Wie Wohnen zum Horror wird

Wohnst du noch?

Warum es immer schwieriger wird, zu wohnen, und was dagegen getan werden müsste.

Vielleicht liegt es daran, dass nach Hamburg, Köln, Stuttgart, Frankfurt, München und Düsseldorf nun auch in der Hauptstadt Berlin das akademische Bildungsprekariat Schlangen vor überteuerten Mietimmobilien bildet. Jedenfalls ist die Wohnungsfrage mit den bundesweiten Demonstrationen gegen den »Mietenwahnsinn« im November 2012 endgültig im medialen Mainstream angekommen – in Talkshows von Plasberg bis Illner, in der Tagesschau und diversen TV-Po­litmagazinen. Gerne skandalisiert man – der übliche Mittelschichts-Bias im deutschen Journalismus –, dass sich »Normalverdiener« die Mieten kaum mehr leisten können. Den prekarisierten Zuarbeitern der postindustriellen Metropolen hält man selten bis gar nicht die Mikrophone hin. Proteste wie der von »Kotti & Co« in Berlin-Kreuzberg oder der Gagfah-Mieter in Hamburg-Wilhelmsburg und Steilhoop schaffen es selten über den Lokalteil hinaus. In Begriffen wie »abgehängtes Prekariat« oder den »vier A’s« (Arme, Alte, Ausländer, Arbeitslose) gerinnen jene, die von Härten des Wohnungsmarkts am empfindlichsten getroffen werden, zu Bewohnern von »Problemstadtteilen«. Womit sie dann meist auch nicht Teil des Kollektivs sind, das im Fernsehen von sich behaupten darf: Wir können uns das Wohnen nicht mehr leisten.
Aber sei’s drum: Dass überhaupt Gentrifizierung und Segregation der Städte zum Gegenstand einer breiten medialen Diskussion geworden sind, hilft erstmal weiter. Die Lage hat sich in der vergangenen Dekade in der Tat verschärft: 24 Prozent der Haushalte geben heute über 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Miete aus – eine Verdoppelung in zehn Jahren. Bloß: Woher kommt er eigentlich, der »Mietenwahnsinn«?

Ein paar Aspekte, die die Entwicklung forciert haben: Da ist zum einen die Abwanderungsbewegung aus den deindustrialisierten und ökonomisch aufgegebenen Ecken der Republik – Teile des Ruhrgebiets, weite Teile der ehemaligen DDR – in die Metropolen im Süden, Westen und Norden. Da sind zum zweiten veränderte Lebensmodelle, Geschlechterrollen und Arbeitsverhältnisse: Angestellte und Freiberufler, die bis in die achtziger Jahre eher in der Vorstadt mit Eigenheim, Garten, Garage und klarer Rollenauf­teilung leben wollten – Frau zu Hause mit Kindern, Mann fährt in die Stadt zur Arbeit –, ziehen jetzt in »die Quartiere, die noch am ehesten erlauben, die vielfältigen Beanspruchungen durch Beruf und Doppelverdienen und Doppelbelastung und eventuell noch Kinder und Familie zu verbinden«, wie es Stadtforscher Dieter Läpple formuliert.
Umgekehrt ist die Gentrifizierung politisch gewollt und wird machtvoll herbeigeführt: Seit den achtziger Jahren versuchen die westdeutschen Großstädte, aus vernachlässigten, vom Bürgertum aufgegebenen Innenstadtvierteln die sanierte und von Obdachlosen und Junkies befreite »Stadt der kurzen Wege« für die »Wissensnomaden« des gehobenen Mittelstands zu machen, wie Frankfurts ehemalige Bürgermeisterin Petra Roth (CDU) exemplarisch ausführt: »Wenn eine urbane Gesellschaft Stadtgefühl und Heimat vermitteln will, muss es ihr gelingen, Wissensnomaden für mindestens eine Generation an diesen Standort zu binden. (…) Das ist die große kommunalpolitische Aufgabe von bedeutenden Städten in Deutschland.«
Auch die Privatisierung und Ökonomisierung öffentlicher Immobilien und Immobiliengesellschaften seit der Jahrtausendwende hat die Lage auf dem Wohnungsmarkt verschärft. Der Verkauf der Dresdner Wohnungsbaugesellschaft mit 48 000 Wohnungen an die US-Beteiligungsgesellschaft Fortress, die kurz zuvor bereits die bundeseigene »Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten« (Gagfah) mit 88 000 Wohnungen gekauft hatte, gehört zu den Sündenfällen dieser Zeit. Erst am 19. November hat der Bund wieder 13 500 Wohnungen aus Treuhand-Beständen in Berlin, Dresden und Rostock zum Schnäppchenpreis an die TAG Immobilien AG mit Sitz in Hamburg verkauft. Wo Wohnungs­gesellschaften in städtischem Besitz bleiben, haben sie vielfach als cash cow zu fungieren – wie im Falle der Hamburger Saga/GWG, die bis 2012 jährlich 100 Millionen Euro an den Haushalt abzuführen hatte. Mit dem Verkauf von Grundstücken und Liegenschaften zum Höchstgebot mausern sich die Kommunen außerdem zu Playern auf dem Immobilienmarkt, die den Renditedruck erhöhen.
Zu guter Letzt hat die Finanzialisierung der Immobilienwirtschaft – sprich: die Verwandlung der Immobilie von einer ortsgebundenen Investition in ein global handelsbares asset – den Markt extrem dynamisiert. Die Bankenkrise 2008/2009 und die folgende Krise in der Euro-Zone hat die Lage auf dem deutschen Wohnungsmarkt noch verschärft: Wohneigentum in guten Lagen deutscher Metropolen gilt mehr denn je als »Betongold« und teure Neubauvorhaben sind die lukra­tive Alternative zum bis dahin konkurrenzlosen Bürohausbau.

