Die Situation von Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland

Gesundheit für wenige

Arme, Obdachlose und illegalisierte Mi­granten haben häufig keinen Zugang zu regulärer medizinischer Hilfe. Seit sich die Euro-Krise verschärft hat, leben auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger aus EU-Ländern ohne Krankenversicherung in Deutschland. Ein Besuch alternativer medizinischer Einrichtungen, die in Berlin kostenlose Behandlungen für Bedürfige anbieten.

In der Chausseestraße in Berlin-Mitte verspricht die Werbung eines Meditationszentrums: »Die Macht deiner Gedanken wird dich entweder zu einem Bettler oder zu einem König machen.« Links vom Plakat befindet sich die Großbaustelle des BND, rechts das bedeutend kleinere Gesundheits­zentrum der Jenny-De-la-Torre-Stiftung. Hier trifft man die, die es nicht zum König gebracht haben.
Mamoon Tariq etwa, der im Erdgeschoss vor der Praxis auf Behandlung wartet. Der 32jährige stammt aus Pakistan, hat einen norwegischen Pass und ist erst vor drei Wochen aus Frankreich nach Deutschland gekommen. Er macht sich Sorgen, dass er sich eine Lungenentzündung eingefangen hat. »Für Menschen wie mich, die auf der Straße leben, kann das ziemlich gefährlich werden«, weiß er. Im Behandlungszimmer kann ihn der ehrenamtlich arbeitende Arzt aber beruhigen: Eine Packung Aspirin dürfte erst einmal genügen.
Im ersten Stock gibt es Mittagessen. »Engel«, so nennen ihn Bekannte und Freunde, sitzt über einem Teller Nudeln. Er hat blassblaue Tätowierungen am Unterarm und einen frischen Handverband. Zuvor hat er sich im Erdgeschoss eine Wunde verbinden, Parasiten vom Kopf entfernen und sich seine Tabletten gegen Epilepsie geben lassen. Wie Mamoon Tariq kann er nicht in eine normale Praxis. Ihm müssten irgendwann beim Schlafen in der S-Bahn Ausweis und Versicherungskarte gestohlen worden sein, erzählt er.
Auch Karsten, der am Nebentisch sitzt, hat billige Tätowierungen am Unterarm und »keine rosige Vergangenheit«. Er wird hier derzeit wegen eines offenen Fußpilzes und Krätze behandelt. Seit acht Jahren lebt er auf der Straße, er ist ebenfalls weder krankenversichert noch besitzt er einen Ausweis. Weil vielleicht ein Haftbefehl da draußen auf ihn warte, traut er sich nicht, einen neuen Ausweis zu beantragen. »Passiert halt«, sagt er lapidar, »ich hatte eine eigene Wohnung und alles. Dann ist die Firma pleite gegangen und tschüss. Alles weg«.
Schätzungsweise 300 000 Menschen leben in Deutschland ohne Krankenversicherung. Viele von ihnen sind Obdachlose, ehemalige Freiberufler, Migranten aus alten und neuen EU-Ländern, Illegalisierte, Langzeitstudenten, vom Jobcenter Gesperrte. Das Gesundheitszentrum, das von der deutsch-peruanischen Ärztin, Dr. Jenny De la Torre Castro 2006 gegründet wurde, ist nur eine von mehreren Stellen in Berlin, in denen Bedürftige eine kostenlose Grundversorgung bekommen können. Vor allem Obdachlose kommen hierher, es gibt eine Arzt- und eine Zahnarztpraxis, überdies wird psychologische, rechtliche und soziale Beratung angeboten. Wie fast alle Einrichtungen dieser Art ist auch diese auf private Spenden und ehrenamtliche Mitarbeit von Ärzten angewiesen. In Notfällen muss der Patient an Krankenhäuser überwiesen werden. »Es kommen immer mehr Menschen zu uns. Die Situation ist kritisch«, fasst Guido Minauro, Krankenpfleger in De la Torres Gesundheitszen­trum, die derzeitige Lage zusammen. Einen der Gründe für den großen Zulauf sieht er darin, dass sich viele Menschen nach der Gesundheitsreform 2007 eine Rückkehr in die Krankenkasse nicht leisten können – denn sie müssten rückwirkend hohe Beträge zahlen. »Es gibt aber auch immer mehr arme junge EU-Bürger, die nicht krankenversichert sind«, beschreibt Minauro die jüngste Entwicklung. Seit einem Jahr sind ausländische EU-Bürger auf Jobsuche von Sozialhilfe ausgeschlossen. »Es kommen ja nicht nur gut ausgebildeten Menschen aus den Krisenländern hierher. Wir bekommen das hier unmittelbar zu spüren«, sagt Minauro.

