Und der Geist wird stinken

Onkel Dagobert feiert Geburtstag, Hitler hat eine eigene Homepage und die Deutschen lieben »Tatort« aus 111 Gründen. Was es neues Wichtiges und Überflüssiges auf dem Büchermarkt gibt, erzählen Knud kohr, jakob hayner, coco kleinohr und andere

Der Onkel aus Amerika

Von Roger Behrens

Dagobert Duck, auch Onkel Dagobert genannt, Kosename Bertel, im amerikanischen Original Scrooge McDuck oder Uncle Scrooge, ist im vergangenen Jahr 65 Jahre alt geworden – »sechseinhalb Jahrzehnte voller Abenteuer auf der Jagd nach Geld, Gold und Glück! Das muss gebührend gefeiert werden.« (Editorial, Bd. 3) Der Egmont-Ehapa-Verlag, in dem seit 1967 die Reihe »Lustige Taschenbücher« erscheint, tut das, wie seit einigen Jahren gewohnt und schon mehrfach erfolgreich mit Jubiläen anderer Disney-Figuren erprobt, auch diesmal mit einem Schuber von vier Bänden. Jeder Band enthält zehn Geschichten, nämlich acht Wiederveröffentlichungen aus den bisherigen 439 »Lustigen Taschenbüchern« und anderen Comicmagazin-Derivaten des Verlags, sowie (leider nur) zwei deutsche Erstveröffentlichungen. Das Konzept ist also Zweitverwertung, neu verpackt zwischen mit Goldfarbe und Prägedruck aufgehübschten Buchdeckeln. Und leider wirkt es auch so, als hätte man sich kaum Gedanken gemacht bei der Auswahl der Geschichten – weder über das Niveau ihrer sogenannten Story noch über die Zeichnungen.

Wenige Informationen finden sich im Impressum, das meiste bleibt, wie gewohnt, hinter dem Namen Walt Disney versteckt. Auch der vermeintliche Anlass, nun in vier Bänden Geschichten »Aus dem Leben eines Milliardärs« zu versammeln, bleibt unerklärt. Denn »65 Jahre Dagobert Duck« ist natürlich Unfug, rein familiengenealogisch, wenn 2009 bereits der 75. Geburtstag der jüngeren Ente Donald, Dagoberts Neffe und »der größte Pechvogel aller Zeiten«, mit ebenfalls einem vierbändigen Comic-Schuber gewürdigt wurde. Freilich sind solche Jahresdatenverwirrungen nicht schlimm, wenn es sich ohnehin um ein fiktive Lebenswelt handelt, in der existentielle Veränderungen wie Geburt, Alter und Tod ebenso wenig vorkommen wie selbst profane Veränderungen in Sachen Kleidung, Wohnort und sonstigen Alltäglichkeiten. Völlig der historischen Echtzeit entrückt, haben die Geschichten keine narra­tive Kohärenz und wirken wie trivialisierte Formen des prähistorischen Mythos, nach dessen Modell früher, vor allem im 19. Jahrhundert, die Wunschbilder der bürgerlichen Gesellschaft gestaltet waren.

Und tatsächlich ist ja gerade Dagobert Duck so etwas wie der Prototyp des kapitalistischen Unternehmers, sparsamer und tüchtiger Geschäftsmann und Abenteurer zugleich, der es vom Tellerwäscher zum Millionär beziehungsweise, historisch korrekt, vom Goldsucher zum Fantasilliardär gebracht hat. Bezogen ist das Datum des Jubiläumsjahres mithin eben nicht auf den Geburtstag, sondern auf den »Erfindungstag«, an dem Dagobert das erste Mal in einer Geschichte erschien: im Dezember 1947 in dem Comic »Christmas on Bear Mountain« von Carl Barks.

Gerade in den erzählerisch unaufwendigen Produktionen aus Italien, wo die meisten der »Lustiges Taschenbuch«-Comics hergestellt werden, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Universum entfaltet, in dem mittlerweile auch mit dem Handy telefoniert wird, alle Enten irgendwie miteinander verwandt sind, aber kein Geschlecht haben, verschieden vermenschlichte Gefiedertiere auftreten, aber die Ducks mit Vorliebe dann doch Geflügel essen (gerne Entenbraten oder Grillhuhn).

Don Rosa – von dem ebenso wie von Barks keine Geschichten in den Jubiläumsschuber aufgenommen wurden – nennt als Dagoberts tatsächliches Geburtsjahr 1867 (»The Life and Times of Scrooge McDuck« 1991 bis 1994). Dass das auch das Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Marx’ »Kapital« ist, wäre in der seit einiger Zeit immer mal wieder aufgegriffenen Debatte um die Frage zu berücksichtigen, ob Dagobert nun ein ausbeutender Kapitalist oder nur ein leidenschaftlicher Geldsammler sei; oder ob er eine ganz andere Figur darstellt, die das Kapitalverhältnis und somit die herrschende Gesellschaft konterkariert, indem er wie alle im Disney-Universum Auftretenden den mal naiven, mal infantilen Charakter repräsentiert, der sich wünscht, ganz unvermittelt von der allumfassend vermittelten Gesellschaft ein Individuum, ein »Selbst« zu sein. Das soziale Verhältnis erscheint bloß noch als simulierte Imitation; die Figuren handeln unmittelbar so, wie sie sind. Und das macht die Geschichten durchaus interessant und amüsant: Sie lassen sich als unmögliche, mitunter surreale Karikatur der totalen Vergesellschaftung verstehen, als unentwegter Versuch, der Sinnlosigkeit irgendeinen Sinn abzutrotzen.