Dass sich die Lage verschärft, belegt eine Studie, die im Frühjahr 2012 eine breite Allianz aus Wohnungsbauverbänden, Gewerkschaften und Mieterorganisationen als Teil einer Kampagne veröffentlicht hat. Das Eduard-Pestel-Institut will festgestellt haben, dass jährlich rund 200 000 Wohnungen zu wenig gebaut werden und dass derzeit über vier Millionen Sozialwohnungen fehlen. Von den 150 000 Wohnungen, die derzeit jährlich neu entstehen, sind ohnehin nur rund 70 000 Mietwohnungen. Mitte der siebziger Jahre baute man über 700 000 Wohnungen pro Jahr. Zur Jahrtausendwende waren es immer noch über 400 000 Wohnungen, darunter rund 175 000 Mietwohnungen.
Noch nicht mal in Hamburg, wo die »Recht auf Stadt«-Proteste seit 2009 das Thema Mieten mit Nachdruck in die Öffentlichkeit gebracht und letztendlich 2011 der SPD zur Alleinregierung verholfen haben, findet eine Wende hin zu einer sozialdemokratischen Stadtentwicklungspolitik statt. Stattdessen strebt die SPD bei Neubauvorhaben einen frei gewählten »Drittelmix« an von jeweils einem Drittel Eigentum, frei finanziertem und gefördertem Wohnungsbau. Eine Drittelgesellschaft ist jedoch reine Fiktion. In Wahrheit haben 52 Prozent der Hamburger Haushalte aufgrund ihres Einkommens Anspruch auf eine geförderte Wohnung. Ähnlich jämmerlich ist die Bilanz bei den Sozialwohnungen: Obwohl der Hamburger Senat 100 Millionen Euro pro Jahr an Mitteln »für den Wohnungsneubau von Mietwohnungen mit Mietpreis- und Belegungsbindungen« aufwendet, verschwinden per saldo jährlich rund 2 000 Sozialwohnungen. Der Neubau von preisgebundenen Wohnungen und der Ankauf von Belegungsbindungen reichen nicht, um den Verlust durch aus der Mietpreisbindung fallende Sozialwohnungen aufzuwiegen.
Sowohl in Berlin als auch in Hamburg versprechen SPD-geführte Regierungen, 6 000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen – die »Steigerung der Wohnungsbaufertigstellungen soll dazu beitragen, dass insgesamt eine Entlastung des Wohnungsmarkts« stattfindet, so der Hamburger Senat. Tatsächlich reichen die Baumaßnahmen bei weitem nicht aus, um der Verdrängung der Ärmeren aus den Innenstädten etwas entgegenzusetzen. Bundesweit sind die Zahlen noch drama­tischer: »Um wenigstens den aktuellen Bestand von 1,6 Millionen Sozialwohnungen zu halten, braucht man jährlich mindestens 130 000 neue Wohneinheiten«, schreiben die Gutachter vom Pestel-Institut. Gebaut werden derzeit jährlich gerade mal 10 000 Stück. Die Hartz-Reformen – früher bekam der Transferleistungsempfänger Wohngeld, heute übernimmt das Amt die Unterkunft – beschleunigen die Gentrifizierung: Weil das Amt die Kosten für die Wohnung nur dann übernimmt, wenn sie den Angemessenheitskriterien entspricht, muss etwa das ältere Paar an den Stadtrand abwandern, wenn die Kinder ausziehen, die Wohnung nicht mehr »angemessen« ist und im inzwischen gentrifizierten Innenstadtviertel nichts mehr zu finden ist.