Vor der Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof ist die Atmosphäre angespannt. Wie die Jenny De la Torre-Stiftung bietet diese Einrichtung gewisse medizinische Behandlungen kostenlos an. Das Pflaster hier ist aber wesentlich rauer. Gerade brechen zwei Betrunkene eine Schlägerei vom Zaun, einer der Beteiligten landet nach einem Kinnhaken auf dem Gehsteig. Sofort fährt ein Polizeiwagen mit Blaulicht vor, Handschellen klicken, Personalien werden aufgenommen.
Die schummrige Kantine bietet heute Kartoffel­eintopf – wer Hartz IV bezieht, muss 50 Cent bezahlen. Von hier führt ein schmaler Gang zur Arztpraxis. Ein Gast schläft auf den Stühlen. De la Torre Castro hat früher hier gearbeitet. Heute arbeitet hier drei Mal in der Woche Anna-Maria Thomae als leitende Zahnärztin. »Nicht die Ratio, sondern der Schmerz bringt die Leute zu mir, wenn sie es gar nicht mehr aushalten«, sagt die Ärztin, die 1981 aus Rumänien nach Deutschland gekommen ist.
Mit ihrer Arbeit sieht sich Dr. Thomae gleich mehrfach in der Zwickmühle: »Wir dürfen hier nur die einfachsten Zahnprothesen implantieren und die einfachsten Behandlungen durchführen.« Von einem echten Ersatz für reguläre medizinische Versorgung könne kaum die Rede sein. »Außerdem zahlt der Berliner Senat nur für deutsche Obdachlose eine Behandlungspauschale. Ausländische Bürger müssen an die Malteser Migranten Medizin verwiesen werden«, sagt sie. Schließlich hält die Ärztin das Problem der Versicherungspflicht für ein »sehr brenzliges Thema, das aber keinen interessiert. Es ist verrückt, dass seit 2007 jeder versichert sein muss, aber vielen Menschen die Krankenversicherung gerade durch die Versicherungspflicht unmöglich gemacht wird.« Dr. Thomae empört sich über diese »Doppelbödigkeit« und fordert: »Die Politik muss sich darum kümmern, dass sich das ändert.«