Aus dem Leben eines Milliardärs. Lustiges Taschenbuch, Sonderedition. Vier Bände im Schuber, Egmont-Ehapa-Verlag 2012, jeweils ca. 304 Seiten, pro Band 7,50 Euro

 

Halluzinationen und Oralverkehr

Von Christian Y. Schmidt

Praktisch mein ganzes bisheriges Wissen über Arno Schmidt stammt aus winzigen Aufsätzen im Merkheft des Zweitausendeins-Versands. Darin wurden in den Siebzigern und Achtzigern Schmidts Bücher mit typischem Merkheftvokabular (Autor: Bertel Schmitt) immer wieder angepriesen. Ich kaufte aber trotzdem keinen Schmidt, weil ich mir als Jugendlicher geschworen hatte, nur Autoren zu lesen, die mindestens 50 Jahre tot waren. Außerdem konnte ein Schriftsteller, der genau so hieß wie ich, nicht allzu viel zu sagen haben.

Die Erkenntnis, dass dieses Urteil ein bru­taler Jugendirrtum war, verdanke ich der Arno-Schmidt-Bilderbiographie »Arno & Alice« von Wenzel Storch. Der Mann kann zwar überhaupt nicht zeichnen, das aber so gut, dass man sich an seinen Schmidt-Bildern nicht sattsehen kann. Dazu erzählt Storch die Höhepunkte aus dem Leben des Heide-Schriftstellers: Schon dem Kleinkind klebt die Mutter eine Kafka-Tapete ins Zimmer. Später unternimmt Arno mit seiner Frau Alice eine Tandemtour zur Fouqué-Eiche im Schloßpark von Nennhausen, rettet bei Regenwetter Schnecken und Regenwürmer, trinkt Kartoffelschnaps, Schinkenhäger und Ratzeputz, hat Halluzinationen und Oralverkehr, will zwischenzeitlich in die DDR auswandern, bewirbt sich aber stattdessen bei der Nasa, wird dort abgelehnt, fährt nach Feuerland und stirbt anschließend einfach mal so eben, sehr zum Leidwesen seiner Fans.

Storchs Meisterbiographie hat mich derart von Arno Schmidt überzeugt, dass ich jetzt demnächst auch endlich einmal etwas von ihm lesen werde. Außerdem hat sie in mir einen brennenden Wunsch gezeugt: Es ist zwar ziemlich unwahrscheinlich, dass ich jemals sterben werde. Sollte aber das Unwahrscheinliche dennoch eintreten, hoffe ich, dass auch mein Leben von Wenzel Storch gezeichnet wird. Schließlich habe ich auch Schnecken und Regenwürmer gerettet. Und Arnos großen Namen trage ich auch.

Wenzel Storch: Arno & Alice. Ein Bilderbuch für kleine und große Arno-Schmidt-Fans. Konkret-Verlag, Hamburg 2012, 88 Seiten, 24,80 Euro

 

Liebesgruß an den Kollegen

Von Carl Wiemer

Wie es um die Würde des Verlegers W. Georg Olms steht, wissen wir nicht. Sorgen muss man sich aber um sie machen, wenn zu seinem Geburtstag nicht nur ein Staatsminister, der Emir von Sharjah und mit dem Direktor eines Nationalgestüts ein echter Herrenreiter Grußworte beisteuern, sondern auch Martin Walser eine »Liebeserklärung« titulierte Festrede hält (wobei man wissen muss, dass es in Walsers Werk von »Liebeserklärungen« wimmelt, die dem Tatbestand der üblen Nachrede oder der Nötigung nahekommen). Walser schildert in seiner Liebeserklärung seine Initiation in die Welt der Bücher, die grundlegend ist für sein Selbstmissverständnis, bei seinem Schrifttum handele es sich um Literatur. Er intendiert eine Apotheose des Lesens und statuiert, ohne es zu bemerken, sich selbst als Exempel der Geistlosigkeit des Lesers. In seinen Fehllektüren vergeht er sich am Geist jener Bücher, die er sich massenhaft einverleibt. Wenn Walser liest, handelt es sich um Missbrauch von Literatur. Er offenbart den kleinkarierten Horizont eines Dorfschullehrers, wenn er unter Verwendung des ökologischen Nullwortes bekennt, die Weihnachtsgeschichte sei für ihn »die nachhaltigste aller Geschichten«. Wenn er schreibt, verschanzt er seine Rache an den Größen, die er wegen der eigenen Inferiorität verabscheut, hinter ostentativer Ehrerbietung.

In Walsers Literaturkabinett geht es zu wie auf dem Kostümball: »Ich lernte Ich sagen bei Hölderlin, Schiller, Goethe«, »Ich ging bei Kafka in die Lehre«, »Ich habe mich durch Nietzsche leiten lassen« – er schrumpft die Namen auf sein subalternes Maß, und am Ende sehen sie so verschmockt drein wie Walser selbst: Nietzsche trägt Walsers Deutschlehrerbrille, Hölderlin hat Walsers Augenbrauen angepinselt, Kafka Walsers Cowboyhut auf dem Kopf. Wenn er John Updike, den er jahrelang nachgeäfft hat, als »Kollegen« schmäht, verkennt er, dass es diese Kategorie unter Angestellten, nicht aber unter Autoren gibt.

