Das Graphic Novel »Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt«

Monument der Melancholie

Chris Wares große Graphic Novel »Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt« ist endlich in deutscher Übersetzung erschienen.

Es hat lange gedauert. Doch jetzt ist eines der wichtigsten Werke der jüngeren Comicgeschichte auch in deutscher Übersetzung erschienen. Die Rede ist von Chris Wares tragikomischer Halbautobiographie »Jimmy Corrigan«, deren englischsprachiges Original bereits im Jahr 2000 im New Yorker Verlag Pantheon Books veröffentlicht wurde und die jetzt zur Leipziger Buchmesse bei Reprodukt erscheint.
Dass es sich nicht bloß um die deutsche Ausgabe eines Allerweltscomic handelt, zeigt sich nicht nur daran, dass der Verlag den Autoren eigens für die Messe einfliegen lässt. Es zeigt sich auch an den Worten, die Kritiker und Kollegen für das Werk finden. Von einer »Ein-Mann-Revolution des Erzählens in Bildern« ist die Rede, von einem »Meisterwerk«, einem »Jahrhundertcomic«. Einen American Book Award und zwei Eisner Awards hat das Buch erhalten, das Time Magazine zählte es 2009 sogar zu den zehn besten Graphic Novels aller Zeiten, Seite an Seite mit »Watchmen« von Alan Moore und Dave Gibbons sowie mit Art Spiegelmans »Maus«.
Schon ein kurzer Blick in den fast 400 Seiten starken Wälzer reicht aus, um zu verstehen, warum so viele Menschen das Buch so sehr schätzen. Da wäre zunächst einmal Wares klare und saubere, fast schon pedantische Strichführung, die der seines kanadischen Kollegen Seth nicht unähnlich ist. Doch wo dieser sich bestenfalls zu ein paar gedeckten Tönen hinreißen lässt, spielen bei Ware Farben als Ausdruck von Stimmungen und als Träger von Informationen eine wichtige Rolle. Immer wieder durchbrechen grelle Signaltöne das ansonsten eher matte, dafür aber kontrastreiche Farbenspiel.
Weit wichtiger als der Umgang mit Farben ist bei Wares Buch jedoch dessen bahnbrechende Inszenierung und Komposition der Buchseiten. Größe, Form und Arrangement der Panels wechseln permanent und beeinflussen auf diese Weise nachdrücklich die Geschwindigkeit des Leseflusses. An manchen Stellen bricht Ware aus der seriellen Logik des Comic sogar völlig aus, entwirft komplexe Bastelanleitungen, Schaubilder und Diagramme, die erst einmal dechiffriert werden müssen, um sie verstehen zu können. Wer das Buch schnell liest, dem wird ein Großteil entgehen.
Was freilich nicht ausschließlich an der Form der Erzählung, sondern vor allem an der Komplexität des Inhalts liegt. Immer wieder springt Ware zwischen verschiedenen Erzählsträngen hin und her, ständig wechselt er zwischen Realität und Tagtraumsequenzen und erreicht damit einen Grad an erzählerischer Dichte, der für den Bereich der Sequential Art durchaus ungewöhnlich ist.
Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist die titelgebende Figur des Mittdreißigers Jimmy Corrigan, der ein tristes Leben als einfacher Angestellter irgendwo in Chicago führt und plötzlich aus seinem Alltagstrott gerissen wird, als er ein Flugticket von seinem Vater erhält, den er noch nie zuvor getroffen hat. Als Jimmy ihm schließlich begegnet, scheint es ihm, als würde er in einen Spiegel blicken. Plötzlich ergibt alles auf ebenso erschreckende wie schmerzhafte Weise einen traurigen Sinn.