Im Büro der Malteser Migranten Medizin klingelt das Telefon. Dr. Adelheid Franz lässt die Gabel mit dem Kuchen sinken, mit dem sie und ihre Kollegen gerade ihr zwölfjähriges Jubiläum feiern. Es ist ein Anruf von einem Berliner Bezirks­amt: Man habe einen kranken Jungen ohne Krankenversicherung, die Eltern sprächen kein Deutsch, der müsste untersucht werden. »Na, dann schicken Sie ihn her«, sagt Franz. Heute ist Kindersprechstunde, Dutzende Kinderkrankenakten liegen ausgebreitet vor ihr auf dem Tisch.
Noch nie seit ihrer Eröffnung sei die Einrichtung so stark besucht wie jetzt, erzählt Franz, die das Projekt in Berlin-Wilmersdorf im Jahr 2001 in einer Praxis mit zwei kleinen Zimmern ins Leben gerufen hat. Inzwischen wechseln sich 15 Ärzte acht verschiedener Fachrichtungen in sieben Räumen ab. »Das sucht in Europa seinesgleichen«, sagt Franz. »Immer mehr Fälle können wir hier vor Ort kostenlos oder sehr günstig behandeln, anstatt an andere Einrichtungen überweisen zu müssen.« Für letztgenannten Fall hat ihre Praxis ein Netzwerk von über 200 Ärzten und Krankenhäusern, in dem anonym und kostengünstig behandelt werden kann. Die Malteser Migranten Medizin gibt es heute in 13 Städten.
Auch Menschen ohne Aufenthaltsstatus haben eigentlich ein Recht auf Behandlung akuter und schmerzhafter Erkrankungen. Aus Angst davor, entdeckt und abgeschoben zu werden, vermeiden sie es aber so lange wie möglich, sich einen Krankenschein vom Sozialamt ausstellen zu lassen. Drängend ist das Problem der Krankenversicherung für Illegalisierte vor allem seit den neunziger Jahren, nach der Änderung des Grundgesetzes sowie der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
»Auch der Senat erkennt inzwischen, dass unsere Arbeit akut notwendig ist«, sagt Dr. Franz, »unsere Praxis ist inzwischen fest etabliert.« Tatsächlich steigt die Zahl der Personen, die hier behandelt werden, stetig – allein im vergangenen Jahr um 2 500 Patienten. Auch die soziale Zusammensetzung der Menschen, die in dem unscheinbaren Gang im ehemaligen Schwesternwohnheim Platz nehmen, ändert sich: Zu Beginn der Euro-Krise beziehungsweise im Jahr der letzten EU-Osterweiterung 2007 machten Illegalisierte mit 74 Prozent noch den weitaus größten Teil der Behandlungen aus. Aus dem EU-Ausland kamen damals nur 13 Prozent der Patienten. Heute kommt mehr als jeder zweite Besucher aus einem Mitgliedsstaat der EU, nur noch 36 Prozent sind Illegalisierte.
»Alleine könnte ich das natürlich nicht mehr bewältigen«, sagt Franz, »aber zusammen schaffen wir das, mit Mühe und Not.« Auf die Frage, ob sie sich als Lückenbüßerin für Versäumnisse der Politik fühle, lacht sie und schüttelt den Kopf: »Ich fühle mich als Ärztin. Medizin ist weder Politik noch Geschäft.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Das sollte sie zumindest nicht sein«. Politische Ambitionen habe sie keine: »Ich habe nicht den Anspruch, die Welt zu verbessern oder die Politik zu verändern.«

Im Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Kreuzberg ist wie jeden Montag und Donnerstag Sprechstunde. Die ersten Hilfesuchenden tauchen bereits eine Stunde vorher im Mehringhof auf, huschen leise ins Treppenhaus und nehmen im Flur im zweiten Stock Platz. Unter den vielen Migranten aus afrikanischen Ländern befinden sich auch zwei osteuropäische Frauen in bunten Kleidern. Als Ella und Nils den Gang entlanglaufen und die Tür zum »Medibüro« aufschließen, kommt Bewegung in die wartende Menge. Erwartungsvolle, unsichere Blicke richten sich auf die beiden, die heute die Sprechstunde übernehmen.
Im winzigen Beratungszimmer stehen ein Schreibtisch mit Telefon und ein paar Schränkchen – mehr nicht. Wie die Malteser Migranten Medizin verfügen auch die Leute vom selbstorganisierten Medibüro über Spendengeld und ein Netzwerk von engagierten Ärzten, die günstig oder kostenlos behandeln. Rund 120 Kontakte sind es im Moment. Angesichts von 15 bis 25 Hilfesuchenden pro Sprechstunde sei das »eigentlich immer zu wenig«, erzählt Ella.
Seit sie 2006 dazu stieß, sei die Arbeit deutlich mehr geworden, sagt sie: »Früher hat man sich auf dem Plenum einfach in den Dienstplan eingetragen, ohne groß nachzudenken. Länger als zwei Stunden hat das hier nicht gedauert.« Heute dauere der Bürodienst bis zu vier Stunden und es müsse noch Arbeit mit nach Hause genommen werden. Ob die Zahl der Bedürftigen insgesamt steige oder einfach die Einrichtung immer bekannter werde, sei aber schwer zu sagen.
Das »Medibüro« wurde als solidarische Antwort auf die Lage von Asylsuchenden in den neunziger Jahren gegründet – nur zwei Jahre nach dem Hamburger »Medibüro«, das bereits 1994 ins Leben gerufen worden war. Aus linken Kreisen entstanden, wurde politische Öffentlichkeitsarbeit im Medibüro stets groß geschrieben. »Unser Dilemma war aber, dass uns die praktische Arbeit in den letzten Jahren so eingenommen hat, dass für politische Aktionen kaum noch Kapazitäten blieben«, erzählt Ella. Durch ein eigenes Polit-Plenum soll sich das jetzt ändern.
Das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen, wird hier sehr deutlich ausgesprochen: »Wir wollen keine Parallelstrukturen und keine Hinterzimmermedizin. Wir fordern reguläre medizinische Versorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen«, sagt Ella: »Unser Kollektiv wird seitens der Politik oft als die Lösung des Problems dargestellt. Das ärgert uns besonders, weil nur eine politische Lösung tatsächliche Besserung bringen kann.«
Die zunehmende Akzeptanz paralleler Gesundheitsversorgung, die sich etwa in den Bundesverdienstkreuzen für De la Torre Castro und Dr. Franz ausdrückt, habe demnach auch ihre Schattenseiten: »Es zeigte sich allerdings«, schrieb das Berliner »Medibüro« schon 2006 in einen Rückblick, »dass die staatlichen Stellen mit der Einrichtung der diversen Büros für medizinische Flüchtlingshilfe recht zufrieden schienen. Die anfangs befürchtete Repression und Kontrolle fand nicht statt, nach und nach verwiesen immer mehr öffentliche Stellen auf die Möglichkeit der medizinischen Versorgung durch die Medibüros.«
Der Unterschied zwischen Notfallbehandlungen und einer echten Krankenversicherung bleibt trotz zivilgesellschaftlicher Initiativen natürlich eklatant. Deutlich werde das etwa bei schwangeren Migrantinnen ohne Krankenversicherung: »Wenn sie entbinden wollen, müssen sie sich mit Wehen vor das Krankenhaus vorfahren lassen, was eine sehr stressvolle Situation ist. Wichtige Voruntersuchungen können so nicht gemacht werden. Auch das Krankenhauspersonal reagiert nicht begeistert, weil es am Ende oft auf den Kosten sitzen bleibt«, erzählt Ella.

