Abdruck aus »Das Affenhaus«

Das Affenhaus

Jochen Beyse schreibt in der Abgeschiedenheit des Dickichts an einem neuen Dschungelbuch.

Ich lebe hier oben in Ruhe. Offengestanden, ich langweile mich ab und zu. Alle Geräusche sind mir vertraut. Das Grün der Wälder stumpft ab. Schwer liegen die Himmel über mir. Es ist manches anders gekommen, als ich erwartet habe. Ich habe mich damit abgefunden. Meine Lebensgeschichte wird von Umständen beherrscht, die ein unbegreiflicher Geist in Szene setzt. Halt. Ich habe nicht die Absicht, über meine Abenteuer zu berichten. Ich werde mich nicht auf dieses Spielchen einlassen. Und so verlockend der Weg der reinen Dichtung immer sein mag, auch seine Richtung habe ich niemals eingeschlagen. Ich werde mich an keiner Verfälschung der Wahrheit beteiligen. Die uralte Prozession der Worte, ihre Möglichkeit, nie endende Bedeutungsreihen bilden und einer tauben und stummen Welt als Köder an einer unsichtbaren Schnur vorhalten zu können, beschwört die Geheimnisse des Universums, ich aber widerstehe dem Sog dieser Verführung. Man muss die Dinge in aller Ruhe ins Auge fassen, und sie gewinnen einen heiligen Zauber, der die Macht der Worte in den Schatten stellt. Ich möchte dafür den Beweis antreten. Das ist mein Programm. Die Dinge zum Sprechen bringen. Bitte. Hier beginnt mein Unternehmen. Das erste Kapitel. Absatz. Ich habe nicht die Absicht, über meine Abenteuer zu berichten. Die Seele eines Pioniers lebt nicht aus dem Schatz ihrer Erinnerungen, sie sprengt die Höhle der Zeit und verschiebt die Grenzen der Kontinente. Zur Sache. Das erste Kapitel, noch einmal. Ich beginne ganz vorne. Absatz. Sonderbar, aber nicht unwahrscheinlich die Tatsache: Ich halte mich im schwarzen Erdteil auf. Ich war in das Dickicht aufgebrochen, mein Glück zu behaupten. Reizend, nicht wahr, ­dieses Unternehmen einer Glücksritterschaft in unseren Tagen. Aber diese Zeiten liegen ja weit zurück. Eine Welt, in der man sich entfalten konnte und ungehindert seinen Bedürfnissen nachkommen, lag vor mir. Ja, ich war, in jungen Jahren bereits, angekommen an einem Ort, den ich lieben und verachten durfte, ein Universum mit zarten, furchtbaren Besitztümern. Nein. Es geht nicht. Ich finde keinen Einstieg in die Geschichte. Es geht nicht. Das Anfangskapitel. Hier beginnt es. Absatz. Oben in der Luft. Unten am Boden. Der Körper mit der Kraft und Geschmeidigkeit einheimischer Großkatzen. Die Anpassung des Geistes an die Bedingungen der Natur ist seit Jahrzehnten abgeschlossen. Unter der Decke der Vegetation geschieht Geheimnisvolles, solange diese Phase dauert. Der Körper nimmt die Farben seiner Umgebung an. Der Geist spürt jede Nische auf und verspannt sich im Gefüge wilder Blätterkaskaden. Er beschwört die Welt der Urwaldgötter, um seine Tarnung zu vervollkommnen. Und Körper und Geist, dieses groteske Zwillingspaar, durchleben gemäß den Gesetzen dieser fremden, vorgeschichtlichen Welt jeder für sich den Wind, den Regen, die Lockungen und Gefahren des Dschungels. Und der Körper, auf sich allein gestellt, holt den Geist in sein Gefüge. Und der Geist, frei entlassen in das Universum der Materie, verankert sich in den Wurzeln seines Körpers. Beide Teile, streng halbiert und vom Anpassungsdruck dahin gezwungen, die jeweils fehlende mit den Mitteln der verbliebenen Hälfte nachzubilden, vervollständigen sich und treffen erneut zusammen und verschmelzen. Aber wie viel Umschweife und Ängste, Verzauberungen und Ernüchterungen, bis diese ideale Wiedervereinigung erreicht ist. Tarzan hatte sie erreicht. Denn in jenem Alter, da der gewöhnliche Mensch