Allerdings hat die Allotria ein Ende, wenn Walser jener protestantischen Kulturreligion huldigt, deren Verinnerlichungstendenz das Scheitern der Zivilisation hierzulande zu verantworten hat. Er gibt sich als »Büchermensch« aus und lässt das Vokabular jener Festrede anklingen, die Goebbels, promovierter Germanist wie Walser, bei der Bücherverbrennung hielt: »Der deutsche Mensch soll ein Mensch des Buches sein.« Walsers pompöser Hymnus auf das Buch ist mit den religiösen Floskeln orchestriert, mit denen auch die Nazis ihre Autodafés sakral beweihräucherten und sich dabei nicht zu Unrecht auf Luthers Verbrennung der Papstschriften beriefen. Walser rodomontiert von den »heiligen Namen« der Dichtung, vom Lesen als »herrufbares Pfingsten« – kaum anders hat es auf dem Bonner Marktplatz geklungen, als die versammelte Akademikerriege die Bücher ins Feuer warf.

Ausgerechnet Walser, NSDAP-Nr. 9742136, besitzt die Chuzpe, Heines Wort vom Buch als Vaterland der Juden für sich zu reklamieren: Darin »lese ich meine Geschichte«. Die Geschichte der deutschen Literatur, zu der auch Walser gehört, fasst aber ein anderer Satz Heines zusammen: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.« Die Bücherverbrennung sollte das Schrifttum im Sinne von Familie und Heimat restituieren, in deren Namen die Juden aus der Literaturgeschichte getilgt werden sollten.

Den Band beschließt ein Foto der Festgesellschaft. Man muss ihnen in die Gesichter sehen, dieser Ansammlung von Kulturbündlern. So sieht sie aus, die ehrenwerte Mischpoke, auf die Nietzsche den Satz münzte: »Noch 100 Jahre Leser und der Geist wird stinken.«

Martin Walser: Der Leser hat das Wort. Eine Liebeserklärung an W. G. Olms, Hildesheim 2012, 23 Seiten, 7,80 Euro

 

Hitler: neu und mit Homepage

Von Knud Kohr

Es ist früher Nachmittag, als Adolf Hitler 67 Jahre nach seinem Tod auf einer Brache irgendwo in Berlin wieder zum Leben erwacht. Wie es zu seiner Wiedergeburt kommen konnte und warum seine Uniform nach Benzin und Rauch riecht, darüber macht sich der Hitler von Timur Vernes, der mit »Er ist wieder da« seinen Debütroman mit knapp 400 Seitem Umfang vorlegt, nicht allzu viele Gedanken. Für kurze Zeit ruft der Führer nach Martin Bormann und fragt sich, wo seine Frau Eva geblieben ist, dann bricht er auf, um beide zu suchen. Dabei gerät er an einen Kioskbesitzer, der ihn für einen Schauspieler hält, der es mit dem Method Acting ein wenig übertreibt. Zu dessen Kunden zählen einige Mitarbeiter einer TV-Produktionsgesellschaft, die jeden Morgen am Kiosk Kaffee und Zeitungen kaufen und ständig auf der Suche nach Ideen für neue Comedy-Formate sind.

Ihr bekanntestes Format wird von einem Herrn namens Ali Wizgür moderiert, der in unserer Welt wahrscheinlich Kaya Yanar oder so ähnlich heißt, und dessen Format bedenklich schwächelt. Die Comedy-Produzenten sind begeistert, wie sehr Adolf Hitler Adolf Hitler ähnelt, und wie gut der Mann sich auf seine Rolle vorbereitet haben muss, da er ständig so klingt wie Adolf Hitler in den Dokumentationen, die man immer auf Phoenix sehen kann. Von nun an muss Adolf Hitler eigentlich gar nichts mehr tun. Ein paar Tage später ist er Dauergast in einem von seinen neuen Auftraggebern bezahlten Hotelzimmer, wenige Wochen später hat er ein eigenes Büro mit Sekretärin und spielt bei seinem ersten Auftritt Ali Wizgür derart an die Wand, dass er wenige weitere Wochen danach eine eigene Website namens »Führerhauptquartier« und eine eigene Sendung namens »Der Führer spricht« besitzt.

In unserer Welt hat Timur Vermes den Überraschungseffekt der Saison gelandet. »Er ist wieder da« führt seit Wochen die Bestsellerlisten an, hat 500 000 Exemplare verkauft und wird gerade in 27 Sprachen übesetzt. Das Hörbuch wurde von Christoph Maria Herbst ein­gesprochen und steht ebenfalls auf Platz eins. Denn auch in unserer Welt kann die Hitler-Industrie immer neue Produkte gebrauchen.

Timur Vermes wurde 1967 als Sohn eines Ungarn und einer Deutschen in Nürnberg geboren. In Erlangen studierte er Geschichte und Politik, um danach Journalist für Boulevardzeitungen zu werden. Seit 2007 schreibt er außerdem als Ghostwriter Bücher. Damit wird nun wohl Schluss sein. Dass er für zwei weitere Ghostwritings bereits unterschrieben haben soll, wird vermutlich ein Fall für die Anwälte werden.

