Bildung und Ausfälle

Berlin Beatet Bestes. Folge 184. Big Bill Broonzy: When Will I Get to Be Called a Man (1955)

Letztens in Neukölln. Auf dem Boden hockend und vornüber gebeugt, stecke ich meinen Kopf in eine Kiste im hintersten Winkel eines Plattenladens. Konzentriert durchkämme ich die Blues-Sparte, ziehe Platte um Platte heraus, drehe jede um und scanne die Informationen. Das Internet weiß alles, scheint heutzutage die vorherrschende Meinung zu sein. Dabei hat es bisher nur ein geringer Prozentsatz der gedruckten Werke unserer Vergangenheit geschafft, in der digitalen Welt verfügbar zu sein.
Deshalb lese ich lieber Linernotes und was sonst noch auf den Rückseiten der Platten steht: Erscheinungsjahr, Labelnamen und die Namen der beteiligten Musiker. Die Wiederveröffentlichungen von Jazz- und Bluesplatten der fünfziger bis achtziger Jahre bilden mich sozusagen im Plattenladen weiter. Mit Blues kenne ich mich noch nicht so doll aus, da muss schon noch die eine oder andere Platte umgedreht werden.
Versunken in diese Beschäftigung, werde ich plötzlich aufgeschreckt. Der Besitzer des Plattenladens spricht laut am Telefon. Jetzt legt er auf, seine Stimme wird noch lauter: »So eine verdammte Scheiße! Gestern Abend ist der Sohn von einem Freund von mir hier am ­U-Bahnhof Hermannplatz angestochen worden. Das ist ein so lieber Typ, der tut keinem was. Das ist so gemein. Es wird hier in Neukölln immer schlimmer! Und niemand macht was! Die Bullen gucken einfach weg! Ich werd’ noch zum Rassisten! Ist mir scheißegal! Ich hasse diese Typen! Am liebsten würd ich ’ne Bürgerwehr gründen!«
Mittlerweile schreit er aus vollem Hals. Außer mir sind zwei weitere Kunden im Laden. Der eine guckt betreten weg und verabschiedet sich dann schnell. Der andere schweigt. Ich erhebe mich und gehe zum Tresen. Hat ja so keinen Sinn, weiter nach Blues-Platten zu suchen. Ich kenne den Besitzer nur flüchtig. Ich halte ihn nicht für einen Rassisten, aber jetzt redet er so. Er meint Türken und Araber und »die Ausländer«. »Seit 25 Jahren wohne ich hier und es wird immer schlimmer! Die halten uns Deutsche alle für Opfer. Aber ich hab keine Angst vor denen. Wenn mich einer anmacht, sag’ ich: was willst du, Scheißkanake?« Mit ganz ruhiger Stimme sage ich: »Das tut mir sehr leid, was da passiert ist. Ist wirklich scheiße. Als Erwachsener hat man ja kaum mit Gewalt zu tun und ich fahre ja auch nachts an allem nur vorbei. Aber es sind auch nur Jugendliche, die Ärger machen. Wie viel Ärger hast du mit erwachsenen Türken? Gar keinen. Und klar, sie kümmern sich zu wenig um ihre Kinder. Aber das war in Arbeiterbezirken schon immer so. Das hat nichts mit der Nationalität zu tun.« Als er antwortet, hat er sich merklich beruhigt und später entschuldigt er sich auch für seine Ausfälle. Ich kaufe ihm sogar noch eine Platte ab. Big Bill Broonzys »When Will I Get to Be Called a Man« ist ein bekannter antirassistischer Bluessongs: »When I was born into this world, this is what happened to me/I was ­never called a man, and now I’m fifty-three.«