Die Arbeiten von Martin Kippenberger im Berliner Hamburger Bahnhof

Stets bei Laune

Spaßvogel? Erneuerer der Kunst? Der Berliner Hamburger Bahnhof widmet Martin Kippenberger eine große Ausstellung.

So viele Gäste wie zur Eröffnung der Ausstellung »sehr gut/very good« hat der Hamburger Bahnhof selten gesehen. »Wir müssen einfach den Zeitgeist getroffen haben«, stellt Kuratorin Britta Schmitz zufrieden fest. Und genau da beginnt das Problem: die Retromania kennt kein Ende. Am 25. Februar wäre der Ausnahmekünstler – oder vielleicht doch eher Ausnahmefall – Martin Kippenberger 60 Jahre alt geworden. Er starb 1997, erst 44jährig, nach einem exzessiven Leben in Wien an Leberversagen. Durch den Hamburger Bahnhof flanieren sie also in Rudeln, die Generationsgenossen und die, die an die damalige Zeit zumindest noch ein paar vage, warme Jugenderinnerungen haben.
Wir sind alle älter geworden, nur »Kippi« eben nicht, und das tut gut. Überall schaut er uns jung und rotzig an. Mal aus seinem Kreuzberger Büro am Segitzdamm, mal cool mit offenem Mantel zwischen Emblemen zum 30jährigen Jubiläum der DDR. Als seien die späten siebziger und die achtziger Jahre noch in vollem Gange. Auf Stelltafeln wird auch gleich daran erinnert, dass Kippenberger zeitweilig Mitgeschäftsinhaber des legendären SO36 war, in der ebenfalls legendären Paris Bar aß, vor allem trank, und in der Band Luxus spielte.
Wir alle erinnern uns wehmütig an die Zeit, in der die Mieten noch unsagbar niedrig waren und die Straßen nach Kohleofen rochen. Herr-Lehmann-Feeling macht sich breit. Man ist gefühlt wieder im alten West-Berlin, denkt an romantische Mauertristesse, an eine andere Weltordnung, die starrer, aber übersichtlicher schien. Damals waren die Schwaben in Berlin noch Hausbesetzer und nicht Hausbesitzer, die Schrippen hießen noch Schrippen und niemand dachte daran, die Mauer zu touchieren. Und dann läuft auch noch superlaut im Untergeschoss der Rieckhallen »Yes Sir, I can boogie« von Baccara.
Irgendwo steht Kippenbergers Spruch »Musik ist schön. Wie solls weitergehen? Umso lauter. Umso besser.« Kippenberger hatte sich gewünscht, man würde 20 Jahre nach seinem Tod über ihn sagen, er sei einer gewesen, der gute Laune verbreitet habe. »Ich arbeite daran, dass die Leute sagen können: Kippenberger war gute Laune!«
Lange in Berlin gelebt hat Kippenberger indes nicht, lediglich von 1978 bis 1981, dann zog er weiter nach Köln – und von dort rastlos weiter von Ort zu Ort, von Graz über Madrid und Mexico City bis nach Los Angeles.
Im Hamburger Bahnhof hat man sich leider nicht von der üblichen biographischen Sichtweise auf den Künstler Martin Kippenberger distanziert. Jeder Raum in den Rieckhallen wird von einem lebensgroßen Foto aus dem Familienalbum (»Martin mit seiner Mutter«) eröffnet. Und das, obwohl man doch, laut den Kuratoren, keinen Personenkult treiben und auf Pathos verzichten will. Man folgt damit Kippenbergers verführerischer Attitüde, geht ihm gewissermaßen auf den Leim. Denn einen größeren Selbstvermarkter als »Kippi« hat es selten gegeben. Und meist wird er erst dann wirklich gut, wenn er nicht nur sich selbst und seinen Saufkumpanenkosmos thematisiert. Pseudowitzige Bemerkungen à la »Herrenwitze sind so wichtig wie der liebe Gott« oder die Umkehrung des Diktums von Beuys »Alle Menschen sind Künstler« in »Alle Künstler sind Menschen« hinterlassen keinen nachhaltigen Eindruck. Sie wirken erschreckend datiert, plötzlich nicht mehr frech und provokant, sondern alt. In seiner Arbeit »1/4 Jahrhundert Kippenberger« bezeichnet er sich unter anderem als Angeber, Oberspanner, Anführer. Ja, stimmt: Damals war »Du Spanner« ein beliebtes Schimpfwort.
Kippenbergers mal affirmativer, mal verneinend ironisierender Narzissmus ermüdet schon nach dem Durchschreiten weniger Hallen. Hier »Einer von Euch, unter Euch, mit Euch« (1977), dort ein hundeäugiges »Bitte nicht nach Hause schicken« (1983) oder ein »Martin, ab in die Ecke und schäm Dich« (1989). Immerhin: Im Vergleich mit den sehr deutschen Sand- und Bleigeschichten eines Anselm Kiefer sind da auf einmal Humor und Leichtigkeit – für die damalige Zeit eine bemerkenswerte Novität. Ginge man heute nochmals durch die »Zeitgeist«-Ausstellung (Herbst 1982 im Gropius-Bau), würde man denken, die teilnehmenden Künstler planten, demnächst kollektiven Selbstmord zu begehen.
