Habib Kazdaghli im Gespräch über Salafisten in Tunesien

»Es geht nicht nur um den Niqab«

Am 28. März soll der Prozess gegen Habib Kazdaghli, den Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Manouba, nahe Tunis, fortgeführt werden. Ihm wird vorgeworfen, eine Studentin geohrfeigt zu haben, die im Rahmen einer salafistischen Kampagne für die Durchsetzung des Niqab (Gesichtsschleier) in den Vorlesungen im März 2012 in sein Büro eingedrungen war. Ein ärztliches Attest, das einige Stunden nach dem Vorfall erstellt wurde, bescheinigte ihr nach Medienberichten »Spuren einer Ohrfeige«, eine eigenartige Diagnose. Kazdaghli streitet den Vorwurf ab. Die Anklage wurde voriges Jahr von Körperverletzung auf Körperverletzung im Amt verschärft, so dass ihm nunmehr fünf Jahre Haft drohen. Die Fakultät von Manouba, bereits unter Ben Ali ein Ort des Widerstands, ist mittlerweile ein Symbol für die Opposition gegen den Druck der Salafisten. Eine Verurteilung des Dekans wäre für diese ein Sieg mit hoher Symbolkraft. Mit Kazdaghli, einem langjährigen Mitglied der ehemaligen Kommunistischen Partei Tunesiens (seit 1993 Bewegung Ettajdid), sprach die Jungle World über die Bedeutung und die Folgen der salafistischen Kampagne.

Über den Konflikt an der Fakultät von Manouba ist gerade ein neues Buch mit dem Titel »Chroniques du Manoubistan« erschienen, zu dem Sie ein Vorwort verfasst haben. Wie ist dieser Titel zustande gekommen?
»Manoubistan« erinnert an Afghanistan. Es geht nicht darum, die Jugendlichen zu stigmatisieren, die die Besetzung an der Fakultät durchgeführt haben, vielmehr waren sie es, die ein Lied gesungen haben, in dem es darum ging, wie in »Manoubistan« der Islam unterdrückt werde. Zwischen dem 28. November und dem 6. Dezember waren die Fakultät und mein Büro besetzt, aber man ließ mich eintreten. Da habe ich dieses Lied gehört, weil sie Mikrophone und Lautsprecher installiert hatten. Sie waren es also, die dieses Wort benutzt haben.
Wie entwickelte sich der Konflikt an der Fakultät von Manouba?
Kurz nach den Wahlen (vom 23. Oktober 2011, Anm. d. Red.) tauchten Studentinnen im Niqab an der Fakultät auf. Sie profitierten von der Periode der Revolution, von den errungenen Freiheiten. Sie sagten, das sei der wahre Islam, sie seien frei, den Niqab in den Vorlesungssälen zu tragen. Meine Kollegen und ich ließen uns nicht darauf ein, vielmehr denken wir, dass es für die Wissensvermittlung in unserem Beruf wichtig ist, dass man sich ins Gesicht sehen kann. Wir forderten sie auf, während der Vorlesungen und bei Prüfungen den Niqab abzulegen. Ansonsten können sie tragen, was sie wollen, selbst wenn das für mich und meine Generation einen zivilisatorischen Rückschritt darstellt. Ich habe noch die Zeiten der Unabhängigkeit erlebt, in denen die Frauen das Kopftuch ablegten.
Zunächst versuchten wir, die jungen Männer und Frauen zu überzeugen, mit uns zu diskutieren. Aber sie entschlossen sich offenbar, einen Gang zuzulegen und Druck zu machen. Ab dem 28. November hatten sie Dutzende Unterstützer, die nicht der Fakultät angehörten. Bis zum 6. Dezember koexistierten wir während der Besetzung. Aber danach haben sie mich aus der Verwaltung rausgeworfen und erreicht, dass die Fakultät für einen Monat, bis zum 5. Januar, geschlossen wurde.
Ist der Niqab ein so brisanter Streitpunkt in Tunesien und speziell an den Universitäten?
