrieten auch ihn; die Coolness, mit der er an den Plattentellern hantierte, die beachtliche Sorg­losigkeit, mit der er generell in Berlin hantierte, schienen ihn verlassen zu haben. Das alles war jetzt im aufstrebenden Neukölln meilenweit entfernt – unerreichbar. Katja, seine deutsche Freundin und Beraterin, legte ihre Hand verständnisvoll auf seine.
»Ja, Conny, lass es einfach raus. Lass es einfach kommen.«
»Es ist halt so, dass in Österreich jeder jeden kennt. Wenn du bei uns aus dem Ausland zurückkommst, wenn du nicht mehr täglich im Gasthaus jobbst und auch ein Jahr nicht mehr am Kirtag warst oder im Chor gesungen hast, fragen sie gleich, warum und wieso. Sie sind neidisch und hassen dich dafür. Du bist niemand mehr.«
»Alles muss in der Familie bleiben«, postulierte Rolf von Raulick in gewohnt aufrechter Haltung. »Das ist das Problem in Österreich.«
»Siehe euren Josef Fritzl.«
»Geh, hör auf«, schnaubte Jakob über den Tisch. Katja lachte albern zurück, schlüpfte ihm durch die Finger, und er bekam sich selbst kaum in den Griff.
»Siehe euren Karl-Heinz Grasser und euren Jörg Haider.«
»Echt jetzt, hör auf!«
»Die Ausnahme bestätigt die Regel, heißt es doch … «
Rolf sah sich dem Hausfrieden verpflichtet, bemühte sich, das Tagesgeschehen fortzuschieben und einen konzilianten Ton anzuschlagen, was wahrhaftig nicht leicht war. »Es ist schon was dran – dahoam ist dahoam. Bei uns musst du die Leute kennen. Egal, ob du Schweine züchtest oder dich um einen Job in Brüssel bewirbst. Oder beides. Wenn du nicht von Anfang an dazugehörst, sehen sie dich nicht einmal an.«
»Nenn es doch einfach Networking«, bot Katja an.
»Das hat leider überhaupt nichts mit Networking im modernen Sinn zu tun, das geht eher auf die Monarchie zurück. Diese alten Hierarchien leben bis heute weiter. Da ist Österreich einfach noch anders aufgestellt. Der Proporz … «
»In Berlin sind alle immer gleich auf Du, egal, wer du bist. Das finde ich echt angenehm. Bei uns sagen sie sogar im Supermarkt noch ›Grüß Gott‹.«
Jakob fing an, sein Zippo auf und zuschnappen zu lassen, rollte das Rad ungeduldig über den Tisch, begann am Zeitungspapier zu zündeln. Er fühlte sich schäbig. Er sagte nichts, reagierte nicht einmal, wenn Katja arrogant und verletzend wurde, sein Land noch kaputter machte, als es ohnedies schon war. Er lief auch Conny blind hinterher, weil sie so oft Dinge sagte, denen er nichts hinzuzufügen wusste; was aber nicht automatisch hieß, dass sie stimmten.
»Hey, Erde an Jakob: zurückkommen! Bist du verrückt, oder was?!«
»Is eh nur Zeitungspapier.« Jakob hielt die große brennende Zeitungsfahne hoch über den Tisch, dann erst reagierte er, stopfte sie rasch hinter sich in die Spüle, ließ Wasser darüberlaufen und sein Zippo zurück in die Hosentasche gleiten. Conny sah ihn ungläubig an; er grinste zurück und war wieder ganz bei sich.