»Er ist wieder da« kann man in zwei Tagen bequem lesen und eine Menge Spaß dabei haben. Zum Beispiel, wenn Hitler sich angesichts des Zustandes der NPD und deren Parteiführer Holger Apfel die SA zurückwünscht, um diesen teigigen Typen aus dem Weg zu räumen. Wenn er Renate Künast ohne Mühe an die Wand talkt. Oder Angela Merkel »die klobige Walküre« nennt. In solchen Passagen zeigt sich, dass Vermes ein erfahrener Boulevardschreiber ist. Sein Roman basiert auf einer guten, wenn auch nicht neuen Idee und fesselt mit einem gelungenen Kniff: Ich-Erzähler Hitler bringt den Leser immer wieder dazu, ihm zu­zustimmen. Darüber hinaus hat der Roman nicht allzu viel zu bieten. Von Dramaturgie hat der Autor nur wenig Ahnung. Bis auf einige ­legasthenische Neonazis stellen sich seinem Helden nie Gegner in den Weg. Er selbst sieht sich in einer Situation wie zu Beginn seiner Karriere, versucht neue Anhänger zu finden, durchschaut die Comedywelt trotz seines Erfolgs aber nicht und freut sich, dass ihm immer mehr Menschen »Heil« antworten, wenn er »Sieg« sagt.

Vermes beendet seinen Roman ziemlich abrupt in einem Moment, der den bisherigen Höhepunkt der neuen Karriere seiens Helden darstellt. Wesentlich interessanter wäre die Medienkritik des Autors gewesen, wenn man Hitler auch auf dem Abstieg begleitet hätte. Was würde er wohl kochen im »Perfekten Promidinner«? Und wie antreten bei »Let’s dance«? Mit dem Marschfox?

Timur Vermes: Er ist wieder da, Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2012, 396 Seiten, 19,33 Euro

 

Nichts ist unmögich

Von Ulrich van Loyen

Solange man sie nicht selbst als ökonomische Praxis verstehe, sei keine Kritik der Religion denkbar. Was der französische Sozialwissenschaftler Pierre Baudet in seiner Studie »Opfern ohne Ende« vorstellt, erinnert auf den ersten Seiten an ziemlich orthodoxe »Entlarvungen« der Religion. Dann allerdings wird der Schwerpunkt zeit- und kulturübergreifend auf kultische Praktiken der Wertschöpfung gelegt – auf Rituale, in denen durch die Anhäufung und Vernichtung von materiellen Werten soziales Prestige, Verschuldungsverhältnisse und Macht erzeugt werden. Diese Verwandlung empirischer in transzendentale Werte kennzeichnet auch den Kapitalismus: Alles muss arbeiten, das heißt geopfert werden. Die eigene Arbeit übersetzt sich in die Tatsache, dass das Geld für einen arbeitet. In Zeiten der Inflation und Hyperinflation geht diese von Max Weber, besser noch von Franz Baermann Steiner ana­lysierte Konvertierung des protestantischen Opfers in die Brüche. Wenn Arbeit sich nicht mehr in Geld übersetzen lässt, um sich hinter dem Rücken zu vermehren, sondern die Vermehrung nur mehr durch eskalierende Schulden erfolgt, so bekommt der Satz »Das Wort ›unmöglich‹ gibt es nicht« (Sebastian Haffner) seinen vollen Klang. Und gebiert neue Religionen für neue Ökonomien. Zu lesen mit David Graeber, Marcel Mauss und Elias Canetti.

Pierre Baudet: Opfern ohne Ende. Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Rötzer, Matthes & Seitz-Verlag, Berlin 2013, 333 Seiten, 18,80 Euro

 

Ein Loch in der Sprache

Von Jonas Engelmann

»Für E« lautet die Widmung von Georges Perecs Autobiographie »W oder die Kindheitserinnerung«, seinem Buch über das Scheitern daran, die Fragmente der Erinnerung an den bei der Verteidigung von Paris gefallenen Vater und die in Auschwitz ermordete Mutter zusammenzufügen. Zum Zeitpunkt ihrer Deportation 1941 lebt der 1936 geborene Perec versteckt auf dem Land. »Der Name meiner Familie ist Peretz. Er findet sich schon in der Bibel. Auf Hebräisch bedeutet Peretz ›Loch‹«, schreibt Perec in »W«. Der Roman »Anton Voyls Fortgang« ist um dieses Loch herum arrangiert, lässt die Abwesenheit auf jeder einzelnen Seite aufscheinen: ein Buch ohne den Buchstaben »e«, ein Lipogramm-Roman, der mehr ist als eine literarische Spielerei, als die er so oft gelesen wurde. So geht auch Ralph Schocks Nachwort zwar ausführlich auf übersehene »e« in den frühen Auflagen des Buches und die Schwierigkeiten der Übersetzung ins Deutsche ein, erwähnt jedoch mit keinem Wort die politische Dimension des Romans.