Im vergangenen Jahr schon. Denn es geht nicht nur um den Niqab. Die Salafisten haben die jungen Frauen manipuliert, sie haben sie vorgeschoben, um zu sagen: Wir sind für die Freiheit der Frauen, sich zu kleiden, wie sie wollen. Tatsächlich sind es konservative Männer, die sich dahinter verbergen. Sie fordern auch einen Gebetsraum und fragen, warum es in einem islamischen Land keine Gebetsräume an der Universität gibt. Sie haben ebenso gefordert, dass Männer und Frauen nicht mehr zusammen unterrichtet werden, und dass Männer keine Frauen unterrichten, also strikte Geschlechtertrennung. Der Niqab ist nur ein Vorwand, das wahre Projekt ist eine grundlegende Änderung der Gesellschaft. Sie verurteilen die gesamte moderne Geschichte Tunesiens, sie wollen in eine frühere Phase zurück.
Warum spielte sich die Kampagne für den Niqab an der Fakultät von Manouba ab?
Tatsächlich begann sie in Sousse, Anfang Oktober 2011. Dort hatte sich mein Kollege geweigert, eine Studentin mit Niqab einzuschreiben, tags darauf kamen 50 Personen. Etwas Vergleichbares geschah in Kairouan, als ein Kollege als Prüfungsthema eine Freske von Michelangelo aus der Sixtinischen Kapelle in Rom mit der Darstellung Gottes ausgesucht hatte. Stellen Sie sich vor, ein Kunstprofessor, der nicht über Michelangelo lehren soll!
Die Fakultät von Manouba ist in Tunis, die (ehemalige Kommunistische, Anm. d. Red.) Partei ist dort präsent. Die Salafisten haben ihre Kräfte auf diese Fakultät konzentriert, weil es eine große Fakultät ist, sie haben gesagt, wenn die Kampagne dort Erfolg hat, dann kann sie überall Erfolg haben.
Haben Sie die Studenten und Studentinnen gekannt, die in der Kampagne aktiv waren?
Sicher, ich habe lange mit ihnen diskutiert. Sie haben die Diskussionen dann abgebrochen und gingen am 28. November zum Angriff über, indem sie die Fachbereiche blockierten und die anderen Studierenden daran hinderten, die Prüfungen abzulegen. Da geschah etwas, das als die Eroberung der Fakultät von Manouba bezeichnet wurde. Es kamen etwa 200 Personen von außerhalb der Fakultät, mit Djellabas und Bärten, sie sagten, sie würden die Fakultät muslimisch machen, sie werde von einem Ungläubigen, einem Kommunisten geführt. Ich bin der Dekan der Fakultät, aber meine politischen Ideen lasse ich draußen.
Es gab unter den salafistischen Studenten auch bekannte Personen wie Mohammed Bakhti. Er starb am 17. November 2012 an den Folgen eines zweimonatigen Hungerstreiks, nachdem er wegen der Attacke auf die US-amerikanische Botschaft im September inhaftiert worden war. Kannten Sie ihn?
Ja. Die Salafisten hatten auch eine kleine Gruppe an der Fakultät, zu ihnen gehörte Mohammed Bakhti. Er war bereits 2006 an der Fakultät. Damals hat er sich einer Gruppe Jihadisten, einer bewaffneten Gruppe, angeschlossen, er wurde verhaftet und zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach vier Jahren wurde er freigelassen, dank der Revolution, und stellte sich im September 2011 wieder an der Fakultät vor. Ich habe gesehen, dass er Historiker ist wie ich, und gesagt, ich würde ihm helfen. Er sagte »ja, ja«, aber kaum gab es das Problem mit dem Niqab, hat er sich dazugesellt. Als ehemaliger Gefangener hatte er ein Prestige als großer Jihadist. Die salafistische Gruppe ist überhaupt nicht bedeutend, aber er konnte jederzeit Leute von außerhalb der Fakultät mobilisieren.
Was bedeutet die Kampagne im Hinblick auf die Universität?
Es geht um die universitären, die akademischen Werte. Die Universität hat die Aufgabe, Wissen zu produzieren und zu vermitteln. Das ist nur in einem Klima akademischer Freiheit möglich. Zur Zeit des ancien régime gab es in jeder Universität einen Polizeiposten – das Symbol der autoritären Intervention an der Universität. Nach der Revolution wurde versucht, diesen politischen durch einen religiösen Despotismus zu ersetzen. Aber die Universität kann weder den einen noch den anderen hinnehmen. Wir respektieren die Religion und wir respektieren die Politik, aber an der Universität gibt es Gesetze, gibt es akademische Werte, die gewahrt werden müssen.
Stimmt es, dass auch Abou Iyadh, der Anführer der jihadistischen Gruppe Ansar al-Sharia, bei dem Konflikt präsent war?