»Jakob, geht’s noch?!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Sieh mal einer an, wie gut ihr duzen könnt.«
»Klar, in Berlin. Weil hier niemand lange bleibt. Weil wir alle morgen schon wieder woanders sein werden … «

Ein angeschlagenes Husten wollte Rolf von Raulicks Lunge entweichen, er legte sich die Hand auf den Hals und knetete es zurück nach unten. Gerade noch schien es ihm gelungen zu sein, sich herauszureden aus verschiedenen, vorschnell geäußerten Pauschalurteilen über Österreicher, Deutsche und opportunistische Ostdeutsche, und die Aufmerksamkeit der Ösi-Runde wieder auf das unverbindlichere, ihm auch besser vertraute Feld der Politik zu lenken. Aber ausgerechnet die Ostdeutsche Katja wollte ihm nun nichts nachsehen, schon hakte sie wieder nach.
»Die Ösis und die Ost-Göre, jaja! Immer schön in der konstruktiven Zone schwimmen, immer alles schön in die richtige Schublade stecken, Herr Nachbar, so mögen wir’s besonders gern.«
»Echt jetzt, das war gar nicht so gemeint …  ihr nehmt das alles immer gleich so ernst!«
»Wir Deutschen sind ja so ernst. Und wo bleibt dann der österreichische Humor, wenn ich bitten darf?«
Rolf hob seinen Kopf mit geradezu majestätischer Würde, in Erwartung eines zeremoniellen Bekenntnisses zum legendären österreichischen Humor, das aber zu lange auf sich warten ließ; es kam einfach nichts heraus, außer der nächsten Hustenattacke.
Katja lachte ihn offen aus dafür, und er sah sich selbst rot werden. Ja, er wurde rot, vor Katja, ihrer deutschen Kompetenz, einem natür­lichen Korrektiv, das gar nicht erst mit dem Finger zeigen musste, um ihm seine eigene, ur-österreichische Inkompetenz und Impotenz schlagend vor Augen zu führen! Zumal sie als echte Ostdeutsche weltgeschichtlich gleich mehrfach bevorteilt und geadelt war: Sie besaß von Geburt wegen einen uneinholbaren Geschichts-, Erfahrungs- und Lebensvorsprung, war schon mit der Muttermilch politisiert worden, mit 16 beim Mauerfall vorne dabei und reüssierte jetzt im Erwachsenenleben mit ihrer natürlichen Geradlinigkeit, einer funktionalen, fokussierten, aber auch freizügigen Art. Wogegen er mit seinen eigenen, nur halbadeligen Anlagen und halbgaren österreichischen Herkunftsbeigaben bislang zumeist nur das Nachsehen hatte.
Des Übrigen war Katja auch schon mehrmals auf den Salzburger Festspielen gewesen!
Des Übrigen auch schon mindestens dreimal in Wien!
Sie liebte diese Stadt …
Aber über Ostdeutschland dürfte man das nicht sagen, denn das galt als »Ostalgie« – zum Verzweifeln! Tatsächlich schlug sich Rolf jetzt die Hände vors Gesicht, sah dann betrübt auf die Tischplatte, während Katja mit ihren schnippischen Pointen immer noch an den neuralgischen Punkten weiterhämmerte, da, wo es ihm besonders wehtat, an den brillant ­geschliffenen Ecken am Gebäude seines eigenen, historisch-altösterreichischen, gereiften, im Ausland studierten Wissensvorsprungs; nacheinander hobelte sie alles kurz und klein, dass die Späne nur so flogen, und als sie fertig war, stand plötzlich doch wieder die Politik zur Debatte, auf die er sich schon so gefreut hatte. Sie war ein großes, unerfreuliches Monstrum geworden, und warf einen großen schwarzen Schatten voraus.
» … aus!« befahl Rolf, wagte sich jetzt entschieden vor, weiter als ihm selbst lieb war, in einem gleichermaßen herrischen wie verletz­lichem Ton passiv-aggressiver Entrüstung. »Wir sind eben nur Österreicher, okay? Du bist immerhin eine echte Ostdeutsche. Das ist was völlig anderes, das kann man gar nicht vergleichen!«
»Habe ich denn etwas Falsches gesagt?« wunderte sich Katja, und diesmal war es Kuni, der ihre Hand ganz sanft in seinen Schoß zog.

