Die EU, Deutschland und Zypern-Krise

Bedrohte Paradiese

Derzeit ist unklar, wie die wirtschaftliche Entwicklung Zyperns weitergeht. Nach der vermeintlichen Rettung des Inselstaates ist in der EU ein Streit über Steueroasen ausgebrochen.

Der sogenannte Neoliberalismus funktioniert nicht nach Kriterien der Vernunft, auch wenn gerade in diesen Zeiten Wirtschaftsanalysten besonders eifrig versuchen, die Krise rational nachzuvollziehen. Ihr Scheitern drückt sich unter anderem in einer emotional aufgeladenen Wortwahl aus. Seit der Euro in Schwierigkeiten steckt, werden den »Märkten« immer mehr menschliche Züge zugesprochen. So reagieren sie etwa »verunsichert« oder »nervös« auf eurokritische Aussagen. Nach dem Beschluss eines neuen Rettungspakets »atmen« sie hingegen »erleichtert auf« und »schöpfen neue Zuversicht«. Passend zu dieser gefühligen Börsenberichterstattung probieren Politiker, Ressentiments zu bedienen, indem sie die Welt entsprechend vereinfacht erklären.
In einem solchen Diskurs werden Finanz- und Produktionssphäre gerne auseinanderdividiert. So auch vom deutschen Finanzminister, Wolfgang Schäuble: »Das Geschäftsmodell Zyperns war nicht erfolgreich«, urteilte er mit Blick auf den in seinen Augen »aufgeblähten« Bankensektor des kleinen Inselstaats. Diesem kranken Modell stellt er das deutsche Erfolgsmodell gegenüber: Geprägt durch ein angeblich gesünderes Verhältnis von sogenannter Realwirtschaft und Finanzindustrie und gekennzeichnet durch eine stetig wachsende Wirtschaftskraft.

Dass der Abstand zu den europäischen Partnern wächst, gefällt nicht jedem. »Schönes Europa, in dem die Ressentiments blühen!« kommentierte vergangene Woche Dieter Frankenberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die sich häufenden missgünstigen Reaktionen auf die deutsche Erfolgsgeschichte. Das »angeblich neoimperiale Deutschland« stehe als Sündenbock am Pranger. Dies sei »die Erfahrung der Macht«, so der Mitherausgeber der FAZ. Die Kanzlerin müsse sich »viel Übles anhören« und bleibe angesichts von »Verunglimpfungen der tumben Art« erstaunlich gelassen.
Besonders angetan hatte es dem FAZ-Autor der »Hegemonie- und Diktatvorwurf«, den der Luxemburger Außenminister an die deutsche Regierung gerichtet hatte. Jean Asselborn, dessen Aussagen des Öfteren Potential für diplomatische Zwischenfälle bergen, hatte mit scharfen Worten auf Schäubles Urteil über Zypern reagiert. Deutschland habe nicht das Recht, die Geschäftsmodelle für andere Länder in der EU festzulegen. »Es darf nicht so weit kommen, dass unter dem Deckmantel von finanztechnischen Fragen andere Länder erwürgt werden«, sagte der Sozialdemokrat und stellte nebenbei klar, dass Deutschland für ihn nicht nur als Krisenretter fungiere. Es könne auf Dauer nicht gutgehen, dass sich der deutsche Staat zu einem Zinssatz von 1,5 Prozent Geld leihen könne, während andere Länder der Eurozone das Vier- oder Fünffache zahlen müssten. »Das muss auch in die Köpfe der Deutschen hinein«, forderte Asselborn. »Wir haben lange daran gearbeitet, ein europäisches Deutschland zu schaffen, nun darf es in der Union mit 27 Mitgliedern kein deutsches Europa geben«, so die Mahnung des Luxemburgers.
Eine solche Warnung sei für deutsche Ohren »schon ziemlicher starker Tobak«, befand kurz darauf Marietta Slomka, als sie im Heute-Journal des ZDF den Luxemburger Ministerpräsidenten mit den Aussagen seines Außenministers konfrontierte. Jean-Claude Juncker, routinierter Interviewpartner bei ARD und ZDF, sah sich in einer neuen Rolle. Der frühere Vorsitzende der Eurogruppe, beliebt wegen seiner unkonventionellen und schnoddrigen Art, wurde im deutschen Fernsehen bislang gerne als unparteiischer Gesprächspartner für einen Kommentar zur europäischen Finanzpolitik zugeschaltet. Als Repräsentant eines kleinen Staats kaufte man ihm mehr als anderen eine authentische, nicht von nationalen Interessen getrübte, europäische Denkweise ab. Dass er seit vielen Jahren einen als »Steuerparadies« verrufenen Staat regiert und innerhalb der Eurogruppe für den Erhalt Luxemburg-spezifischer Pfründe wie etwa das Bankgeheimnis kämpfte, schadete seinem Ruf als Muster-Europäer erstaunlicherweise kaum.

