Pusztaranger im Gespräch über die Schwierigkeiten der Opposition

»Alles hängt an der Nation«

Der Blogger »Pusztaranger« möchte aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Er ist ein »Deutscher, der lange in Ungarn gelebt hat« und seit 2009 zur Lage in Ungarn publiziert. Das Blog pusztaranger.wordpress.com ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Informationsquellen zur Situation in Ungarn.
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Welche Gefahren gehen Oppositionelle in Ungarn ein, die gegen die Regierung auftreten?

Das kommt darauf an, wie man vernetzt ist. Den Journalisten vom Transparenzportal atlatszo.hu kann, nach einigen Anfangsproblemen mit Polizei und Staatsanwaltschaft, vorläufig nicht allzu viel passieren. Wer sich als Privatperson ohne institutionellen Hintergrund mit Äußerungen gegen Rechtsextremismus exponiert, findet sein Foto und seine Adresse schnell auf den rechts­extre­men Internetportalen wieder und wird massiv belästigt und bedroht. Oder auch angezeigt, die Rechtsextremen haben einen eigenen juristischen Apparat mit direktem Draht ins Parlament und in die Budapester Anwaltskammer. Wer sein Gehalt von staatlichen Institutionen bezieht, riskiert schon bei minimalen oppositionellen Aktivitäten seinen Job. Als eine Gruppe ziviler Aktivisten neulich aus Protest gegen die Verfassungsänderungen friedlich die Fidesz-Zentrale besetzte – sie überkletterten den Zaun und setzten sich auf den Hof –, wurde das Gebäude von Anhängern der Ultraszene des Fußballklubs Ferencváros FTC »gesichert«, darunter ein frisch aus der Haft entlassener Mörder. Der Präsident des FTC ist Fidesz-Generalsekretär Gábor Kubatov. Die Polizei war präsent, griff aber nicht ein. Eine Fidesz-Abgeordnete erklärte die Maßnahme später damit, dass man der Opposition keine Steilvorlage für die Negativschlagzeile liefern wolle, Fidesz setze die Polizei gegen Oppositionelle ein.

Hat die Opposition Chancen, die gegenwärtige Regierung abzulösen oder ein gesellschaftliches Umdenken einzuleiten?

Es hängt alles davon ab, ob und wie die zersplitterte demokratische Opposition ein funktionsfähiges Bündnis zustande bringt, und noch ist sie nicht so weit. Viele Ungarn warten auf eine wählbare Alternative, aber noch sehen sie keine – ein Jahr vor den Wahlen. Das verheerende Krisenmanagement der Regierung beim Schneechaos am Wochenende dürfte mehr zum gesellschaftlichen Umdenken beigetragen haben als die Aktivitäten der Opposition – wer bei Minustemperaturen 20 Stunden im Auto festsitzt, ohne dass Hilfe kommt, dürfte unabhängig von der politischen Einstellung das Gefühl bekommen, dass da irgendetwas Wichtiges nicht funktioniert.

Welche Rolle spielen die Medien?

Sarkastisch gesagt, funktioniert die Pressefreiheit wie unter Kádár nach dem Motto »Unterstützung, Duldung, Verbot«. Es gibt in Ungarn keine große, parteiübergreifende Öffentlichkeit. Ungarn ist in mehrere Paralleluniversen aufgeteilt, die jeweils ihre eigenen Medien haben. Fidesz kontrolliert und manipuliert die öffentlich-rechtlichen Medien, auf die vor allem die Provinz als Nachrichtenquelle angewiesen ist. Die dem politischen »Feind«, den Sozialisten, nahestehenden Medien stehen auf der Abschussliste. Seit 2010 wird versucht, sie über die Medienbehörde und wirtschaftlich lahmzulegen. Das oppositionelle Klubrádió hat nach einem Prozessmarathon gegen die Medienbehörde jetzt endlich doch seine dauerhafte Frequenz zurückbekommen. Daneben gibt es einige sehr kritische unabhängige Medien, die für die Regierung aber keine Gefahr darstellen, weil sie kaum Beachtung finden.

Welchen Rückhalt hat die Regierungspolitik in der Gesellschaft?

