Die Situation älterer Inhaftierter in deutschen Gefängnissen

Den Riegel vorgeschoben

Auf Inhaftierte, die sich im Rentenalter befinden, sind deutsche Gefängnisse kaum vorbereitet.

Die Zahl der älteren Inhaftierten steigt in Deutschland seit Jahren rapide. Zwischen 1994 und 2005 hat die Zahl der männlichen Inhaftierten, die über 60 Jahre alt sind, dem Statistischen Bundesamt zufolge um mehr als 200 Prozent zugenommen. In der Öffentlichkeit wird diese Entwicklung meist mit dem allgemeinen demographischen Wandel in der Bundesrepublik in Verbindung gebracht. Ob es sich tatsächlich schlichtweg um eine Folge des Alterns der Bevölkerung handelt, wird kaum erörtert. Ein veränderter Umgang mit »Alterskriminalität«, die immer rigidere Verurteilungspraxis der Gerichte und die größeren Kapazitäten der Gefängnisse können diese Entwicklung ebenfalls begünstigen.

Mittlerweile beschäftigen sich auch die Justizvollzugsanstalten (JVA), soziale Einrichtungen, Strafrechtler und Sozialwissenschaftler mit dieser Situation. Diskutiert wird seitens der Behörden beispielsweise, ob ältere Inhaftierte getrennt untergebracht werden sollten, wie in Singen am Bodensee. Dort befindet sich eine Außenstelle der JVA Konstanz, im bisher einzigartigen »Seniorenknast« sind etwa 40 über 62jährige inhaftiert. Es sollen eine stärkere Außenorientierung des Vollzugs sowie mehr Freizeit- und Reintegrationsmaßnahmen als im allgemeinen Vollzug gewährleistet werden. Mehrere JVA besitzen spezielle Trakte für ältere Menschen, ein übergreifendes Konzept gibt es bislang jedoch nicht.
Dieter Wurm, Redakteur der Gefangenenzeitung Der Lichtblick, hat die vergangenen zwölf Jahre in der JVA Tegel in Berlin verbracht, mittlerweile ist er 55 Jahre alt. In Tegel sitzen derzeit mehr als 50 Gefangene, die über 60 Jahre alt sind, sollte er nicht vorher entlassen werden, wird auch Wurm in ein paar Jahren zu ihnen gehören. Eine getrennte Unterbringung unter Älteren ist für ihn jedoch nicht vorstellbar: »Ich würde es mir nicht wünschen. Die Haft als solche bedeutet schon Unfreiheit und da als alter Mensch behandelt zu werden, ist natürlich teilweise unangenehm.«

Er beobachtet, dass ältere Mitgefangene sich immer stärker in ihre Zellen zurückziehen, um die mit Lärm und Stress verbundenen Situationen in der klassisch »jungen« Umgebung zu meiden. Dazu gehört zum Beispiel der Hofgang, für viele Gefangene ist er die einzige Möglichkeit, Freizeit außerhalb der Zelle zu verbringen. Wurm glaubt, die alten Männer wollten in der Regel einfach ihre Ruhe haben. »Die sagen, ›ich habe es durch, ich habe mein Leben gelebt, ich weiß aufgrund der Lebenserfahrung, ich komme da in irgendeinen Sumpf rein, Hartz IV oder irgendwas, ohne Perspektive‹. Sie sind sehr resignativ aufgrund der Altersweisheit.« Das gelte vor allem für diejenigen mit langen Haftstrafen. Gegen die Resignation werde seitens der Anstalt nichts unternommen: »Wenn man abschaltet, muss man sich um nichts einen Kopf machen. Sie ernähren dich, sie versorgen dich gesundheitlich. Man kann vollkommen vergammeln, es interessiert keinen.« Thomas Wende*, ebenfalls Redakteur des Lichtblick, fügt hinzu: »Es fehlt die intrinsische Motivation, man ist hospitalisiert und dann hockt man seine Zeit ab.« Vielen Bediensteten gelten die Älteren genau deshalb als »gute Gefangene«. Sie stellen seltener Anträge, machen keinen Stress und somit weniger Arbeit. Im schlimmsten Fall führt die »Prisionierung«, die Gewöhnung an die Alltagsstruktur des Gefängnisses sowie die fehlende Zukunftsaussicht, sogar dazu, dass manche Inhaftierte gar nicht mehr raus wollen.
Klaus Engels war jahrelang in Tegel und anschließend in der Berliner JVA Düppel inhaftiert und wurde vor kurzem im Alter von 69 Jahren entlassen. Er hat ähnliche Erfahrungen gesammelt: »Die Leute werden zu wenig angesprochen. Wer sich nicht selbst darum kümmert, interessiert auch niemanden. Wenn ich nicht so flexibel gewesen wäre, wäre ich untergegangen.«