»La Disparition« heißt das Buch im Original, »Acte de Disparition« die offizielle Urkunde über die Deportation von Perecs Mutter Cyrla Szulewicz nach Auschwitz. Und schon auf der ersten Seite schreibt Perec in »Anton Voyls Fortgang«: »Bald darauf, so ausfällig ward das Volk, griff man sogar Muslims aus Nordafrika an und natürlich Buchbaums und Abrahams und was sonst noch jüdisch war. So kams zum Pogrom in Drancy, in Livry-Gargan, in Saint-Paul. Dann folgt die Abschlachtung von Nachbarn, nur so zum Spaß.« In der Pulp-Kriminalstory von »Anton Voyls Fortgang« verschwindet nach und nach eine Sippe, Morde und Anschläge löschen ein Familienmitglied nach dem anderen aus, alles läuft zu auf die Erfahrung des Todes. Auch wenn sich Perec mit »Anton Voyls Fortgang« an den Formexperimenten der Oulipo-Gruppe um Raymond Queneau orientiert, zeigt jeder Satz, dass es ihm um mehr geht als um eine Kriminalgeschichte im experimentellen Gewand: Vielmehr ist er auf der Suche nach einer Form, in der die Abwesenheit, die Vernichtung der europäischen Juden, nicht sprachlich beschrieben wird, sondern der Sprache selber als Abwesenheit eingeschrieben ist.

Dass diese Form in der deutschen Übersetzung die Sprache noch auswegloser erscheinen lässt als im Französischen, und, wie der Übersetzer Eugen Helmlé im Nachwort schreibt, etwas zusätzlich Inhumanes bekommt, dürfte ganz im Sinne des 1982 verstorbenen Perec sein. »Sätze der Anteilnahme, des Mitgefühls, des persönlichen Interesses an einer Person, die im täglichen Umgang so ungemein zählen und die menschlichen Beziehungen einigermaßen erträglich gestalten, sind in dieser Sprache nicht mehr möglich«, so Helmlé. Das Lesen von »Anton Voyls Fortgang« wird so zur vom Autor beabsichtigten Qual, immer wieder stockt und stolpert man, ein Lesefluss will sich nicht einstellen. Konsequenter als Perec hat kaum ein Autor die eigenen Verletzungen, die eigene Hilflosigkeit in der Suche nach einer angemessenen Form, die Vernichtung der europäischen Juden zu erfassen, und das Scheitern daran, ausgestellt. Selbst der Roman verliert am Ende seinen Glauben an die Sprache: »Doch ich komm nun Schritt für Schritt an das ran, wozu man auch Schlusspunkt sagt, wo auch ’n Hinhaltevortrag uns nichts nützt und auch Sprachfluss nicht, obwohls das war, was uns schuf und was uns nun kaputtmacht, in’n Abgrund stößt, ich bin ganz nah am Tod, wo gischtfingrig nach mir grapscht.«

Georges Perec: Anton Voyls Fortgang. Aus dem Französischen übersetzt von Eugen Helmé, Diaphanes-Verlag, Berlin 2013, 14,95 Euro

 

Immer noch einsam

Von Stephan Grigat

Bei manchen Autoren ist völlig unbegreiflich, wie sie über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten konnten. Der Auschwitzüberlebende und Historiker Joseph Wulf, der in Deutschland als erster die Ermordung der europäischen Juden ins Zentrum der Darstellung des Nationalsozialismus gerückt und die postnazistische Volksgemeinschaft mit der Shoa konfrontiert hat, ist so einer. Nach seinem Freitod 1974 und einer frühen Würdigung durch einen Dokumentarfilm von Henryk M. Broder aus dem Jahr 1977 kam er in Diskussionen über den Nationalso­zialismus und die Aufarbeitung der deutschen Verbrechen kaum noch vor. Erst Nicolas Berg hatte ihn mit seiner Studie »Der Holocaust und die westdeutschen Historiker« 2004 wieder in Erinnerung gerufen. Zu Wulfs 100. Geburtstag ist nun eine umfassende, akribisch recherchierte Biographie des Heidelberger Historikers Klaus Kempter erschienen.

Der in Krakau aufgewachsene Wulf gehörte während des Zweiten Weltkriegs zu einer jüdischen Widerstandsgruppe in Polen. Bereits 1945 begann er, Dokumente über die deutsche Besatzung zu publizieren. 1955 veröffentlichte er mit Léon Poliakov die Dokumentensammlung »Das Dritte Reich und die Juden«. Bald darauf folgten »Das Dritte Reich und seine Diener«, »Das Dritte Reich und seine Denker« und zahlreiche weitere Studien.

Gegen die strukturalistischen und funktionalistischen Verharmlosungen des National­sozialismus sprach Wulf von individueller Täterschaft und persönlicher Verantwortung. Bereits Mitte der fünfziger Jahre räumte Wulf mit dem Mythos von der »sauberen Wehrmacht« auf. Gemeinsam mit Poliakov stellte er die Rolle des Auswärtigen Amtes während des Nationalsozialismus dar – Jahrzehnte vor jener von Joschka Fischer mitinitiierten Studie über die deutschen Nazi-Diplomaten, um die 2010, als die meisten von ihnen nicht mehr am Leben waren, großes Tamtam gemacht wurde.

Zu Recht weist Kempter darauf hin, dass Wulfs Leben und Werk als »ein Seismograph der Entwicklung vergangenheitspolitischen Denkens und Argumentierens« in Deutschland angesehen werden kann. Jenen nichtjüdischen Historikern, welche die Debatten lange dominierten, galt Wulf stets als verdächtig, ­allein schon, weil er als Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik »befangen« sei. Während der etablierten Geschichtswissenschaft ein völlig falsch verstandenes wissenschaftliches Objektivitätsgebot lange Zeit zur Schuld- und Erinnerungsabwehr und zur Empathieverweigerung diente, schrieb Wulf seine Werke ausgehend von seinen Erfahrungen mit der deutschen Vernichtungsmaschinerie und nahm die Volksgemeinschaft als Ganzes ins Visier.

