Eine Bilanz des Chavismo in Venezuela

Die Fata Morgana der sozialen Revolution

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez ist in der vergangenen Woche nach langer Krankheit gestorben. Eine Bilanz des Chavismo.

Eine kurze Bilanz von 14 Jahren bolivarischer Regierung zu ziehen, ist keine leichte Aufgabe. Vor allem geht es darum, mit zwei einander widersprechenden, aber sich auch ergänzenden Mythen aufräumen: Auf der einen Seite gibt es jene, die Hugo Chávez als Verkörperung des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« und des Antiimperialismus glorifizieren, auf der anderen jene, die ihn als Diktator und Feind des freien Marktes denunzieren.
Dabei ist das, was seit dem ersten Wahlsieg von Hugo Chávez im Jahr 1999 Venezuela prägt, eine eigenartige Mischung aus vom caudillismo geprägtem Militarismus, populistischer Demagogie und Staatskapitalismus, fußend auf der im Überfluss verfügbaren Ölrente. Die sogenannte bolivarische Regierung stellt überdies eine Fortführung, keinen Bruch mit der repräsentativen Demokratie in Venezuela – die 1958 mit einem Abkommen der herrschenden Eliten, dem »Pakt des Fixpunkts«, begann – und ihrem Wirtschaftsmodell dar, das auf der Ausbeutung von Rohstoffvorkommen für den internationalen Markt beruht.
Der bolivarische Prozess zeichnet sich durch Autoritarismus aus, gepaart mit einem Bündnis mit transnationalen Kapitalgesellschaften in gemischten Unternehmen, die die Öl- und Gasreserven des Landes kontrollieren, und dem Ausverkauf der Bodenschätze wie Gold und Kohle. Hinzu kommt eine von Korruption durchzogene Regierung. Für den Abbau der Rohstoffe werden die Sierra de Perijá und der Regendwald Guayanas mi­litarisiert, unter dem Vorwand, dies diene der Bekämpfung der Guerilla oder des illegalen Bergbaus. Dadurch werden die dort lebenden indigenen Gemeinden unterdrückt.
In der ökonomischen Globalisierung war Venezuela eine Rolle als sicherer, billiger und zuverlässiger Lieferant fossiler Energieträger für den Weltmarkt zugedacht. Wie keine andere Regierung vor ihr war die derzeitige mit ihrer nationalistischen und populistischen Rhetorik sehr erfolgreich damit, das Land dazu herzurichten, sich dem globalen Erdölgeschäft unterzuordnen und sich noch unterwürfig für die erhaltenen Krümel zu bedanken, während der Reichtum weiterhin sehr ungleich verteilt ist. Zugleich sind die ökologischen und gesellschaftlichen Kosten, die die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe und der Bodenschätze verursacht, zu einem politischen Tabu geworden, sowohl für die Pseudo-Linke in der Regierung wie für die rechte und sozialdemokratische Opposition, die es ohne Zweifel wütend macht, dass Chávez mit seiner Ölpolitik Venezuela dem transnationalen Kapital so unterworfen hat, wie es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, sollten sie regieren. Dank seines trügerischen Diskurses konnte »el Comandante« Entscheidungen treffen, die noch vor zwei Jahrzehnten einen hohen sozialen und politischen Preis gehabt hätten – zum Beispiel lukrative Verträge über die Ölförderung mit bis zu 40 Jahren Laufzeit zugunsten von transnationalen Unternehmen wie Chevron, BP, Eni und Repsol zu vergeben.