seine Möglichkeiten zu entdecken beginnt, war unser junger Mann eine vollkommen ausgebildete Person, gewachsen und gereift an seinen Erfahrungen mit dem Ort seines Daseins, Pal-ul-don. Nein. Ich kann nicht in der dritten Person schreiben. Ich habe es nie gekonnt, ich weiß nicht warum. Aber meine Versuche in dieser Richtung haben nie aufgehört. Und eines Tages werde ich in der Lage sein, meine Geschichte in einer Form zu präsentieren, die aus meinem Leben eine Legende macht. Das steht fest. Mein Leben als Legende. Zurück an den Anfang. Absatz. Eines Tages erreichte ich die grünen Hügel Afrikas und erklomm ihre Hänge und wanderte durch Täler und weite Ebenen, durchmaß die breiten Flüsse eines Deltas und eroberte dieses große, uralte Land. Weiter. Ich hatte die Logik einer gesunden und normalen Entwicklung außer Acht gelassen. Ich hatte alle Verbindungen hinter mir rücksichtslos gekappt. Ich war ausgebrochen aus den Pfaden der Herdenmenschen und hatte mich den Wildwechseln der Tiere anvertraut, diesen Geschöpfen einer unbekümmerten, instinktbeherrschten Welt. Ich war nicht frei, anfänglich. Ich hatte ein umfangreiches Programm zu absolvieren. Die Sprache der Menschen, die Herrschaft ihrer Begriffe und Konjunktive und Inversionen hatte mich erst berauscht, schließlich verdorben und wehrlos gemacht. Ich verlangte nach neuen Sicherheiten. Das ist urmenschlich. Die Sprache der Tiere war der Lehrstoff, mit Hilfe dessen mein verwirrter Geist Beruhigung finden sollte. Ja, ich fühlte mich angezogen von den reinen Kräften der Natur, und, was wichtiger ist, ich jagte allen Anzeichen hinterher, aus denen zu erkennen war, dass der Mensch ursprünglich in der Natur wurzelt und aus ihr hervorwächst und der Würde ihrer Erscheinungen und Bewegungen und Gesetze unterworfen bleibt. Lebenslänglich. Das ist das entscheidende Stichwort. Lebenslänglich, ich wiederhole. Vielleicht gab es noch andere Gründe, nach Überzeugungskräften zu suchen, ich weiß es nicht. Ich war jedenfalls am Ende, als ich dieses Land betrat. Ich litt, glaube ich, an verschiedenen Krankheiten, Schwächen psychischen Ursprungs. Ich lebte im Grenzland jener Erfahrungen, die zu beschreiben die Existenz mehrerer Personen in ein und demselben Geist voraussetzt. Ich suchte die Nähe der Tiere, um in ihrer Gegenwart meine Fortschritte im Vergessen der Sprache zu beschleunigen. Die Kräfte der Natur zerrten an meinem Leib. Ich bestand darauf, eine Fellhose zu tragen, obwohl mein weichlicher Körper nach seinem Khakitrikot verlangte. In dem Maße, wie ich die Bewegungen des Kopfes als Einbildungskräfte zu durchschauen und unter Aufbietung aller Hilfsmittel des Körpers, der Muskeln und Sehnen zu beherrschen lernte, gelangen mir erste Bravourstücke an den Luftwurzeln der Regenbäume. Der Geist war verwirrt, ich leugne es nicht, aber seine Fluchten aus dieser Welt wurden immer stärker gebremst und schließlich völlig zum Stillstand gebracht. Ich unterbreche an dieser Stelle. Die Erzählung beginnt mich zu langweilen. Aus diesem Stoff sind keine Legenden gewebt, ich bitte Euch. Ich komme, glaube ich, nicht ohne die Benutzung von Ködern aus. Man sollte auch die Chronologie der Ereignisse durcheinanderwirbeln. Man sollte die Evolution der Tatsachen endgültig für abgeschlossen erklären. Absatz. Ich komme zur Beschreibung meiner frühen Glanzzeit, hört her. Ich war auf Reisen in jener Epoche, ich weiß nicht mehr, wohin genau diese Streifzüge geführt hatten. Ich erinnere mich aber, der Plan zur Niederschrift eines Dschungelbuches reifte in meinem Kopf heran. Nachdem ich den Gebrauch der Sprache nach dem