Es zählt zu den Verdiensten der Studie von Kempter, Wulfs stets öffentlich proklamierte Solidarität mit Israel, die auch von jenen NS-Forschern gerne unter den Tisch fallen gelassen wird, die sich mittlerweile positiv auf ihn beziehen, ausführlich darzustellen. In einem Brief kündigte Wulf 1970 Jean Améry seinen Plan zu einer Dokumentation über den Zionismus an. Sie solle »speziell den Angehörigen der ›Neuen Linken‹, die in ihrer Ignoranz über Zionismus als Neokolonialismus, Faschismus u. dgl. sprechen, (hoffentlich) Anlass zum Nachdenken und Studium geben«. Nachdem die Bundesregierung unter Willy Brandt während des Yom-Kippur-Krieges 1973 US-amerikanische Waffenlieferungen über Deutschland an die israelische Armee untersagte, notierte Wulf verbittert, der Bundeskanzler habe mit dem Kotau vor den arabischen Staaten seinen Kniefall von Warschau »annulliert«. Israel sei nunmehr »beinahe so einsam« wie die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus.

Der wissenschaftliche Autodidakt blieb zeitlebens ein antiakademischer Forscher im besten Sinne. In finanziell prekärer Lage und trotz eines bewundernswerten Kampfgeistes reichlich resigniert, nahm sich Wulf, der bis zuletzt ein Außenseiter ohne dauerhafte institutionelle Anbindung blieb, 1974 in Berlin das Leben. An seinen Sohn David schrieb er: »Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«

Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Vandenhoeck&Ruprecht-Verlag, Göttingen 2012, 422 Seiten, 65 Euro

 

Parcours der Qual

Von Jakob Hayner

Manchmal müssen Dinge ihres hässlichen Gewandes entledigt werden, damit ihrer Erscheinung Gerechtigkeit widerfährt. Ein solcher Fall ist der im Fischer-Verlag erschienene Band »Die Zeit, die uns bleibt« von Toshiki Okada, einem 1973 im japanischen Yokohama geborenen Theaterautor, Regisseur und Schriftsteller. Der gesamten Aufmachung des Buches scheint an einer systematischen Verwirrung des Betrachters gelegen zu sein. Den Einband zieren Lettern, deren Typographie an die Anfänge des Computerzeitalters erinnern, in grellem Pink und Grün auf schwarzem Grund, dem sich – nahezu mystisch – die Andeutungen eines menschlichen Gesichts entringen.

Die so­genannte Aufmachung des Buches im Achtziger-Disco-Retro-Design korrespondiert in keiner erkennbaren Weise mit dem Inhalt. Irreführend an der Grenze zur vorsätzlichen Täuschung wird es jedoch im Klappentext. Dort ist zu lesen, dass die erzählte Welt Okadas durch »Kriege, Naturkatastrophen und Reaktorunfälle« gekennzeichnet sei. Die reißerische Verwendung des Plurals wirkt schon irritierend. Tatsächlich ist in dem Buch von einem Krieg, dem dritten Golfkrieg, die Rede. Wo nun aber in dem Buch, das – am Rande bemerkt – bereits 2007 im japanischen Original erschien, die »Naturkatastrophen und Reaktorunfälle« zu finden sein sollen, wird wohl ein Geheimnis derer bleiben, die im Wunsch, einen japanischen Autor zu bewerben, zielsicher den neuralgischen Punkt der German Angst getroffen haben.

Tokishi Okada erzählt von jungen Menschen in Japan, denen die Welt abhanden gekommen und deren Leben vorbei ist, bevor es beginnen konnte. Die zweite der beiden Erzählungen mit dem Titel »Der Plural meiner Orte« ist von einer Atmosphäre der Verwesung durchzogen, sie steckt in den schimmligen Wänden der lichtlosen Wohnung. Auf einer Matratze auf dem Fußboden vegetiert eine junge Frau, deren Aktivität sich auf die Veränderung der Anordnung der Gliedmaßen auf dem Laken zur Verhinderung des Wundliegens, das ziellose Streifen durch das Internet mittels Laptop und das Warten auf Mobiltelefon-Nachrichten, die nie kommen, beschränkt.

Die Welt Okadas scheint von einem Fluch befallen, der alles hat sterben lassen und es doch wieder belebt hat. Das Untote wird zur Metapher des verdinglichten Lebens. Der Gestank der Fäulnis, der der Protagonistin entweicht, lässt sie einen tiefen Schrecken erfahren, doch der Schock speist sich aus der Gewissensangst, der zu befürchtenden gesellschaftlichen Ächtung. Am Anfang der Verdrängung steht die soziale Angst. Die eigene Starre zu überspielen und permanent zu variieren, ist das Merkmal des narzisstischen Charakters, der getrieben und ruhelos um sich selbst kreist. Die eigene Verstümmelung, die versucht, sich leiblich ins Bewusstsein zu schleichen, darf als Disparates nicht in Erscheinung treten. Die Zersetzung greift auf die Vergangenheit über, alles verschimmelt und verwest.