»Sag mal, wie heißen denn gerade die österreichischen Top-Politiker?« wollte sie sich des Weiteren in aller Scheinheiligkeit informieren. Rolf von Raulick riss es beinahe vom Stuhl, er konnte nur noch prusten.
»Top ist keiner von denen, und sie gehen mir alle auf den Geist«, erregte sich Jakob an seiner Stelle.
Rolf schüttelte erregt den Kopf, sein aufwallendes Verantwortungsgefühl war kaum noch zurückzuhalten, dazu seine Pein, sich vor der ostdeutschen Katja noch weiter zu blamieren. Wenn das hier so weiterging, dann könnte er gleich zurück zum Biertisch nach Österreich; was im Übrigen auch der Plan war. Aber noch war es nicht so weit – und er musste jetzt endlich etwas Eindrückliches sagen!
»Darf ich auch mal was dazu sagen?« fragte er, sein Blick in meditative Ferne gerichtet, die Masse des fernöstlich stehenden Kühlschranks ermessend.
»Red einfach weiter«, schnaufte Jakob.
»Der Feind hört mit«, ergänzte Katja.
»Also: Die ganze Ära Klima-Schüssel-Gusenbauer können wir eigentlich im Großen und Ganzen vergessen. Das sind keine Namen, die man sich merken müsste. Nicht einmal Wolfgang Schüssel, der immerhin ein genialer Taktiker war, wird wirklich in die Geschichte der Zweiten Republik eingehen. Und des Weiteren muss ich mich nun selbst korrigieren: Bei solchen Provinzpolitikern überhaupt von einer Ära zu reden, ist wirklich reichlich übertrieben! Grob gesprochen, war der österreichische EU-Beitritt 1995 der letzte nennenswerte Meilenstein in der Entwicklung unseres schönen Landes. Was es an Reformen gab, musste und muss uns von außen aufgezwungen werden. Von innen kommt nichts mehr, denn wir sind ja in der EU – und sehen einfach zu.«
»1995 war also eure Wende«, rekapitulierte Katja.
»So habe ich mir das noch nicht überlegt …  der EU-Beitritt Österreichs war ja eigentlich noch viel tief greifender als eure Wende, würde ich mal sagen … ich meine, gemessen an der Größe des Landes, der Zahl der Einwohner und ihrer geistigen Verfassung … «
»Da schau mal einer an.«
»Natürlich nicht realpolitisch, das ist mir schon klar! Sondern lebensweltlich, psychologisch, tiefenpsychologisch! In Bezug auf das österreichische Gemüt seit 1945.«
»Ich dachte, Österreich ist schon seit 1918 eine Republik. Die Alpenrepublik, heißt es ja.«
»Darüber weiß ich nichts … aber bleiben wir mal im Hier und Jetzt. Also 1945. Gemessen am österreichischen Selbstverständnis der Nachkriegszeit war unser EU-Beitritt wirklich ein unerhörter Paukenschlag. Das de facto Ende der Neutralität, Schluss mit der österreichischen Nabelschau, das Schengen-Abkommen. Erzwungene Einhaltung von demokratischen Mindeststandards, internationale Isolierung der FPÖ im Jahr 2000. Dann 2002 der Euro. Liberalisierung und Privatisierung in der Wirtschaft, schleichende Aufweichung der Sozialpartnerschaft, Personenfreiheit, Menschenrechte, blablabla. Anders als bei eurer Wende muss man natürlich sagen: Es war von langer Hand geplant, und oberflächlich gesehen auch weniger dramatisch. Alle haben ja gewusst: Das kommt. Aber die eigentliche Frage ist: Und was kommt dann?«
»Ja, was?« interessierte sich Conny zumindest ein wenig, denn Rolfs besserwisserisches Gerede hörte sie nicht gerade zum ersten Mal in dieser Runde; und am Ende hatte er das alles vielleicht nicht einmal auf Wikipedia gelesen, sondern plapperte nur ganz beflissen seiner eigenen Mutter nach.
