Mauricio Weibel im Gespräch über die Geheimdienste und die Aufarbeitung der Militärdiktatur in Chile

»Chile steht noch viel bevor«

Vor 40 Jahren errichtete das Militär in Chile eine Diktatur, deren Folgen bis heute spürbar sind. Der Journalist Mauricio Weibel wollte das Leben internationaler Korrespondenten zur Zeit der Militärdiktatur (1973–1990) dokumentieren. Bei seinen Recherchen stieß er auf ein Archiv der Geheimdienste. Mit seinem Kollegen Carlos Dorat verarbeitete er das Material in dem Buch »Asociación ilícita. Los archivos secretos de la dictatura« (Widerrechtlicher Zusammenschluss. Die Geheim­archive der Diktatur). Einige Monate nach der Veröffentlichung im Oktober 2012 kam es bei Weibel und weiteren Journalistinnen und Journalisten zu Einbrüchen, Verfolgungen und Drohanrufen. Weibel vermutet, dass es sich um Einschüchterungsversuche wegen der journalistischen Recherchen handelt. Seine Familie und er leben auf unbestimmte Zeit unter Polizeischutz. Mit der Jungle World sprach er über seine Arbeit und seinen Verdacht.

Die Staatsanwaltschaft sagt, sie habe bisher keinerlei Hinweise auf die Täter. Sie selbst ­haben in einem Artikel in der Zeitschrift The Clinic hingegen mehrere mögliche Gründe für die Vorfälle genannt.
Ich habe drei Szenarien beschrieben. Die erste Vermutung ist, dass es gewöhnliche Diebstahldelikte waren, die sich zufällig am gleichen Tag in den Häusern von drei Journalisten ereignet haben und bei denen ausschließlich Computer, Festplatten und USB-Sticks gestohlen wurden. Das wäre ebenso seltsam wie unwahrscheinlich. Meine zweite ist, dass ehemalige Geheimdienstmitarbeiter aus Zeiten der Diktatur dahinter stecken. Auch das ist kaum anzunehmen, denn die wären inzwischen schon 70 oder 80 Jahre alt. Und die dritte Hypothese, die wahrscheinlichste und besorgniserregendste zugleich, ist, dass es sich um Mitarbeiter des heutigen militärischen Geheimdienstes handelt. Das ist ungeheuerlich, aber plausibel.
Warum plausibel? Was wären die Motive?
Alle betroffenen Journalisten hatten zum Tod des ehemaligen chilenischen Präsidenten Eduardo Frei Montalva (1911–1982) recherchiert. Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass er während der Diktatur mit Chemikalien vergiftet wurde. Die Ermittlungen dazu laufen und es könnte ungemütlich für das chilenische Militär werden, da seine Angehörigen als Hauptverdächtige gelten. Natürlich ist heute längst bekannt, in welchem Ausmaß die chilenischen Streitkräfte Menschen verschwinden ließen, folterten und ermordeten. Dennoch müssten sie nun erstmals erklären, warum sie mit Frei auch einen Präsidenten im Ruhestand beseitigten mussten. Auch brasilianische Militärangehörige und die CIA sollen in diesen Mord verwickelt gewesen sein. Wir erwarten noch in diesem Jahr das richterliche Urteil.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Geheimdienste der Militärdiktatur, die Dina und der CNI, nicht nur bei solchen Operationen eine zentrale Rolle spielten, sondern das staatliche Handeln insgesamt viel stärker beeinflusst haben als bisher angenommen.
Es hat mich schon überrascht, in den Archiveinträgen zu sehen, wie groß der Einfluss der Geheimdienste auf die Politik war. Die Dina und später der CNI behielten es sich zum Beispiel vor, die Ernennung jedes öffentlichen Angestellten, jedes Funktionärs zu autorisieren. Alle personellen Wechsel mussten ihnen vorab mitgeteilt werden. Die Geheimdienste kontrollierten auch Diplomaten und alle im Exil lebenden Chilenen. Sie hatten eine bis dato kaum vorstellbare Machtfülle.
Doch woran lässt sich festmachen, dass auch die Führung der Diktatur mit diesen Praktiken vertraut war, so dass die Geheimdienste, wie Sie schreiben, »stets aus dem Herzen des Institutionalismus heraus handelten«?
Im Archiv sind regelmäßige Treffen der stellvertretenden Minister im Hauptquartier der Dina und des CNI dokumentiert. Dort wurde die gesamte repressive Politik, psychologische Kriegsführung und Folter, koordiniert. Der chilenische Staatsapparat folgte zu dieser Zeit keiner zivilen Logik, sondern sah die Welt aus einer militärischen Perspektive. Wir haben Notizen gefunden, die zeigen, dass danach sogar Fußballspiele und das Fernsehprogramm geplant wurden. Beeindruckend.
Machen diese Einblicke eine Neubewertung der chilenischen Diktatur nötig? In Argentinien wird ja bereits seit längerem von einer militärisch-zivilen Diktatur gesprochen, während in Chile viele Politikerinnen und Politiker, die nicht dem Militär angehörten, so tun, als hätten sie von Menschenrechtsverletzungen nichts gewusst.
Ja, die Behauptung, von nichts gewusst zu haben, ist nicht länger haltbar. Der Staat unterdrückte zu dieser Zeit ganz gezielt seine Bürger. Die Minister wussten Bescheid über den Plan Condor, der die Militärpolizei Südamerikas koordinierte, um den Widerstand der Linken zu brechen. Es gab in Chile Staatssekretäre, die ganz gezielt Folterer kontaktierten, damit sie den politischen Gefangenen bestimmte Fragen stellen.