In dem Wandschrank, in den sich eine Kakerlake flüchtet, verrotten die Dinge, »die nicht mehr gebraucht wurden, zusammen mit alten Briefen, Spielkonsolen meines Mannes von vor wer weiß wie vielen Generationen und der dazugehörigen Software sowie Kunstwerken aus meiner Zeit an der Kunsthochschule«. Die Frau gehört zur Generation der Freeter, junger Menschen in Teilzeitjobs nach dem ökonomischen Boom. Sie arbeitet in einem Callcenter, der Mann hat mehrere Jobs. In Japan hat sich für die Schilderung der Lebenswelten dieser jungen Überqualifizierten und Unterbeschäftigten der Begriff der Freeter-Literatur etabliert. Doch die Freiheit, die im Begriff mitschwingt, mag sich nicht einstellen.

Ein Mann und eine Frau flüchten in das Zimmer eines Lovehotels im Tokioter Stadtteil Shibuya, »Fünf Tage im März« – so der Titel der ersten Erzählung – verbringen die beiden mit lustlosem, sportifiziertem Sex, bis die Genitalien wundgerieben sind und der Erschöpfungsschlaf von der sonst drohenden verbalen Kommunikation erlöst. Die USA erklären Saddam Hussein den Krieg und der innigste Wunsch der beiden ist, dass der Krieg vorbei sei, wenn sie nach fünf Tagen das Zimmer wieder verlassen, so, als wäre er nie geschehen, weil man sich weigerte hinzuschauen. Die Verdrängung wird nicht mehr dem Unbewusstsein überlassen, sondern von der durch Selbstoptimierung trainierten Generation in die eigene Hand genommen. Und wenn doch einmal die Verdrängung scheitert, die Phänomene des Niedergangs der globalen Ökonomie an der Fassade der Verdinglichung kratzen, so ist der Anblick kaum zu ertragen: »Auf der linken Straßenseite von der Frau aus gesehen war neben einem Telegraphenmasten ein großer Plastikeimer aufgestellt, neben dem sich ein großer schwarzer Hund aufhielt. Der Hund hatte sich vornüber gebückt und schien zwischen den Abfällen herumzuschnüffeln, die aus dem überquellenden Eimer auf die Erde gefallen waren. Doch als die Frau genauer hinschaute, war die Sachlage völlig anders. Sie hatte einen Menschen mit einem Hund verwechselt! (…) Die Frau hatte also einen Obdachlosen gesehen, der gerade seinen Darm entleerte. Nachdem sie das begriffen hatte, verspürte sie Brechreiz, und fast im selben Moment schrie sie, oder vielmehr ihre Kehle: ›O nein!‹«

Die Menschen in Okadas Erzählungen sind Deplatzierte. Ihre Funktion im ökonomischen System ist keineswegs sicher. Sie stehen zwischen dem Leiden der noch gehetzten und dem der schon überflüssigen Kreatur, zwischen dem Parcours der Qual der working poor, der tendenziell im Karōshi endet, und der Dumpfheit des nutzlosen und verachteten Körpers.

Toshiki Okada: Die Zeit, die uns bleibt. Aus dem Japanischen übersetzt von Heike Patzschke, Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2012, 160 Seiten, 16,99 Euro

 

Der totale Tatort

Von coco kleinohr

Wer noch beide Hirnhälften beisammen hat und sich – ob aus Gewohnheit, aus Freude am Überdruss, Gruppenzwang oder Zufall – am Sonntagabend die seit Ende November 1970 im Programm der ARD laufende TV-Krimiserie »Tatort« mit auch nur loser Regelmäßigkeit ansieht, denkt unweigerlich: »Das ist nun aber wirklich der allerschlechteste, dümmste, reaktionärste Scheiß, der je gesendet wurde.« Und am nächsten Sonntagabend wird man es nicht glauben wollen, dass es noch schlechter geht. Aber die Zuschauer, so wird kolportiert, lieben es. Und so nimmt es nicht Wunder, dass der Schwarzkopf & Schwarzkopf-Verlag (das ist der, bei dem jeden Monat mindestens ein Buch erscheint, in dem eine Frau ihr geheimes Sexleben beichtet) in seiner Reihe »111 Gründe …« – die Auflistung bisheriger Titel liest sich wie surreale Poesie: »111 Gründe, seinen Garten zu lieben«, »111 Gründe, Berlin zu lieben«, »111 Gründe, Heavy Metal zu lieben«, »111 Gründe, offen zu lieben« – nun auch »111 Gründe, ›Tatort‹ zu lieben« offeriert.