»Gar nichts!« Rolf von Raulick setzte an zu einem flachen Schlag auf den Tisch, ließ die Hand aber im letzten Moment noch sanft landen. »Die Österreicher stehen herum und schauen zu! Was sollten wir, die ehemalige Donaumonarchie, auch mit Europa anfangen? Das weiß bis heute niemand, außer unserer Beamtenelite in Brüssel, den besagten Schweinezüchtern und einer kleinen Handvoll Ost-Bankiers. Außer noch mehr Bürokratieaufbau haben die letzten zwanzig Jahre in Österreich nichts Beachtliches, Markantes oder Wichtiges hervorgebracht! Wirtschaftlich, demokratiepolitisch, gesellschaftlich, außenpolitisch, kulturell, wie auch immer – in Österreich bleibt alles beim Alten, plus ein paar blauen Fähnchen und gelben Sternchen.«
Conny schüttelte den Kopf. »Woher weißt du das denn alles so genau? Du warst die letzten Jahre kaum noch dort.«
»Die Österreicher haben doch die Teleportation erfunden«, erinnerte sich Jakob. »Quantentechnologie und so Zeugs. Das wird jetzt übrigens auch bei High-End-Surfbrettern verwendet.«
»Das wäre ja sehr nützlich, einfach mal so in die Zukunft surfen«, meinte Conny, wohlwollend, wie Jakob fand. Er nahm wieder sein Zippo zur Hand. Conny schüttelte den Kopf. Er ignorierte sie so gut er konnte, ohne sich ihre beruhigende Wirkung zu versagen; dann ließ er gleich mehrmals eine Flamme hochspringen und fuhr mit seinem Handrücken darüber.
Kuni nickte. »Vielleicht gibt es ja etwas, wovon wir noch nicht wissen … «
»Vielleicht, vielleicht«, stimmte Katja schulterzuckend zu.
»Aber was liegt bloß die nächsten zwanzig Jahre vor uns? Das würde ich zu gerne wissen! Irgendwie muss es ja weitergehen, egal, ob in Österreich oder Berlin. Insofern bin ich schon optimistisch.«
»Stimmt schon«, meinte Rolf. »Aber ich fürchte, es wäre ziemlich ernüchternd, die Zukunft Österreichs in zwanzig Jahren zu sehen. Was das betrifft, bin ich eher ein pessimistischer Optimist.«
»In Berlin ist auch nichts als Scheiße«, kam es vom leeren Türstock her, wo Benjamin soeben mit einer Flasche Mate-Limo erschienen war. »Hundstage. Noch mehr Gurkengläser. Ein ganz großer Haufen Dreck.«
Die beachtliche Tragweite dieser Ansichten gab Anlass zu einer allgemeinen Schweigepause. Alle sahen irgendwohin, auf den Tisch, auf die Decke, und Katja auf ihre rostrot lackierten Fingernägel.
»Hebt die Hände!« rief Conny plötzlich, und alle verstanden, verstanden sehr gut. »Hebt die Hände hoch!«
»Wer möchte in Berlin bleiben?« verdeutlichte Kuni, dem Katja diese Variante schon seit einiger Zeit beharrlich näherzubringen versuchte – sie sprach sogar von gemeinsamer Lebensplanung.
»Bleiben oder nicht bleiben, das ist hier die Frage: ja, oder nein? Entscheidet euch!«
Außer Katja hob niemand die Hand.
»Sag ich doch«, sagte Benjamin und wandte sich dem Kicker zu, womit die Ösi-Runde ein weiteres Mal beschlossen und mit rituellem Schwur beglaubigt war.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Fabian Faltin: Sag Ja zu Österreich. Roman. Milena-Verlag, Wien 2013, 264 Seiten, 18,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.