Gibt es darunter auch Politiker, die bis heute aktiv sind?
Ein ehemaliger stellvertretender Innenminister unter Pinochet, Alberto Cardemil, ist heute Fraktionssprecher der Regierungspartei Renovación Nacional (Nationale Erneuerung) im Parlament. Er hat nachweislich dem Geheimdienst Informationen zugespielt, die dieser dann für die Kriminalisierung und Verfolgung von Mitgliedern der »Vicaria de la Solidaridad«, einer katholischen Menschenrechtsinitiative, nutzte. Wie er wussten die meisten zivilen Regierungsmitglieder zudem detailliert Bescheid darüber, was geschah, kollaborierten oder schauten weg. Die meisten machten nach dem, was im Archiv dokumentiert ist, jedoch aktiv mit.
Um die Aufarbeitung der Diktatur scheint es nicht sonderlich gut bestellt zu sein, wenn ­Denunzianten wie Cardemil bis heute wichtige Posten innehaben können.
Ich finde die derzeitige Situation unerträglich. Es ist auch beschämend, dass Präsident Piñera beim kürzlichen Besuch von Angela Merkel in Chile zwei ehemalige Außenminister von Pinochet eingeladen hatte. Ich glaube, was die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte angeht, steht Chile noch viel bevor. Es ist schwierig, da voranzukommen, eben weil viele Beteiligte bis heute öffentliche Ämter ausüben. Sicher gibt es positive Beispiele, wie die Verurteilung des früheren Geheimdienstleiters Manuel Contreras. Aber das ist insgesamt viel zu wenig angesichts der massenhaften Ermordung von Menschen während der Diktatur.
Viel zu wenig getan habe auch die chilenische Linke, als in Chile über die Rückkehr zu einer demokratischen Ordnung diskutiert wurde, schreiben Sie. Warum?
Im Archivmaterial sind bereits für das Jahr 1984 Einträge zu finden, denen zufolge Beteiligte ein Ende der Diktatur prognostizieren. Die damaligen politischen Entscheidungsträger beginnen, einen Ausweg zu planen. In den folgenden Jahren erzwingen sie eine ganz bestimmte Form des Übergangs und es gelingt ihnen, zum Abschied sogar noch eine bis heute gültige Verfassung zu schreiben. Die linke Opposition hat zu dieser Zeit einfach Angst, fordernd aufzutreten, und verschätzt sich bei den Verhandlungen. Die Konsequenz ist, dass das linke Regierungsbündnis der Concertación diese restriktive Verfassung nach ihrem Wahlsieg im Jahr 1990 jahrzehntelang schweigend mitträgt. Erst die sozialen Proteste seit 2011, vor allem die Demonstrationen der Studierenden, drängen heute wieder stärker auf eine Verfassungsänderung.
Und auf eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Auch diese und das angebliche Wirtschaftswunder gehen ja auf die Diktatur zurück. Anfang der achtziger Jahre zweifelten die Machthaber, wie Sie schreiben, sogar selbst am Erfolg der neoliberalen Reformen und wollten jegliche öffentliche Demonstration gegen die ökonomische Rezession sofort unterbinden.
Wenn man sich die Zahlen von 1990 anschaut, dem letzten Jahr der Diktatur, lag die Arbeitslosenquote bei 15 Prozent und die Inflationsrate bei 30 Prozent. Das ist kein Wirtschaftswunder, sondern ein Desaster. Dass es unter Pinochet einen ökonomischen Aufschwung gab, wird ja schon längere Zeit in Frage gestellt. Mich hat eher überrascht, wie umfassend und akribisch jegliche kritische Wortmeldung und Demonstration zu diesem Thema dokumentiert wurde. Alles wurde genau gemessen und erfasst – wie viele Demonstrationen, Teilnehmer, Verletzte und Tote es jeweils gab. Das erinnert ein wenig an Hannah Arendts »Banalität des Bösen«: Tagsüber töteten sie Menschen, abends tranken sie Bier.
In Ihrer Familie gibt es zahlreiche Fälle von sogenannten verschwundenen Verhafteten. Ihre Mutter war eine der Mitbegründerinnen der chilenischen Menschenrechtsbewegung. Heute, da Sie wegen Ihrer Publikationen von Unbekannten angegriffen werden, stellt sich auch die Frage, inwiefern sich Chile wirklich von der politischen Repression verabschiedet hat.
Wir leben heute natürlich in einer anderen Welt, aber dennoch besteht die repressive Logik fort. Es mangelt an demokratischem Denken, nicht nur in den Institutionen, sondern auch seitens der Chilenen. Dass viele Abgeordnete stolz darauf waren, Augusto Pinochet wiederzuhaben, nachdem er im Jahr 2000 in Europa nur knapp einer Anklage wegen Völkermordes entgangen war, ist die eine Seite. Dass sich in Chile niemand empört, wenn soziale und ökonomische Menschenrechte mit Füßen getreten werden, die andere. Die Ungleichheit in Chile ist erdrückend. Selbst wenn wir nach absoluten Zahlen auf dem Niveau von Portugal liegen, gibt es in Chile weiterhin viele Fälle von Armut und extremer Armmut. Auch daran muss sich etwas ändern, um von einer minimalen Achtung und Anerkennung der Menschenrechte in Chile sprechen zu können.