Als Autorenteam haben sich Silke Porath (»Jahrgang 1971 (…), zuletzt: ›Keine Panik vor der Panik‹ und der Frauenroman ›Schokolade ist auch nur Gemüse‹«) und Kurt-J. Heering (»geboren 1953 (…), seine letzten Veröffentlichungen sind ›Apokalypse 2012. Die Weltuntergangsprophezeiungen der Maya« (…) und ›50 Jahre Fußball-Bundesliga‹«) zusammengefunden. Das Buch funktioniert selbst wie ein »Tatort«: Durchweg im informierten Sensationsjargon des Boulevard-Journalismus geschrieben, versammelt es kurz- und langweilige Anekdoten aus 40 Jahren Tatort – wobei es a) hauptsächlich um die vergangenen 15 Jahre geht und b) überproportional um Folgen mit dem Kommissarenpaar Batic und Leitmayr. Natürlich kommt der erste »Tatort«-Kommissar Paul Trimmel vor (ab 1970, zehn Folgen), selbstverständlich gehört zu den 111 Gründen immer wieder Horst Schimanski (ab 1981, 29 Folgen) und erwartungsgemäß ist das Münster-Gespann Thiel und Boerne »außer Konkurrenz«. Der historische Teil wird durch wiederholte Erwähnungen von Folgen wie »Tote Taube in der Beethovenstraße« (1973) oder »Reifezeugnis« (1977) abgedeckt. Auch wenn es letzthin eine »nach Meinung der Autoren« sehr – wie man so sagt – subjektive Sicht auf die »Tatort«-Serie ist, bildet das Buch dennoch objektive Ideologie ab, eben das, was in der kritischen Theorie notwendig falsches Bewusstsein heißt: Geschrieben wird, wovon Porath und Heering glauben, dass es die Leute lesen wollen. Bestätigt wird das Buch durch den Erfolg der Serie, und der besteht in der Gemeinschaft der Millionen, die allsonntäglich für die Quoten sorgen.

Auch darin wird »Tatort« wie kaum ein anderes Produkt des bundesdeutschen Medienverbunds zum Sittengemälde, das zeigt, wie Individualität und verwaltete Welt hierzulande ineinander greifen. Kanonisiert wird »Tatort« dabei wie jedes Produkt, das nach dem deutschen Verständnis als »Kulturgut« gilt, nämlich nicht als dynamischer, gegebenenfalls fortschreitender Ausdruck des Zeitgeistes (wenige Ausnahmen zumeist alter »Tatort«-Folgen bezeugen das), sondern einzig in der mortifizierten Form als Tradition. Das begründet wahrscheinlich den Enthusiasmus der Abertausenden Fans: dass sie ein Ritual pflegen, das ihnen mit Sicherheit garantiert, immer wieder das gewohnte Alte vorgesetzt zu bekommen.

Übrigens wird gerade in der jüngeren Geschichte der Serie immer deutlicher, was den Krimi, insbesondere den Fernsehkrimi, vom Kriminalfilm, erst recht vom Thriller und von der Detektivgeschichte, unterscheidet. In den zwanziger Jahren schrieb Siegfried Kracauer: »Nicht um die naturgetreue Wiedergabe jener Zivilisation genannten Realität selber ist es ihnen (den Detektivromanen, C. K.) zu tun, vielmehr von vornherein um die Hervorkehrung des intellektualistischen Charakters dieser Realität; sie halten dem Zivilisatorischen einen Zerrspiegel vor, aus dem ihm eine Karikatur seines Unwesens entgegenstarrt. Das Bild, das sie darbieten, ist erschreckend genug: Es zeigt einen Zustand der Gesellschaft, in dem der bindungslose Intellekt seinen Endsieg erfochten hat, ein nur mehr äußeres Bei- und Durch­einander der Figuren und Sachen, das fahl und verwirrend anmutet, weil es die künstlich ausgeschaltete Wirklichkeit zur Fratze entstellt.«

Selbst im Film, sogar im deutschen, lebt dieser unheimliche Eigensinn der Detektivgeschichte fort; kein Wunder, dass die deutschen Edgar-Wallace-Produktionen der sechziger Jahre in England spielen, FBI-Agent Jerry Cotton im Trivialroman und Kino in New York agiert (die amerikanische Großstadt repräsentiert gerade im Bereich der kriminellen Kultur Internationalität). Kombinatorische Logik ist wichtig, sie konterkariert die instrumentelle Vernunft in der verwalteten Welt. Das gilt dann für den französischen Thriller und selbst für den TV-Detektiv »Columbo«.

Mit »Tatort« ist es etwas anders. »Tatort« ist national, die in ihm vorgeführte Gesellschaft keine Fratze, sondern Heimat. An Schimanski und Tanner, die als Grund 1, »Tatort« zu lieben, herhalten, ist bezeichnend, dass sie eben keine Detektive sind und auch nicht wirklich, wie Kracauer schreibt, »mit und gegen, über und zwischen Polizei und Verbrecher« agieren, sondern die sozialpsychische Komplexion von Delinquenz und Loyalität, Eigenmächtigkeit und Beamtenspießigkeit, Normativität und Illegalität als Idealtypen des konformistisch-nonkonformistischen, omnipotent-ohnmächtigen Durchschnittsdeutschen verkörpern, eben Modelle von Rollen sind, die nicht gespielt werden, sondern real erscheinen: Es sind Pseudoindividuen, die sich in den »Tat­ort«-Kommissarinnen und -Kommissaren seither wiederfinden, und mit ihrem als Aufmüpfigkeit getarnten Ressentiment den deutschen Normalzustand widerspiegeln, der mit der Ära Kohl begann. Anders gesagt: Die geistig-mora­lische Wende findet im »Tatort« ihre physische und faktische Entsprechung. Und wiederholt wie verfestigt wird das mit jeder neuen Folge der »Kult-Serie«.

Kurt-J. Heering/Silke Porath: 111 Gründe, »Tatort« zu lieben. Eine Liebeserklärung an eine ganz besondere Krimireihe, Schwarzkopf&Schwarzkopf, Berlin 2012, 347 Seiten, 9,95 Euro