Diktat meines Herzens vergessen musste, um in meinem Kopf zu gesunden, verlangte das Diktat meiner inneren Natur die Auflösung der Sprachlosigkeit, um die Krankheit der Einsamkeit heilen zu können. Von diesem Prozess ist festzuhalten, dass meine neue Sprache zwar der alten in jedem Worte glich, die Zärtlichkeiten oder wilden Ekstasen meiner hiesigen Existenz mit der Begriffswelt aus meiner Vorgeschichte sich aber nicht übersetzen ließen und ich, nach Maßgabe der einen oder anderen Überlegung, zu dem Naheliegenden griff, den Wortschatz nämlich frei zu handhaben, gleichzeitig eine Fülle neuer Begriffe einzuführen. Und meine Angst unbenennbarer Art hieß darum Utor und der Dschungel Kambo. Rep die Wahrheit. Ugla hassen. Und ich nannte den Wald außerdem Hoden, denn er erzeugt die Säfte zum Reifen der Früchte und legt die Keime zum Überleben. Und Cheeta das Äffchen, Tantor der Zwergelefant. Und guten Tag und guten Morgen oder guten Abend hieß Aiiaiiiiaiiiiiiijaiijaaaaa. Ich will nicht langweilen. Wen interessieren diese Erklärungen. Wenn man bedenkt, was alles ich frei erfinden könnte und als Behauptung in die Welt setzen, phantastisch. Unglaublich. Ich werde schlicht und einfach die Wahrheit schreiben, Punktum. Mein Hang zur Verallgemeinerung bestimmter Sachverhalte treibt mich immer wieder zu vorschnellen Äußerungen, ich weiß. Ich werde es trotzdem versuchen. Der Wahrheit auf der Spur bleiben, meine ich. Absatz. Tarzan lernte das Spurenlesen wie Gleichaltrige auf anderen Kontinenten die Gesetze der Algebra und Arithmetik. Zweifellos bestehen Beziehungspunkte zwischen der Rechenkunst und der Lehre von der Menge von Elementen einschließlich der zwischen ihnen definierten Verknüpfungen und der Kunst der Spurensicherung, die Tarzan als natürliche Gleichung verstand und instinktiv anzuwenden wusste. Er begriff, dass die Anzahl von Auswahlmöglichkeiten für die Erklärung der Tatsache seines Daseins sehr wohl begrenzt sein musste, dass die Permutationen und Kombinationen innerhalb dieses ausgemessenen Lebensrahmens jedoch so vielfältig waren und unvorhersehbar, dass sie keinen festen Grenzwert zuließen. Tarzan war frei, denn jede Sekunde hatte er sich zu entscheiden. Nein. Die Fallen der dritten Person. Man beginnt zu schwadronieren. Die dritte Person wird durch das Ich denunziert, glaubt mir. Wie die zweite Person Mehrzahl an der Attacke des Du zugrunde geht. Oh, nicht dass ich glaubte, die Singularität hätte den Sieg davongetragen. Denkt an das Pluraletantum, den Pluralis majestatis. Und um zu Betrachtungen philosophischer Natur überzugehen, muss gesagt werden, dass die Mehrzahl eine Form ist, die die Mitglieder einer Gruppe anspricht. Aber diese Mitglieder können sich nur behaupten, nicht beweisen. Und das Ich und das Du, fragt Ihr. Es kann sich nur beweisen, indem es sich nicht behauptet und zugrunde geht und von der Erdoberfläche verschwindet. Denn auch die Form des Singulars hat die Geschichte längst unter den Boden gepflügt. Aber manche Sprachen besitzen den Dual zum Ausdruck der Paarigkeit oder der zufälligen Zweizahl. Dies ist die aktuelle Form, sich auszudrücken. Aber wer kann verlangen, ich solle in das Litauische oder Sorbische oder Slowenische ausweichen, um meine Geschichte zu erzählen. Oder in die melanesischen Sprachen, die einen Trial zur Bezeichnung einer Dreizahl kennen. Mein Verzicht auf die dritte Person jedenfalls ist beschlossene Sache. Es wird Ausrutscher geben, dann und wann, Ihr müsst entschuldigen. Ich, die erste Person, lebt im Grenzland gewisser psychischer Erfahrungen, ich sagte es bereits. Und Rückfälle sind