Der Staat wird von der Fidesz-Spitze und den Fidesz-Oligarchen wie ein korruptes Unternehmen geführt. Orbáns Unterstützung basiert auf der allgemeinen Annahme, dass man ihm und seinen Jungs auch wider besseres Wissen freie Hand gibt und der Staat im Gegenzug für einen sorgt. Weil das über den Verstand nicht geht, ist die von der Regierung betriebene Sakralisierung der Nation so wichtig, der »Glaube an die Nation«. Der wird von der Fidesz-Klientel mit Zähnen und Klauen verteidigt, denn daran hängt scheinbar alles, der Job, die Abzahlung der Wohnung, das Studium der Kinder, das ganze soziale Umfeld. Weil der Staat aber nicht für alle sorgen kann und will, sondern nur für die eigenen Leute, wird umso stärker gegen die »Feinde der Nation« und das verarmte untere Drittel der Gesellschaft, vor allem die Roma, gehetzt. Hier kommen arbeitsteilig die Rechts­extremen von Jobbik ins Spiel, die tun und sagen, was Fidesz zu radikal ist. Als völkische Opposition können sie Fidesz vor sich hertreiben und sich selbst als Partei der sozialen Gerechtigkeit für die ethnischen Magyaren positionieren. Das können sie, weil es keine im hiesigen Sinne linke Kraft gibt, die dieses Thema aufgreift – die Sozialisten sind diskreditiert und vertreten zudem eine neoliberale Wirtschaftspolitik.
Noch ist unklar, was unter der Regierung Orbán langfristig mit dem unteren Drittel der Bevölkerung passieren soll. Der Wirtschaftswissenschaftler László Bogár, der im regierungsnahen rechtsextremen Echo TV als informelles Sprachrohr der Regierung gilt, sagt jetzt schon, der Staat müsse »ein Drittel der Bevölkerung auf dem Weg zurücklassen, um den Fortschritt der Mehrheit nicht zu gefährden«.

Wie würden Sie die ideologische Ausrichtung der Regierung nennen?

Fidesz ist die ungarische Version der Neuen Rechten, mit einem zynisch-pragmatischen und einem fanatisch völkischen Flügel, der sich ideologisch mit den Rechtsextremen deckt und innerparteilich völlig akzeptiert ist.

Arme, Obdachlose, Bettler, Juden, Roma, Schwule, Andersdenkende – sie alle gelten als Feindbilder. Woher kommt diese Xenophobie? Und gab es diese Ressentiments in Ostblock-Zeiten auch schon?

Xenophobie ist der falsche Begriff, hier geht es nicht um die Angst vor Fremden, sondern vor den Abgründen der eigenen Gesellschaft, da kommt die nicht aufgearbeitete und verdrängte Geschichte von zwei Systemen wieder hoch. Das Bild der »christlichen ungarischen Nation« ist historisch schwer belastet, die nostalgische Rehabilitierung der Horthy-Ära durch die Regierung Orbán aktiviert auch ihren aggressiven Antisemitismus wieder neu. Unter Horthy war die stufenweise Entrechtung und Enteignung der jüdischen Mitbürger eine sozialpolitische Maßnahme zur Befriedung der verarmten magyarischen Bevölkerung. Am Ende von 25 Jahren staatlichem, politischem, kulturellem und religiösem Antisemitismus stand 1944 der ungarische Holocaust, die Deportation der jüdischen ungarischen Bürger durch den ungarischen Staat, von deren geraubtem Besitz Teile der ungarischen Bevölkerung unmittelbar profitierten: Das magyarische Volk hatte sich von seinem »Parasiten« befreit. Das wurde bis heute nicht aufgearbeitet.
Was unter Horthy Recht war, wurde im Sozialismus zu Unrecht erklärt und tabuisiert; heute wird wiederum der Sozialismus zur Epoche des Unrechts und der Lüge erklärt, so dass die Epoche davor nostalgisch verklärt als eine Epoche nationaler Größe, als »wahr« und »gerecht« erscheint. Viele Leute denken, der Holocaust sei von den Deutschen verübt worden, die Ungarn hätten nichts damit zu tun gehabt, und wer ihn ständig thematisiere, tue dies aus finanziellen Interessen. Das Märchen von der »jüdischen Weltverschwörung« ist heute in Ungarn beliebt wie nie.

In der EU wird über den Umgang mit Ungarn diskutiert, aber Fidesz ist in der Europäischen Volkspartei (EVP), der konservativen Fraktion im Europa-Parlament, in der auch CDU und CSU Mitglied sind, völlig akzeptiert.

Ich denke, irgendwann wird ein Punkt erreicht sein, wo auch die EVP Orbán ihre Unterstützung entziehen muss. Je früher, desto besser. Da ist zum Beispiel die Frage, wozu Orbán und Kövér jeweils eine eigene Leibgarde brauchen. Die neue bewaffnete »Parlamentsgarde« ist befugt, Abgeordnete auf Weisung des Parlamentspräsidenten notfalls unter Gewaltanwendung aus dem Saal zu entfernen und hat im Aufgabenbereich Personenschutz laut Gesetz ausschließlich die Person des Parlamentspräsidenten zu schützen. In dieser Funktion ist sie auch berechtigt, den Verkehr auf öffentlichen Straßen zu regeln, zu sperren und in diesem Zusammenhang Fahrzeuge anzuhalten und Personenkontrollen durchzuführen.

Indem die ungarische Regierung ständig so offen die EU düpiert und die ganze »idiotische westliche Welt«, wie es Fidesz-Mitbegründer Zsolt Bayer formulierte, stellt sich die Frage, ob die Regierung denn außenpolitische Alternativen hat oder ob sie sich bewusst isoliert.

Für Fidesz ist die EU ein Auslaufmodell kurz vor dem Zusammenbruch, sie wollen noch mitnehmen, was geht, aber langfristig orientieren sie sich ostwärts. Die neuen strategischen Partner sind Russland, China, Aserbaidschan, Saudi-Arabien und der Iran.