Die Repression gegen »Naturfreunde« und Bergsteiger während der Nazi-Zeit

Berg als Rettung

Bergsteiger, Wanderer und Kletterer halfen bei der Flucht vor den Nazis.

Der Schriftsteller Oskar Maria Graf lässt in seinem Roman »Der Abgrund« die Figur Joseph Hochegger jr. sagen: »Am andern Tag sind wir fort. Es ist doch gut, dass wir als alte ›Naturfreunde‹ Bergsteigen gelernt haben und Winkel und Steige wissen, wo sich heute noch keiner von den feigen Hitleristen hintraut.« In Deutschland waren die »Naturfreunde«, die Wander- und Bergsteigerorganisation der Arbeiterbewegung, kurz nach der Machtergreifung der Nazis 1933 verboten worden. Doch ab 1933 organisierten Bergsteiger illegal einen Hilfsdienst, der bedrohte Menschen über Bergwege von Deutschland nach Österreich führte.
Solche Einsätze wurden von Eduard Rabofsky koordiniert. Der Arbeiterbergsteiger erinnert sich: »Vom Hochkönigmassiv über das Steinerne Meer bis zu den Lechtaler Alpen und dem Bregenzer Wald erstreckte sich später ein solcher Hilfsdienst, vorwiegend von Naturfreundemitgliedern persönlich geleistet oder organisiert.« Manchmal, wenn auch selten, gab es Hilfe aus der Bevölkerung. In der alten Wildererergegend um Lenggries konnte eine zeitweise mindestens 30 Personen umfassende Gruppe um den Kommunisten Sepp Raab aus dem oberbayerischen Penzberg sich mit Hilfe der Bevölkerung vermutlich bis 1936 in Wäldern versteckt halten. Sie nächtigte in Höhlen und Heustadeln, und zur Ernährung wurde gewildert.
In Sachsen, im Elbsandsteingebirge südlich von Dresden, war der antifaschistische Widerstand von Bergsteigern am stärksten. Bislang sind 600 sächsische Wanderer, Kletterer und Bergsteiger, Touristen, »Naturfreunde«, Mitglieder der »Naturfreunde«-Opposition, aber auch des Sächsischen Bergsteigerbundes und des DÖAV bekannt, die mit dem NS-Regime in Konflikt gerieten, die verfolgt, inhaftiert, verurteilt oder hingerichtet wurden. »Widerstand gegen das Regime«, sagt Joachim Schindler aus Dresden, der seit Jahrzehnten das Phänomen der Roten Bergsteiger erforscht, »das waren in den seltensten Fällen spektakuläre Aktionen.« Meist war es mühsame Kleinarbeit im Verborgenen, von der bis heute kaum etwas bekannt ist. Erschwert wurde sie durch die Spaltung der Arbeiterbewegung: Die Naturfreunde waren eher sozialdemokratisch; sie brachten etwa 1933 Wilhelm Hoegner, nach 1945 sozialdemokratischer Ministerpräsident Bayerns, über das Karwendelgebirge nach Österreich, später in die Schweiz. Die »Naturfreunde«-Opposition, Vereinigte Kletterabteilung (NFO/VKA) hingegen stand der KPD nahe. Dazu kamen noch andere Abspaltungen. Eine Gruppe der NFO/VKA-Opposition um Gerhard Grabs, den Leiter der Dresdner Marxistischen Arbeiterschule, galt ab 1932 nicht mehr als linientreu, sondern als trotzkistisch.
Die hundertköpfige Gruppe war großteils in Loschwitz angesiedelt, einem kleinen Ort bei Dresden. Grabs und seine Genossen organisierten bis 1936/37 eigenständig Flucht- und Schmuggeldienste über die deutsch-tschechische Grenze: 60 umfangreiche Literaturtransporte kamen so zustande, die Gruppe sorgte auch für die Verteilung ihrer eingeschleusten Materialien in Mitteldeutschland. Und sie führten bedrohte Menschen aus Nazideutschland heraus. Bis 1937 ging das, als die Gruppe durch Spitzel der Gestapo aufflog.
In der DDR wurde die Widerstandsarbeit, gerade die der NFO/VKA, oft übertrieben dargestellt. 1967 lief im DDR-Fernsehen die Serie »Rote Bergsteiger«. Da wurden die kommunistischen Kletterer als mutige Kämpfer und große Strategen präsentiert, die in den Höhlen des Elbsandsteingebirges ein illegales Büro errichtet hätten. Die »Höhle am Satanskopf«, die manchmal auch »Büro am Satanskopf« genannt wird, soll, so wurde es in der DDR offiziell verbreitet, ein Vierteljahr lang als Büro für den Widerstand fungiert haben: mit Schreibtischen, Stühlen, Schränken, Schreibmaschinen und einer Druckmaschine. »Das Klappern der Schreibmaschine schallte über einen Grund hinweg bis zum Fremdenweg«, heißt es in einer Broschüre, die schon 1948 verbreitet wurde.
Es gab solche Widerstandsorte in der Tat: Im Krottenseer Forst im Frankenjura beispielsweise nutzte eine Widerstandsgruppe eine schwer zugängliche Grotte, um dort Flugblätter zu drucken. Aber zu dem Büro im Satanskopf sagt ­Joachim Schindler: »Das ist eine Mär. Die Maschinen waren nur acht Wochen in der Höhle, und gedruckt wurde nur einmal: 150 Flugblätter.« Dabei schepperte es, weil die Alpinisten die Akustik falsch berechnet hatten, derart laut im ganzen Tal, dass alles wieder abgebaut und mühsam zurück über die Grenze transportiert werden musste.