wenig wahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Absatz. Nicht wieder an den Anfang zurück. In die Mitte der Dinge. Ich errichtete eine Hütte in den starken Ästen eines hochgewachsenen Baumes und lebte zwischen Blätterwerk und Vogelnestern eine ruhige, sichere Existenz. Ich kann sagen, ich war glücklich in jener Zeit. Eine Wonneperiode der elegantesten Art. Ich erwachte mit den Vögeln und ging mit ihnen schlafen, ich übertreibe nicht. Ich war angepasst. Wer mich suchte, hätte mich für hoffnungslos verschollen halten müssen. Ich liebte die Sterne, ich verachtete sie. Ich bewunderte ihr reines, bleiches Licht in klaren Tropennächten und hasste die Art, wie sie die Schwächen des menschlichen Geistes aufspürten, auskosteten und seine Phantasie verführten, Tierbilder zu sehen oder Symbole oder Gegenstände der gewöhnlichsten Art. Denn der Ort, an dem ich mich befand, war außergewöhnlich wild und fremd, aber die Bilder hoch oben am Himmel blinkten so heimisch wie die Emailsplitter auf dem Boden meines alten Nachtgeschirrs, und diese Erinnerung trug meine Gedanken weit fort. Nach Hause. Da habt Ihr es. Die Sterne lügen nicht, sagt man. Eine absurde Behauptung. An diesem Punkt meiner Geschichte muss der Hinweis fallen, dass in Bezug auf meine Vergangenheit von Heimat nicht gesprochen werden kann. Immer, wenn ich dieses Wort in den Mund nehme, belustigt oder erschreckt es mich, je nachdem. Ich glaube, es kommt aus einer fremden und fernen Welt und bezeichnet die Tatsache, durch Geburt oder Lebensumstände mit einer Umwelt verwachsen zu sein. Am Ende seiner Irrfahrt küsste Odysseus die Heimaterde, erzählt Homer, ich weiß. Und es gibt das Jenseits als Heimat der Frommen und die Wanderschaft von Ort zu Ort als das Zuhause der Kyniker und das asketische Ideal der irdischen Heimatlosigkeit unserer Mönche. Nein, ich habe die Zusammenhänge noch nicht vergessen. Aber wie lautet diese Vokabel in meiner unbeholfenen Sprache. Ich weiß es nicht. Vielleicht fehlt dieses Wort in meinem Lexikon. Ich überlasse es einer späteren Stelle in meiner Erzählung, diesem Problem erneut zu begegnen. Gesetzt den Fall, ich orientiere mich zurück. Gesetzt den Fall, man hätte mich beim Essen oder Trinken oder Fäkalisieren hoch oben zwischen den Wipfeln der Bäume auf dem Plateau meiner Behausung entdeckt, man hätte mich für einen Affen gehalten. Denn Herrentiere anzutreffen, gehört zu den Gewöhnlichkeiten meiner Gegend, sie essen und trinken und verdauen an allen Orten, in allen Lagen. Und haben die Affen eine Heimat? Ich kenne die Ergebnisse der Versuche des Forschers Wolfgang Köhler in Teneriffa mit ungezählten Primaten und weiß, dass viele in abgedunkelten Schächten oder gleißend hell gekachelten Zimmern oder schallisolierten Kammern nach kürzester Zeit an Heimweh gestorben sind. Oh, sie sind nicht verhungert oder verdurstet oder an Entzündungen ihrer Harnwege oder vielleicht an Verstopfung zugrunde gegangen, und auch der Einwand, die Isolationshaft habe ihnen den Verstand und schließlich das Leben geraubt, zählt nicht. Denn neben den Einzelhäftlingen in ihren abgedunkelten oder lichtüberschütteten oder schallisolierten Schächten und Zimmern und Kammern gab es noch die Masseninhaftierten des Parallelversuchs. Selbst das Erklärungsmodell eines außergewöhnlichen Zufalls versagt angesichts der Tatsache, dass das gesamte Großprojekt an verschiedenen Orten der Welt in der köhlerschen Originalversion wiederholt und nach Maßgabe der gewissenhaftesten statistischen Methoden ausgewertet worden ist. Es ist kein wissenschaftliches Geheimnis, dass alle Affen nach