Er steuerte ihn von außen. Am 8. März kam er. Er wollte eine Pressekonferenz auf dem Campus abhalten, aber die Polizei hinderte ihn daran. Sie hatte mich gefragt, ob ich akzeptiere, dass er hereinkommt, aber das lehnte ich ab. Am Tag zuvor hatten Salafisten die tunesische Nationalflagge eingeholt …
… um am Eingang der Fakultät, auf dem ehemaligen Polizeiposten, die schwarze Salafistenflagge zu hissen.
Ich habe den Film eines lokalen Fernsehsenders gesehen, in dem gezeigt wird, wie Abou Iyadh sagte, derjenige, der die tunesische Flagge eingeholt habe, könne sich der Polizei stellen, unter der Bedingung, dass man den Dekan ablöst. Denn der gehöre dem Mossad an.
Warum dem Mossad?
Das war ein Versuch, mich zu isolieren. Außerdem habe ich meine Doktorarbeit über die Kommunistische Partei geschrieben und bin Experte für die Geschichte der Juden von Tunesien. Für Abou Iyadh bin ich dann ein Zionist, gehöre folglich dem Mossad an und bin deshalb gegen den Niqab. Auf den einschlägigen Seiten des arabischen Facebook gelte ich als der Teufel, der Ungläubige, der Kommunist, der Zionist, der Jude, all das …
Wie haben die Behörden auf die salafistische Kampagne reagiert?
Die Behörden haben durch Laxheit geglänzt, wenn nicht gar durch ihre Komplizenschaft.
Hat Moncef Ben Salem, der Minister für das Hochschulwesen von al-Nahda, nicht Sie für die Auseinandersetzungen um den Niqab verantwortlich gemacht?
Das ist richtig. Er sagte, ich hätte mit der Krise nicht umgehen können. Er hat mich für sie verantwortlich gemacht. Warum? Weil ich politisch bin. Er sagte, Politik müsse man außerhalb der Universitäten machen. Dabei müsste ein zuständiger Minister zuallererst einem Dekan, der sich in Schwierigkeiten befindet, den Rücken stärken, selbst wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt.
Ich habe mein Mandat als Dekan respektiert, ich bin gewählt und habe meine Universität verteidigt. Man muss verständnisvoll sein, man muss mit den Jugendlichen einen Dialog führen. Aber man darf nicht zulassen, dass sie das Gesetz usurpieren.
Was waren die Konsequenzen der Laxheit der Behörden?
In der Folge hat man gesehen, wie die Salafisten – sobald sie dachten, dass sie ungestraft bleiben, wenn sie das Gesetz übertreten, und dass niemand sie dabei stört – gegen Journalisten vorgingen. Zwei Monate lang waren sie vor dem Gebäude des nationalen Fernsehens präsent und bezeichneten alle Medien, die ihre Meinung nicht teilten, als »Medien der Schande«. Im März vorigen Jahres gab es gewalttätige Demonstra­tionen in der Avenue Bourguiba für die Sharia. Am 9. April griffen sie Demonstranten an, auf dieser großen Straße, die den Widerstand gegen die Diktatur symbolisiert. Dann sind sie auf die Künstler in La Marsa losgegangen. Und schließlich haben sie die US-amerikanische Botschaft angegriffen.
Welches Verhältnis besteht zwischen der islamistischen Regierungspartei al-Nahda und den Salafisten?
Für die laxe Haltung des Ministers gibt es Gründe. Die Bewegung al-Nahda betrachtet die Salafisten als ihrer eigenen Sphäre zugehörig und versucht, sie zu vereinnahmen. Es gab Entgegenkommen und sogar heimliches Einverständnis.
Gibt es an der Fakultät weiterhin salafistische Proteste für den Niqab?
An der von Manouba sind sie abgeflaut. Dieses Jahr konnten wir die Prüfungen ohne Probleme abhalten. Es gibt nur noch zwei Studentinnen, die den Niqab tragen, und als sie zu den Prüfungen erschienen, haben sie ihn abgelegt. Daher kann ich sagen – und dabei widerspreche ich dem Minister –, dass wir mit der Angelegenheit gut umgegangen sind. Wären wir so lax gewesen wie er, hätten wir Hunderte junge Frauen mit dem Niqab gehabt, die mithilfe der sie unterstützenden Bärtigen das Land in einen heiligen Krieg hätten treiben können, um allen Frauen Tunesiens das Tragen des Niqab aufzuoktroyieren.