Derzeit sind auch viele Menschen aus Bulgarien und Rumänien von fehlender Krankenversicherung betroffen. Rund ein Drittel der Patienten im Berliner Medibüro kommt aus den neuen EU-Ländern. Bei Amaro Foro e. V., der Anlaufstelle für Roma in Neukölln, erlebt Anna Schmitt die Problematik jeden Tag: »Von den 50 Menschen, die bei uns pro Woche Rat suchen, haben tatsächlich die allerwenigsten eine Krankenversicherung.«
Im Gegensatz zum rassistischen Grundrauschen in der gegenwärtigen Debatte um »Armutszuwanderung« legen Anna und ihr Kollege Georgi aber Wert darauf, die Ursachen für diesen Missstand zu beleuchten. Einerseits werde es den neuen EU-Bürgern derzeit noch unmöglich gemacht, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit in Deutschland zu finden und darüber gesetzlich versichert zu sein, andererseits würden Roma auch in ihren Herkunftsländern diskriminiert und von geregelten Arbeitsverhältnissen oder Sozialleistungen ausgeschlossen – die europäische Gesundheitskarte mit Zugang zu Notfallbehandlungen haben deshalb viele nicht. »Hier und in den Herkunftsländern fehlen die Informationen, wie das deutsche und europäische System der Krankenversicherung funktioniert«, kritisiert Georgi, der Anfang 2012 aus Bulgarien nach Berlin kam.
Bei Amaro Foro befürchtet man, dass das oft überzeichnet dargestellte »Roma-Problem« in diesem Jahr zum Wahlkampfthema gemacht wird. »Es ist klar, dass eine mangelnde Informationspolitik und die Beschränkungen des Arbeitsmarktes viele Probleme erst geschaffen haben«, sagt Georgi. Und auch die Furcht vor einer neuen Einwanderungswelle 2014, nach Aufhebung der Arbeitsmarktbeschränkungen, sei irrational: »Leuten, die in ihren Herkunftsländern in einer so verzweifelten Lage sind, ist es egal, wie die politischen Regelungen hier im Detail aussehen.«
Aus Sicht der beiden Amaro-Foro-Mitarbeiter kann auch die Malteser Migranten Medizin keine Alternative zu einem regulären Krankenversicherungsschutz sein. Vor allem, da die karitative Praxis im Berliner Westen inzwischen gleichsam ein Monopol auf bestimmte Behandlungen habe: »Es kann nicht gut sein, bei gesundheitlichen Fragen von bestimmten Ärzten und ihrer Gunst abzuhängen«, meint Anna.