wenigen Tagen und oft auf die Stunde genau in ihren Massen- oder Einzelquartieren verendet sind. Die Verhaltensforschung behauptet seit diesen Tagen, Herrentiere besäßen ein Recht auf Heimat; sie provoziert mit der These, dass den Menschen kenne, wer den Affen kenne. Ich widerspreche nicht. Zu lange wohne ich in ihrer Nachbarschaft, um diesen Geschöpfen Gottes mit Fremdheit zu begegnen. Halt. Meine ich jetzt Affen oder Menschen. Die uralte Frage. Und wen sie interessiert, dem werde ich an späterer Stelle die Geschichte von Cheeta erzählen, wie es, aus dem Nest gefallen oder von den Eltern verlassen oder verstoßen, in mir seinen Ziehvater gefunden hat. Und es ist möglich, ja, warum nicht, dass ich diese Anekdote mit der Frage würzen werde, was die Phantasien bedeuten, die die Lichtpunkte am Tropenhimmel in Emailsplitter auf dem Boden meines alten Nachtgeschirrs verwandelt haben. Absatz. Die tägliche Jagd nach Wasser und Brot. Ich nahm die Mannlicher und die Springfield. Es sind die Gewehre Hemingways. Heute benutze ich sie nicht mehr zum Schießen. Es sind hinderliche Gesellen. Alle Drillinge sind schwer, unhandlich, ihr Rückstoß kann ausgewachsene Burschen von den Beinen reißen. Ich schnitt die Drillinge von jenem unseligen Tag an, da ich, beschwert mit ihren vier nebeneinanderliegenden glatten und zwei darunterliegenden gezogenen Läufen auf dem Rücken, die Luftwurzeln bediente und in eine verdeckte Astgabel fuhr und hängenblieb und im freien Fall zu Boden stürzte. Ich verfluchte die Mannlicher und die Springfield und versuchte, mich zu erheben. Es funktionierte nicht. Zu allem Unglück brach die Nacht herein und der Mond ging auf und schüttete sein fahles Licht auf meinen verschreckten, erblassten Körper. Es war ein kleiner, leberkrankgelber Mond, und ich dachte sofort, erinnere ich mich, meine Mannlicher, die Springfield, deren Ladungen beim Aufschlagen detoniert waren und höhnische Salven auf mein Missgeschick abgegeben hatten, müssen ihn erschreckt haben und er ist in die Ferne geflohen oder hat sich zur Maßnahme der Abwehr ganz einfach zusammengezogen. Als der Morgen graute, wich die Betäubung hüftabwärts. Als die Sonne aufging, erhob ich mich. Im Einklang mit der Natur. Ich legte großen Wert auf diese Formulierung. Ich hatte die Lektion begriffen. Ich stützte mich auf die Mannlicher und die Springfield und hüpfte zwischen den Gewehrläufen schaukelnd heimwärts. Ich habe mich nie wieder von diesem Absturz erholt. Irgendetwas war zerbrochen, wie man sagt. Und wenn ich die Namen Springfield und Mannlicher ab und zu in den Mund nehmen werde, dann nur, weil es die klassischen Waffen der Großwildjäger sind. Ich lasse mich von großen Namen verführen. Lest Die grünen Hügel Afrikas, und ihr werdet mich verstehen lernen. Absatz. Ich esse mit Vorliebe Vögel. Dieses heikle Kapitel. Erzähle, Tarzan, erzähle. Vögel, Vögel, sie waren überall, auf den Zweigen, im Unterholz, sie sirrten durch die Lüfte, durch die Dickung. Als ich jung war, in fernen Jahren, glaubte ich, die Masse ihrer Leiber, zur gleichen Zeit erhoben in die Himmel, versperrte der Erde jeden Lichtblick und hüllte ihre Berge und Täler in Finsternis. Ich fürchtete dann, in einem Käfig zu hocken, über den ein schwarzes Wolltuch gebreitet wird. Ihr triebhafter Gesang bezauberte mich den einen Tag, entsetzte mich den zweiten. Und Bezauberung und Entsetzen fielen unberechenbar wie die Augen eines Würfelspiels auf die Stimmungsebene meines Kopfes und ließen mich halluzinieren oder in Verzweiflung oder Depressionen stürzen, je nachdem. Denn zu der Zeit, von welcher ich berichte – ich