Solche Pannen und die Übertreibung durch die DDR-Propaganda sollten jedoch nicht den Respekt vor den Widerstandskämpfern schmälern. Gerade die Fluchthilfe war höchst gefährlich und rettete etlichen Menschen das Leben. »Und da gingen wir nun nächtens die Wege wieder, die wir sorglos als junge Naturfreunde gewandert«, berichtete einer der Bergsteiger, »da trugen wir die alten Rucksäcke wieder, in denen nun statt des Kletterseils des tatendurstigen Bergsteigers ihre letzte Habe verstaut waren, da führten wir SIE die gewundenen Pfade hinüber, auf denen wir einstens mit unseren Liebsten so gerne gegangen.«
Die Berge boten auch einen Rückzugsort für Deserteure. Einer war Dietmar Schönherr. Der später berühmte Schauspieler hatte sich im Mai 1944 freiwillig zu den Gebirgsjägern gemeldet. Im April 1945 flüchtete Schönherr von der Truppe. Mit anderen Deserteuren ging er in die Tiroler Berge, wo sie in einem Berghof von einem Bauern versteckt wurden und das Kriegsende abwarteten. Einmal wäre Schönherr von den Feldjägern fast erwischt worden, berichtete er in einem Interview: »Wir standen da bei Ried in den Lederhosen in den Bergen und erklärten den Feldgendarmen bei einer Kontrolle, dass wir keine Soldaten gesehen hätten. Sie haben uns geglaubt. Oder sie haben sich einfach gefürchtet, dass der Widerstand sie erwischt.«
Franz Stolzlechner hatte nicht so viel Glück wie Schönherr. Der Wirtssohn aus St. Peter in Südtirol hatte den Heimaturlaub im Sommer 1943 genutzt, um aus politischen Gründen zu desertieren. Gemeinsam mit den gleichfalls fahnenflüchtigen Brüdern Alois und David Holzer versteckte er sich in einer Höhle. Als er im Januar 1944 gerade Lebensmittel besorgte, wurde er von einem Gendarmen entdeckt und angeschossen. In Wien wurde er wegen Hochverrats verurteilt und am 9. Juni 1944 hingerichtet. Versorgt wurden die drei Deserteure bis zu ihrem Auffliegen in ihrer Höhle von Anton Stolzlechner. Der Vater von Franz flüchtete nach Nordtirol, wo er von einem Bauern bis zum Kriegsende versteckt wurde.
Zu den mutigen Menschen, die Deserteure versteckten, gehörte auch Delphina Burtscher aus der Parzelle Küngswald im hintersten Teil des Großen Walsertals. Ihre Brüder Wilhelm und Leonhard sowie ihr Verlobter Martin Lorenz desertierten 1943 und 1944. Burtscher versteckte alle, doch Denunziationen ließen sie auffliegen. Ihnen wurde vorgeworfen, eine Widerstandsgruppe namens »Österreichische Freiheit« gegründet zu haben. Wilhelm Burtscher und Martin Lorenz überlebten den Krieg nicht. Auch das Ehepaar Anton und Rosa Stallbäumer aus Sillian in Osttirol gehört zu den mutigen Helfern. Anton Stallbäumer war Mechaniker und Taxiunternehmer, im Mai 1942 hatte er zwei Personen, die auf der Flucht waren, in seinem Taxi mitgenommen. Er beherbergte sie für eine Nacht und zeigte ihnen den Weg nach Italien. Die beiden wurden jedoch von der Gestapo aufgegriffen, und Anton Stallbäumer kam für anderthalb Jahre wegen »Judenfreundlichkeit« ins KZ Dachau. Rosa Stallbäumer brachte man nach Auschwitz, am 23. November 1942 wurde sie dort umgebracht.
Eduard Rabofsky berichtet von einem »Beispiel konspirativen Widerstands«. Die Hüttenwirtin Irene de Crinis von der Kaunergrathütte (2 800 Meter) half Rabofsky, als dieser für die Kommunistische Partei von Juli bis September 1941 von der Hütte aus mit dem Funkgerät Kontakt zum Exil aufnahm. »Aufgestellt wurde das Gerät im Schlafraum von Frau de Crinis, die also stets bei Sendungen anwesend war, um das Erscheinen anderer Personen zu verhindern und den Generator zu bedienen«, berichtete Rabofsky später. Die Initiatoren der Funk­aktion, Leo Gabler und Fritz Hedrich, wurden 1944 in Wien hingerichtet. Auch Rabofskys Bruder Alfred wurde ermordet.
In die Chronik der Fluchten ins und übers Gebirge gehört auch der Name Sepp Plieseis. Dem österreichischen Kommunisten gelang im Oktober 1943 die Flucht aus einem Nebenlager des KZ Dachau in Hallein. Er versteckte sich in den Bergen, wo er bald zu der aus über 500 Partisanen bestehenden Gruppe »Willy« (später Gruppe »Fred«) gehörte, die bewaffneten Widerstand organisierte und Gefangene befreite. Nach dem Sieg der Alliierten war es Plieseis’ Gruppe, die für die Verhaftung des NS-Verbrechers Ernst Kaltenbrunner sorgte. Auch der hatte sich in einer abgelegenen Alm versteckt.