Das bolivarische Regime hat einen großen Propagandaapparat entwickelt, um die Wohltaten seines líder und der von ihm geschaffenen Sozialpolitik zu verkaufen, aber die Fakten zeigen, dass die Situation der Bevölkerung sich kaum signifikant verbessert hat – und das, obwohl die Staats- und Öleinnahmen in dieser Legislaturperiode die höchsten in der Geschichte des Landes in einem vergleichbaren Zeitraum waren. Genutzt haben sie vor allem dem Aufstieg der »Boli-Bourgeoisie«, der bolivarischen Bourgeoisie, die auf Kosten der offiziellen Macht angewachsen ist.
Vielleicht der beste Hinweis darauf, wie sich die Krise für die Bevölkerung verschärft hat, ist der erschreckende Anstieg der Anzahl der Morde in Venezuela: 2012 gab es mehr als 21 000 Mordopfer, 1998 waren es noch 4 400. Das verdeutlicht die Verbreitung eines Klimas krimineller Gewalt, das die gesellschaftliche Desintegration spiegelt. Diese Tendenz hätte sich umkehren oder zumindest aufhalten lassen, wären die Armut, der Mangel an Bildungsangeboten und die kollektive Desorganisation tatsächlich zurückgedrängt worden, wie es die Fürsprecher des Chavismus auf der ganzen Welt verbreiten.
Nicht weniger bedeutend war die Domestizierung und Auflösung der sozialen Bewegungen, die in den neunziger Jahren Widerstand gegen das neoliberale Modell leisteten. Die Morde in den jüngsten Jahren an aus Basisbewegungen stammenden Kämpfern wie Mijaíl Martínez, Luis Hernández, Richard Gallardo, Carlos Requena und Sabino Romero wurden nie aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt, da die Anhänger der Regierung ein komplizenhaftes Stillschweigen wahrten. Sie zeigen, dass die einzigen Bande der Solidarität, die in 13 Jahren des Chavismo geknüpft wurden, vertikaler Art waren – mit der mystifizierten Figur des »Comandante Chávez«.
Das militaristische – und daraus folgend autoritäre, chauvinistische und bürokratische – Wesen dieses Regimes ist offensichtlich: Die Mehrheit der führenden Kader kommt aus den Kasernen, und das Regime hat eine politische Kultur durchgesetzt, die gefährliche Züge der Politik Fidel Castros kopiert. Darunter fällt das Prinzip des blinden Gehorsams gegenüber dem Führer mit dem daraus resultierenden Personenkult, dessen groteskes Ausmaß man jüngst anhand des Begräbnisrituals für den caudillo erleben durfte. Einer auf diesem Kontinent bekannten Regel folgend, die immer gilt, wenn das Militär an der Macht ist, sind in Venezuela außerdem die Ausgaben für die Streitkräfte ungebremst angestiegen. Der venezolanische Staat war in den vergangenen Jahren der größte Käufer von militärischer Ausrüstung in Lateinamerika.

Was einst die größte Stärke des Regimes war, verwandelt sich nun in seine wesentliche Schwäche: Chávez war alles, und mit seinem Fehlen bleibt dem Regime nur, treu sein Andenken zu bewahren und seinen Wünschen für die Nachfolge nachzukommen. Die Schwäche der Regierung, die ihren angeblich »sozialistischen und volksnahen« Charakter mit einem bizarren Personenkult betonen wollte, wird nun allzu deutlich. Die Schuld daran liegt bei Chávez selbst. Die Geheimniskrämerei um seine Krankheit hatte die gleichen Beweggründe wie die extreme Zentralisierung der Macht, und der Mangel an ideologischer Kohärenz lässt seine Anhänger nun untereinander um sein Erbe kämpfen. Die hohen Bürokraten und die Militärkaste sind dabei klar im Vorteil, während sie Straffreiheit für ihre Vergehen aushandeln.
Doch diese Probleme sind nicht die einzigen Sorgen der zwei Gruppen, die sich um die Macht und die Ölrente streiten: des Gran Polo Patriótico (Großer patriotischer Pol) der Chavistas und der Koalition der Opposition, Mesa de Unidad Democrática (Tisch der demokratischen Einheit). Die rechte und sozialdemokratische Opposition hat es nicht geschafft, sich von ihren Wahlniederlagen vom 7. Oktober und 16. Dezember zu erholen, und zuvor hatte sie den Wählern lediglich versprochen, die klientelistischen Instrumente zu erhalten und zu verfeinern, die so hilfreich für Chávez waren.
Hugo Chávez wird mit einem sichtbaren Erbe im Alltag dieses Landes in die Geschichtsbücher eingehen: eine ungebändigte Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, sukzessive Währungsabwertungen, extreme individuelle Unsicherheit und eine Krise der öffent­lichen Versorgung; ein brachliegendes Bildungs- und Gesundheitssystem, Wohnraummangel und vieles mehr, das nicht weniger unheilvoll ist.
So musste die Bevölkerung Venezuelas nicht auf ein Sinken des Ölpreises warten, um mit den derzeit grassierenden gesellschaftlichen Problemen konfrontiert zu werden, 14 Jahre einer korrupten, unfähigen und verschwenderischen Regierung reichten dafür vollständig aus. Chávez’ Anhänger hingegen glauben wohl selbst daran oder wollen es zumindest die Bevölkerung glauben machen, wenn sie Chávez als ein revolutionäres Beispiel verehren, dem man zu folgen habe.

Aus dem Spanischen von Nicole Tomasek