war noch so jung –, dauerte die Phase der Anpassung meines Geistes an die Natur, und ein gut Teil meiner Existenz dämmerte in einem unentwickelten Begriffs- und Empfindungsvermögen. Diese Insuffizienzen führten zu Überreaktionen und Unberechenbarkeiten meines Nervenhaushalts. Gewohnt an die stille und kontrollierte Prozedur meiner Selbstwahrnehmung, die mein Bewusstsein mit einem Minimum an Realität auskommen ließ, war die pure Leiblichkeit der tropischen Vogelwelt eine aufreizende und entsetzliche Alternative. Ihr müsst verstehen, dass das Spiel der Vögel in der Luft oder zwischen den Zweigen oder tief unten in der Dickung nach Regeln abläuft, die immer neue und immer überraschendere Variationen eröffnen und den Beschauer dazu zwingen, den festen Boden unter seinen Füßen aufzugeben. Die Vögel hatten mir alles voraus, damals, ich spürte es. Sie waren frei, ohne es zu wissen, ein paradiesischer Zustand. Ich dagegen wollte fliegen, aber zugleich fragte ich, was Fliegen sei. Ich hasste ihre Unabhängigkeit, und ich hasste meine Gedanken, die schlechte Argumente benutzten, mich über die Vögel zu erheben. Denn, ich leugne es nicht, der Bestand meiner Tatsachen kam aus einer Welt, der zu entkommen steilste Gipfelflüge über die Zinnen von Gewohnheit und Kultur und Erziehung erforderte. Und das, was ich als Schwerstarbeit in der Phase meiner Anpassung zu verrichten hatte, erledigten diese elenden Vögel aus der Natur ihres ungebundenen Lebens. Ihre Körper mit den schweren Mantelgeschossen meiner Jagdgewehre vom Himmel zu fegen, kam mir bald unzweckmäßig vor. Es war öfter vorgekommen, ich hatte einen Marabu oder eine Paradieswitwe in der Luft förmlich auseinandergesprengt und fand Marabu- oder Paradieswitwenteile über Äste und Sträucher und Farne in winzigen Portionen verteilt. Diese Art, meine Jagd zu inszenieren, fand nach meinem furchtbaren Absturz, Ihr erinnert Euch, ein jähes Ende. Ich verspannte jetzt Netze in den Wipfeln der Bäume und lockte die Vögel mit Balzrufen nachempfundenen Lauten. Ich hatte mich bald zum absoluten Meister der Verstellung entwickelt. Ich wusste die elementarsten Regungen dieser Welt ohne weiteres aus der Sprache der Vögel zu synthetisieren und systematisieren und verstand mich als Meister im Erzeugen künstlich geschaffener Mitleids- oder Liebesäußerungen, je nach Bedarf. Ich führte, nach Maßgabe gewissenhaftester Vorstudien, die Natur in die Irre. Erst jetzt war ich vollkommen angepasst. Diese Irreführung nahm im Laufe der Monate und schließlich Jahre, Jahrzehnte, die Form einer hochkünstlerischen Inszenierung an. Ich schäme mich nicht. Nicht mehr wirklich. Ich würde sogar wagen, einen deutlichen Absatz einzufügen. Aber dieses Verfahren ist mir zu literarisch. Ich ziehe die direkte Anknüpfung vor. Ich esse, mit Vorliebe, Vögel. Ich fange sie in Netzen. Die Art meiner Behinderung, deren Bezeichnung ich nicht kenne, trug das Ihrige dazu bei, den Mangel an Eleganz in der Fortbewegung durch das Ersinnen und Anwenden immer ausgeklügelterer Listen wettzumachen. So raschelte ich, im Gezweig versteckt, wie ich mir einbildete, mit Ästen und simulierte den Klageruf eines Marabus, und ein hilfsbereiter Artgenosse schwirrte heran und verfing sich im Netz. Oder ich trällerte den Ruf verliebter Paradieswitwen, und ein hochzeitsbereites Geschöpf stürzte der Schallquelle entgegen und wurde mein Opfer. Auch was die Prozedur der Vogeltötung anbelangt, hatte ich die verschiedenartigsten Techniken entwickelt, kurz und schmerzlos zu verfahren. Ich besitze, solange ich denken kann, harte, breite, in den Gelenken übertrieben