Immer wieder driftet Jimmy in Tagträume ab, an denen Ware den Leser ausführlich teilhaben lässt. In Rückblenden wird verdeutlicht, dass sie ihren Ursprung offensichtlich in Jimmys frühem Lebensabschnitt als Scheidungskind haben. Schon damals flüchtete er sich in eine Traumwelt, in der er »der klügste Junge der Welt« war, der nicht nur äußerlich stark an Stewie Griffin in der US-amerikanischen Zeichentrickserie »Family Guy« erinnert. Auch Ware selbst sind die Ähnlichkeiten, die er als »ein wenig zu zufällig, um zufällig zu sein« bezeichnete, aufgefallen. Seth MacFarlane, der Schöpfer von »Family Guy«, erklärte jedoch 2003 recht glaubhaft, er habe »Jimmy Corrigan« nicht gekannt, als er Stewie Griffin schuf. Die Ähnlichkeiten seien aber tatsächlich »ziemlich schockierend«. Die Möglichkeit, dass MacFarlane sich von Ware hat inspirieren lassen, lässt sich jedoch auch nicht völlig ausschließen. »Family Guy« läuft seit 1999, die ersten Strips von »Jimmy Corrigan« wurden bereits 1995 im Rahmen von Chris Wares Comic-Reihe »Acme Novelty Library« veröffentlicht.
Die Erzählung des Buches reicht jedoch noch weiter zurück und zeigt in einer ziemlich ausschweifenden Nebenhandlung, wie Jimmys Großvater James – der den gleichen Namen hat wie Jimmy – unter seinem Vater, Jimmys Urgroßvater, leidet. Ware entwirft so eine regelrechte Saga vom weitergegebenen Leid einer Familie. Kein Familienmitglied, so scheint es, hat ein Leben gelebt, das nicht völlig kaputt gewesen wäre. Da wundert es nicht, dass der erwachsene Jimmy Corrigan am Ende dieser Kette tradierter Beschädigungen ein sozial inkompetenter, wenn auch im Grunde harmloser Freak ist, der mit seinem Superman-Pullover und seinem Hilfe suchenden Dalmatinerblick auf Anhieb Mitleid erregt – allerdings eher die Art von Mitleid, die einen nicht zum Helfen, sondern zum Wegrennen animiert.
Wie in Wares bislang letztem Werk, »Building Stories«, spielt auch in »Jimmy Corrigan« Architektur eine wichtige Nebenrolle. Vielleicht kann es auch gar nicht anders sein, wenn man seine Geschichte in Chicago spielen lässt, der Stadt des Willis Tower, der, als er noch Sears Tower hieß, über zwei Jahrzehnte lang das höchste Gebäude der Welt war und mit seiner Architektur einen nicht unwesentlichen Einfluss auf den Chicago House hatte.
In Wares Zeichnungen ist die Architektur nicht bloß austauschbarer Hintergrund für die Erzählung. Vielmehr handelt es sich um spezifisch ausgewählte Gebäude voller Individualität und Charakter. Keines der Häuser scheint zufällig ausgesucht worden zu sein, Ware weiß genau, warum sich seine Handlung gerade dort und nirgendwo anders abspielt.
Die herausragende Bedeutung von Architektur, Farbe und Form fügt sich nahtlos in das Gesamtbild des Buches. Es ist mehr als passend, dass diese eigentlichen Nebensächlichkeiten an Bedeutung gewinnen, in einer erschaffenen Welt, die aus den Fugen geraten ist – falls sie es denn überhaupt jemals nicht war –, weil sie das Einzige sind, das noch irgendeine Art von Halt zu versprechen scheint. Chris Ware hat mit seiner Graphic Novel ein Epos über das menschliche Elend geschrieben, das an Melancholie schwer zu überbieten ist. Doch wie so oft zeitigt gerade der Anblick der Entfremdung und der Isolation der Figuren beim Leser eine unsagbar beruhigende Wirkung, denn am Ende ist alles nur ein Buch, und im Vergleich mit dessen Figuren geht es einem selbst doch ganz gut. So gerne man seine Geschichte auch lesen mag, Jimmy Corrigan sein will wohl niemand.

Chris Ware: Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt, Reprodukt-Verlag, Berlin, 2013, 384 Seiten, 39 Euro