Was also tun? Vielleicht erstmal die richtigen Fragen stellen. An meiner Tür klebt ein Sticker, auf dem steht: »Was waren Sozialwohnungen?« Obwohl der Aufkleber deutlich weniger gefragt ist als etwa die »Mietenwahnsinn stoppen!«-Sticker, gefällt er mir besonders gut. Denn er ruft die Erinnerung an eine Epoche wach, die der Frankfurter Sozialforscher und Kulturanthropologe Klaus Ronneberger die »funktional-industrielle Vorsorgestadt« nennt. Gemeint ist im Groben die sozialdemokratisch geprägte europäische Metropole bis in die frühen achtziger Jahre, als die Baubehörden noch rigide in den Markt eingriffen, als gemeinnützige oder kommunale Wohnungsbauunternehmen noch Großsiedlungen bauen konnten und sich überhaupt Stadtpolitik noch an vermeintlichen Notwendigkeiten von Produktion und Umschlag orientierte – und man deshalb auch bezahlbare Behausungen für das Proletariat und die untere Mittelschicht für unerlässlich hielt.
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Es gibt kaum Gründe, sich diese Epoche zurückzuwünschen. Die Hausbesetzungsbewegungen der siebziger und achtziger Jahre hatten durchaus recht, wenn sie gegen die Konzepte der autogerechten Stadt, gegen die Kahlschlag-Flächensanierungen, gegen den spekulativen Leerstand ganzer Straßenzüge und gegen den Mietwucher ankämpften, mit denen prekäre Bevölkerungsschichten in unsanierten Altbauten ausgebeutet wurden. Dennoch: Im Umgang mit Grund und Boden und mit dem Immobilienkapital agierte die Stadtentwicklungspolitik seinerzeit vergleichsweise dirigistisch und wohlfahrtsstaatlich – und zeigte, dass sozialer, preiswerter Wohnungsbau möglich ist. Eine Erinnerung, die bisweilen Argumente liefert. In der neoliberalen global city nämlich, die mit anderen Metropolen darum konkurriert, Schaltzentrale einer dezentralisierten, global verstreuten Produktion zu sein, heben Politiker parteiübergreifend die Hände, wenn es um soziale Vorsorge in Wohnungsbau und Bodenpolitik geht: Wie soll das gehen? Können wir nicht! Haben wir keine Mittel für!
Sprich: Die Proteste, die den »Mietenwahnsinn« skandalisieren, richten sich an eine Politik, die selbst zu milderen Eingriffen ins Eigentumsrecht weder willens noch in der Lage ist. Um eine antizyklische Politik auf dem Immobilienmarkt zu erwirken, müssen »Recht auf Stadt«-Aktivisten daher in vielfacher Hinsicht konstruktiv werden. Die Spanne reicht von kleinteiligen, realistischen Forderungen an die Lokalpolitik, wie sie etwa die »Mietenpolitische Fibel« in Berlin formuliert, über den etwas gröberen, grundsätzlichen »Zwölf-Punkte-Plan als Notreißleine gegen Gentrifizierung«, den das Bündnis »SOS St. Pauli« durchsetzen will, bis zu Forderungen nach einer Rekommunalisierung von Stadtentwicklungsprojekten, wie sie etwa im Falle des Neubaugebiets »Mitte Altona« in Hamburg erhoben werden. Aus der Erfahrung, dass stadtpolitische Kämpfe in den vergangenen drei Jahren oftmals anders und erfolgreicher hätten verlaufen können, wenn die Aktivistinnen und Aktivisten über eine alternative Finanzierung verfügt hätten, arbeitet man im Hamburger »Recht auf Stadt«-Umfeld derzeit an der Idee eines revolvierenden kommunalen Investitionsfonds nach dem Vorbild des Salzburger Modells (siehe Seite 5), der die parteiübergreifend konstatierte Alternativlosigkeit zu privaten Investoren beenden soll – und mit dem sich die Frage »Was könnten Sozialwohnungen sein?« ganz neu stellen könnte.
Marxistisch gesprochen: Wer gegen den »Mietenwahnsinn« zu Felde zieht, stößt, wie der Humangeograph Bernd Belina aufgezeigt hat, im Verlauf der Kämpfe zwangsläufig auf die vier Größen, die in die Kalkulation der Mieten eingehen: der Bodenpreis, die Baukosten, der Kredit und der Investorenprofit. Bis zur Abschaffung des Kapitalismus müssen sich »Recht auf Stadt«-Aktivisten wohl oder übel die Mühe machen, hinsichtlich aller vier Größen Forderungen durchzusetzen und politische Alternativen zu entwickeln: Vom Protest gegen städtisch geförderte Bodenpreisspekulationen über Forderungen nach Miet­obergrenzen bis hin zu alternativen Finanzierungs- und Bauherrenmodellen wie etwa dem inzwischen bundesweit aktiven Mietshäusersyn­dikat. A hell of a job.