dicke Finger, die zupacken können, wie man sagt. Es sind keine Literatenhände. Es fällt mir schwer, das zuzugeben. Und ich will an dieser Stelle, damit sie ein für allemal hinter uns liegt, auch nicht verschweigen, dass die Handteller an zu langen Armen befestigt sind und mein Rumpf zwar gedrungen und kräftig konstruiert, aber im Verhältnis zu meinen Beinen zu lang geraten ist, ein Fehler der Natur, der besonders nach meinem Absturz ins Auge fällt. Die Beine, die mich einst wie Gazellenläufe durch den Busch trugen, stemmen nun den langen und tiefen Rumpf wie Säulen vorwärts, Schritt für Schritt. Und verzichte ich heutzutage aus falsch verstandenem Stolz oder kindischer Querköpfigkeit auf die Mannlicher und die Springfield und stütze die Gewehrkolben nicht unter die Achseln und steche die Läufe nicht in den Boden der Savannen oder Flussläufe, kann von Vorwärtsbewegung kaum noch gesprochen werden. Dagegen meine Finger. Sie sind bis heute von ungebrochener Lebenskraft. Die Dynamik ihres Zusammenspiels erlaubte zu allen Zeiten die Anwendung verschiedenartigster Techniken in der Behandlung meiner Vogelhälse. Es ist klar, Länge und Stärke eines Marabuhalses sind völlig verschieden von Länge und Stärke eines Paradieswitwenhalses, ganz zu schweigen von der eigentümlichen Anatomie eines Palmnussgeierhalses. Jedem Vogelhals passte ich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte den ihm entsprechendsten Griff an. Aber ich habe während dieser Jahre niemals vergessen, wie man einen Buntstift oder Schreibgriffel anfasst, oh nein. Man darf nicht glauben, ich verrohte. Meine selbstkontrollierte Art, das Leben in die Hand zu nehmen, hat mich stets davor bewahrt, aus purer Langeweile Dinge zu tun, zu denen der Mensch fähig ist. Die Vögel. Zurück zu meinem Thema. Ich muss es endlich abschließen. Beispiel. Ich sehe eine Paradieswitwe gefangen im Netz. Da ich sie mit einem Liebesruf angelockt habe, weiß ich, dieses Geschöpf ist verzaubert und in seiner Verzauberung dem Zustand göttlicher Betäubung nahe. Ich hole das Netz ein, Hand über Hand. Wie Petrus, der Seelenfischer, wenn Ihr wollt. Der Vogel schlägt mit den Flügeln. Er sieht schön aus. Der verliebte Vogel, wie der verliebte Mensch, trägt die Schöpfung im Blick seiner Augen. Friede und Angst, eine Verstörung der seltensten Art. Ich spreche beruhigend auf meine Paradieswitwe ein. Wir sind uns nahe, Jäger und Gejagtes im Schnittpunkt des Todes. Dann, wenn unsere Seelen ihre Ausschweifungen durch die Abgründe der Welt durchlitten haben, tauchen sie zurück in das Element der Notwendigkeit. Ich befreie die Witwe aus dem Netzwerk und beuge die Knie, wenn der Zustand meiner Säulenheiligen es erlaubt. Ich klemme den zarten Vogelkörper zwischen diesen Säulen fest, umfasse den Kopf mit der Linken und wickle in einer Geschwindigkeit, die man kaum für möglich halten sollte, den im Falle meines Beispiels langen, schlanken Hals zwei- oder dreimal um den vorgestreckten, kräftigen Zeigefinger meiner Rechten. Deutlich hörbar bricht das Genick. Und blicke ich hoch in die Sonne, wenn sie von keinen Wolken verhüllt ist, grüße ich sie mit dem meiner Sprache entlehnten Gutenmorgen- oder Gutentag- oder Gutenabendgruß. Absatz. Cheeta, die Äffin. Ich nehme mir Zeit für diese Anekdote, aus einer Laune heraus. Mich treibt überhaupt nichts. Im Gegenteil. Ich werde gebremst. Ich bin schwer geworden im Lauf der Jahre. Es gibt Tage, da bewege ich mich kaum noch. Ich bin groß und kräftig für mein Alter. Halt, ich glaube, ich wiederhole mich. Es macht nichts. Die Wiederholung, unter besonderen Umständen, ist ein