Die gesundheitliche Situation älterer Gefangener gestaltet sich ebenfalls schwierig. Die Gefangenen sind stark von dem für sie zuständigen Arzt abhängig und können keine zweite ärztliche Meinung einholen. Behandelt werde in der Regel lediglich mit Pillen, so Engels, bei größeren Eingriffen werde man ins Haftkrankenhaus verlegt. Eine besondere Behandlung der häufig mit unterschiedlichen, gleichzeitig auftretenden Krankheiten belasteten älteren Menschen gebe es kaum. Drastische Mängel werden bei der zahnärztlichen Behandlung beklagt. »Die Leute haben keine Zähne mehr im Mund«, sagt Wurm. Auch könne nicht damit gerechnet werden, dass besonders kranke Menschen früher entlassen werden. »Die Strafen werden vollstreckt, bis derjenige tot umfällt.«
Dass viele Ältere auch im Rentenalter noch arbeiten, liegt vor allem an der sonst drohenden Langeweile. Zudem muss die eigene Haft anteilig bezahlt werden. Langfristig Inhaftierte haben häufig keine Aussicht auf eine ausreichende Rente. Im Gefängnis wird für Arbeitende nicht in die Rentenkasse eingezahlt.

Besonders heikel ist meist die Situation der Entlassung. Wer lange in Haft war, habe nur noch selten soziale Kontakte, sagt Wurm: »Es ist immer die Frage, wie ist das soziale Umfeld draußen, hat er keines, dann wird es eine Katastrophe.« Viele Gefangene werden auf die Entlassung kaum vorbereitet. Für Engels kam sie völlig überraschend. Er befand sich schon seit längerem im offenen Vollzug in Düppel und konnte die JVA tagsüber verlassen. Während einer Autofahrt habe er einen Anruf bekommen. »Mir wurde gesagt, ich solle sofort in die Anstalt kommen, ich solle noch am selben Tag entlassen werden.« Hilfe bekam er beim »Auszug« nicht.
Auf die Entlassung folgt für viele Gefangene eine teilweise lange Phase der Orientierung mit vielen bürokratischen Hürden. Anträge auf ALG II und Grundsicherung sowie die Aufnahme in die Krankenkasse, die Wohnungs- und Jobsuche oder die Feststellung von Rentenansprüchen gehören zu den üblichen Aufgaben, die den Alltag zunächst bestimmen. Freizeitaktivitäten, von denen Gefangene in der erlebnisarmen Haftzeit geträumt haben, werden bisweilen aufgeschoben, »bis alles Wichtige geregelt ist«. Einer der wenigen Anlaufpunkte ist das Projekt »Drinnen und Draußen« der Berliner Stadtmission. Hier können sich Inhaftierte bereits vor ihrer Entlassung beraten lassen, manche kommen in Einrichtungen des betreuten Wohnens unter. Immer wieder landen Entlassene aber auch in der Obdachlosigkeit.
Engels wurde mit einer Summe von 181 Euro entlassen. »Das ist doch ein Scherz«, sagt er und weist auf seine Einschränkungen beim Gehen hin. Ein Alltag ohne einen mit hohen Kosten verbundenen PKW sei für ihn undenkbar. Trotz seiner gesundheitlichen Probleme hat es fast drei Monate gedauert, bis er zum ersten Mal einen Arzt aufsuchen konnte. Die Krankenversicherung weigerte sich zunächst, ihn aufzunehmen. Auch so etwas müsse eigentlich bereits vor der Entlassung vorbereitet sein, betont Engels.
Hinzu kommt die soziale Stigmatisierung als »Ex-Knacki«. Wer länger in Haft gewesen ist, kann die eigene Vergangenheit kaum verheimlichen. Eine Wohnung und Arbeit zu finden ist für ältere Menschen ohnehin eine große Herausforderung, wer dann noch über längere Zeit inhaftiert gewesen ist, hat verschwindend geringe Chancen. Ein Wiedereinstieg ins selbstständige Berufsleben ist für Engels kaum denkbar: »Wenn man etwas anfangen will, wird sofort der Riegel vorgeschoben.«

* Name von der Redaktion geändert