Kippenberger: der lang ersehnte, der notwendige Clown. Es passt zu ihm, dass er Silhouetten des französischen Komikers Louis de Funès auf Spiegel gemalt hat – jeder Betrachter findet sein eigenes Konterfei hinter den Umrissen des cholerischen Patriarchen. So oft man in die Komik einbezogen wird, nicht jeder Scherz des enfant amusant hält länger vor. Sentenzen wie »Was Gott im Herrschen ist, bin ich im Können« sind weder Brüller noch Geistesblitze. Doch manchmal kann Kippenberger auch den Zeitgeist ganz hinter sich lassen – wie in den beeindruckenden Porträts am Ende seines Lebens, auf denen er sich in den Posen des Schiffbrüchigen von Théodore Géricault inszeniert, dem berühmten Gemälde von 1819.
Wenn Kippenberger das leidige Motiv des Künstlergenies, an dem sich schon viele vor ihm abgearbeitet haben, mal beiseite lässt und sich aufs politische Parkett begibt, wird er witziger. »Ski heil!« grüßt ein Biber auf Skiern. »Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen«, so der Titel des bekannten Gemäldes mit dunklen Balken, siamesischen Hakenkreuz-Zwillingen – ein großartiger Kommentar zur bundesrepublikanischen Nachkriegswirklichkeit. Kippenbergers »Love affair without racism« – ein weißlicher und ein schwarzer Kasten stehen dicht voreinander – ist auch ein gelungener skulpturaler Kommentar.
Wo Kippenberger aufhört, um »Kippi« zu kreisen, ist er ein großer Künstler. Ab 1987 überträgt er menschliches Verhalten auf Objekte und schafft seine berühmten »betrunkenen Laternen«. Er verbiegt und verdreht die Straßenlichter, lässt blutrotes Licht in ihnen flackern. Er fertigt einen Negativabdruck mit herausgestrecktem Arm aus einer Badewanne (eine seiner besten Arbeiten) an, der Bruce Nauman nicht nachsteht, er baut Schneewittchen einen Sarg mit einer Sprechvorrichtung nur für »Versprecher«, er lässt schemenhafte Schreckensgesichter aus einem dunklen Gummibild auftauchen – hier gelingt Kippenberger die Verwandlung, die Ekstase der Kunst. Was man jedoch vermisst, ist die beeindruckende Großinstallation »The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika’«.
Den interessanteren Werken Kippenbergers wird mit der biographischen Begleitung kein Gefallen getan, die starke Suggestivität ihrer Bildsprache wird für den Betrachter durch die Einordnung in sein wildes Leben scheinbar verständlich gemacht. Genau das ist überflüssig. Die Arbeiten benötigen keinen biographischen Rahmen, keine Psychologie.
Gelungen wiederum ist ein kleiner Raum, in dem die Musikerin Gudrun Gut Songs verschiedener Bands kompiliert, die damals im SO36 auftraten. Dieser Raum steht für sich, als akustisches Fernrohr in die Vergangenheit.Über all der Achtziger-Party befindet sich im Obergeschoss die Weiße Reihe: »Ohne Titel (Weiße Reihe)« von 1991. Und hier, plötzlich, findet man ihn doch, den ganz großen Künstler. Mit einer Arbeit, in der er sich von sich selbst gelöst, und wie es scheint, auch erlöst hat: Elf weiße Bilder sind, auf Anweisung Kippenbergers, in die Wand eingelassen und so verfugt worden, dass sie Teil von ihr werden. Wenn man an sie herantritt, wird eine schimmernde weiße Kinderschrift sichtbar. Sie versinkt ebenso in den Bildern wie diese in den Wänden. Die Kinderschrift zählt Werke von Kippenberger auf und »benotet« sie am Ende mit stetigem »sehr gut« oder »very good«. Beim Betrachten einiger seiner Ausstellungskataloge bat Kippenberger den neunjährigen Sohn von Freunden, die abgebildeten Werke je kurz zu beschreiben und das Urteil »sehr gut« anzufügen. Die englischen Übersetzungen schrieb der Junge noch nach einer Vorlage ab. Diese »Zeugnisse« projizierte Kippenberger auf weiße Leinwände und übertrug die Schrift – inklusive Fehler – mit hellem Lack auf das Bild. Dieser wie eine endlich verblassende Erinnerung an die Schulzeit konservierte Schrecken ist enorm beeindruckend und formalästhetisch gelungen.
Hier oben denkt man: Es hat sich gelohnt, die Achtziger erlebt – und überlebt – zu haben.

Martin Kippenberger: »sehr gut/very good«. 23. Februar bis 18. August 2013. Hamburger Bahnhof, Berliner Museum für Gegenwart