elegantes literarisches Stilprinzip. Und wer will behaupten, dass die Bedingungen meiner Existenz keinen besonderen Umständen unterliegen. Ich meine jetzt nicht den Zustand meiner Beine. Manchmal bin ich stolz auf dieses unhandliche Paar. Nein, es sind nicht die Beine. Aber der Kopf, fragt Ihr, höre ich, ist es der Kopf. Sind es seine unruhigen Wanderschaften durch die Schluchten und Irrwege und Abwasserkanäle dieser fernen, fremden Natur, sind es seine einsamen Jagden nach den Spuren von Geist und Seele in der Dickung dieser kreatürlichen und gottlosen Welt. Ich sagte gottlos, ich habe es schwarz auf weiß. Ich habe, wenn ich ehrlich bin, keine Vorstellung von der Bedeutung dieses Wortes. Ich habe überhaupt nur noch wenige Vorstellungen. Hier liegen die besonderen Umstände, von denen ich gesprochen habe. Die denkbar knappe Auswahl einiger weniger Vorstellungen. Es wäre reizvoll, sie aufzuzählen. Nein. Nicht hier und jetzt. Später. Cheeta, die Äffin. Diese Geschichte liegt lange Jahre zurück. Ich möchte sie niemandem vorenthalten. Eines Tages schwebte ich, an Lianen hängend, durch den Urwald, die geliebten Früchte seltener Bäume einzusammeln und einen Vorrat für schlechtere Zeiten anzulegen. Ich lebte als vegetatives System. Es war meine glücklichste Zeit. Ich war ruhiggestellt, ich wusste, nein, ich handelte im Sinne einer tiefen Klarheit, nein, im Sinne einer undurchsichtigen Evidenz animalischer Gefühle. Ich war auf der Welt, Punktum. Die Tiere waren meine Freunde. Ich trug ein rucksackähnliches Körbchen aus Farngeflecht auf meinen Buckel geschnallt. Die Fellhose leuchtet gelb und schwarz in der Sonne. Und jagte ich in der Nacht, hob sich der Schemen meiner Gestalt dunkel gegen das vom Mond beschienene Hosenfell ab. Aber es war Tag damals, ich glaube mit Sicherheit, es war Tag. Ein Gewittersturm bog die Bäume und rüttelte an den Ästen. Ein junges Äffchen schlug unmittelbar vor mir auf den Boden und blieb wie tot liegen. Ich kam zu Bewusstsein. Hier stand ein Mensch, dort, zu seinen Füßen, lag ein Affe. Schau Dir dieses seidig glänzende Fell an, diese tadellose Ausrüstung für ein Leben in der Freiheit. Ich hob das kleine Geschöpf in die Höhe und verstaute es im Gepäckaufsatz. Ich war, von einer auf die andere Sekunde, entschlossen, das unschuldige Wesen zu beschützen und an Vaters Statt aufzuziehen. Was für eine kolossale, zarte Geschichte, dachte ich. Ich hatte Verantwortung zu tragen. Ich wusste, glaube ich, nicht, was das war, Verantwortung, aber ich hatte eine tiefe Sehnsucht nach einem Zustand, der mich belasten würde. Oh, nicht wie Frachtgut einen Ozeanriesen belastet oder ein Stürmer und Dränger den Aufklärer. Die Belastung, von der ich rede, trägt moralisches Gewicht. Und ich wusste, glaube ich, nicht, was das war, Moral, aber ich hatte eine tiefe Sehnsucht nach einem Zustand, der mich sittlich fordern würde. Verantwortung, Moral, heute weiß ich, was diese Worte bedeuten, aber mein Gewissen für die Verfassung der Seele und die Authentizität ihrer Wahrnehmung im Garten der Sittlichkeit schlägt nicht mehr.

Jochen Beyse, geboren 1949, lebt seit 1987 in Berlin. Er promovierte 1977 mit einer Arbeit über die Filmästhetik Siegfried Kracauers. Zuletzt ist von ihm 2012 bei Diaphanes die Erzählung »Palermo 1933« erschienen, ein Monolog über den Tod des französischen Schriftstellers Raymond Roussel, der ein Vorläufer der Surrealisten war.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Jochen Beyse: Das Affenhaus. Erzählung, Diaphanes-Verlag, Zürich 2013, 112 Seiten, 9,95 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.