Als Regierungschef eines Landes, dessen Geschäftsmodell nicht mehr en vogue ist, wird Juncker nun jedoch in die Mangel genommen. Ob es ihn stören würde, wenn Bankkunden mit zur Kasse gebeten werden, wollte Slomka wissen und fragte angesichts von Luxemburgs »extrem großer« Abhängigkeit vom Bankensektor: »Macht Ihnen das nicht manchmal Sorgen?« Zypern sei nicht Luxemburg und »wir lassen uns keine Parallelen aufzwingen«, gab Juncker ungewohnt kleinlaut zurück und rettete sich mit einem Angriff auf seinen Nachfolger. Jeroen Dijsselbloem, der neue Vorsitzende der Eurogruppe, hatte suggeriert, auch Luxemburg könne wegen seines überdimensionierten Bankensektors Probleme bekommen. Der Niederländer sagte auch voraus, die Beteiligung von Gläubigern und Großkunden an Zyperns Rettungspaket könnte Schule machen. »Diese Lösung ist keine Blaupause«, warnte Juncker. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass künftig Spareinlagen in Europa unsicher seien.
Die Reaktion der »Märkte« gab ihm Recht. Nach Dijsselbloems Prophezeiungen sanken die Aktienkurse und der Eurokurs. Dieses Rettungspaket sei kein Modell für die Zukunft, ließ die EU-Kommission rasch via Pressesprecher verbreiten. Zypern sei ein Einzelfall, lautete alsdann auch die Botschaft der Europäischen Zentralbank. Verunglimpfungen von europäischen Bankenplätzen sind nicht unbedingt im europäischen Interesse. Doch von der EU kommen, wie so oft bei Euro-Rettungsversuchen, auch in Hinblick auf Zypern widersprüchliche Signale. So bekam das Land von den Währungshütern die Auflage, seinen Finanzsektor auf ein europäisches Mittelmaß zu verringern. Welches Maß hier gemeint ist, wurde allerdings nicht präzisiert.
In der Debatte darüber, wie viele Banken eine gesunde Wirtschaft verkraften könne, bleibt viel Spielraum für Spekulationen über weitere Krisen­szenarien. Ungeachtet ihrer kaum vergleichbaren wirtschaftlichen Gesamtsituation gerieten Länder mit großen Bankensektoren in die Schlagzeilen. Neben Luxemburg werden Malta und Slowenien als »nächste Krisenkandidaten« (Focus) genannt. »Zypern ist kein Einzelfall«, titelte auch die Welt und errechnete für den Zwergstaat Luxemburg den am stärksten aufgeblähten Finanzsektor. Das Land erwirtschafte 44 Milliarden Euro an Gütern und Dienstleistungen gegenüber 227 Milliarden Euro an Bankeinlagen. Auch in anderen Analysen wird neuerdings die Krisenstabilität eines Landes am Verhältnis des Volumens seines Finanzsektors zum Bruttoinlandsprodukt festgemacht, welches für die weitere Krisendynamik des betreffenden Staats bestimmend sei.
Diese Rechnung sei falsch, hob die Luxemburger Regierung in einer Pressemitteilung hervor, die vor allem den internationalen Medien und Banken galt. Lasst uns die europäische Arbeitsteilung beibehalten, so der Kern der bewusst europäisch gehaltenen Botschaft: Nicht die nationale Wirtschaftsleistung sei der korrekte Bezugsrahmen, sondern die gesamte Eurozone und der europäische Binnenmarkt. Für diesen und für die Wettbewerbsfähigkeit der Euroländer sei ein internationaler Bankenplatz wie Luxemburg von größter Bedeutung. »Leider sind einige Minister der Eurogruppe der Meinung, es sei besser, Geld im eigenen Land zu investieren, anstatt es ins Ausland zu tragen«, sagte der Luxemburger Finanzminister Luc Frieden vor der heimischen Presse. »Ich bin darüber erschrocken.«

Internationale Investoren zu verprellen, kommt der Marktwirtschaft tatsächlich nicht unbedingt zugute. Das sah auch Schäuble ein. »Luxemburg ist ein erfolgreicher Bankenplatz«, räumte der deutsche Finanzminister im Südwestfunk ein. Das Modell sei »völlig anders« und mit Zypern »nicht vergleichbar«. Doch gebe es natürlich Regeln, etwa den Informationsaustausch über Bankenkunden, betonte er. Luxemburg wehre sich dagegen und beanspruche weiterhin Sonderregelungen für sich.
In der Tat beschränkt sich die Diskussion um Bankenplätze nicht auf ihre Größe. Ähnlich emotional aufgeladen und ebenso widersprüchlich ist die Debatte darüber, wie man gegen Steuerparadiese vorgehen solle. Ob dies tatsächlich gewollt ist, bleibt unklar. Das zeigt auch der europäische Streit über den Umgang mit Daten von Bankkunden. Luxemburg und Österreich sind innerhalb der EU die letzten Hüter des Bankgeheimnisses. Dafür gibt es regelmäßig Schelte der EU, die eine neue Direktive vorgelegt hat. Da diese jedoch von Österreich und Luxemburg erfolgreich blockiert wird, gewährt der Rat der europäischen Finanzminister den beiden Ländern seit Jahren eine Sonderregelung.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die USA könnten dafür sorgen, dass damit Schluss ist. Der vor drei Jahren im US-Kongress verabschiedete »Foreign Account Tax Compliance Act« (FACTA) verpflichtet Finanzunternehmen, die mit den USA Geschäfte machen, ab 2014 unaufgefordert alle Kontodaten von US-Bürgern an den amerikanischen Fiskus weiterzuleiten. Derzeit verhandeln EU-Staaten mit den USA entsprechende bilaterale Abkommen, auch Österreich und Luxemburg. »An den USA kommt niemand vorbei«, stellte Luxemburgs Finanzminister Luc Frieden fest. Ländern, die nicht kooperieren, droht eine Strafsteuer von 30 Prozent auf ihre Einnahmen in den USA. Angesichts dessen wittert die EU neue Chancen, das Bankgeheimnis endlich auch innerhalb Europas zu lüften. »Wenn ein EU-Land einem Drittstaat bessere Bedingungen bietet als einem EU-Partner, verstößt es damit gegen europäisches Recht«, ließ EU-Kommissar Algirdas Šemeta Ende Januar wissen und schloss eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof nicht aus.
Doch ob mit neuer Zinsbesteuerungsdirektive oder ohne sie, auch innerhalb der Europäischen Union bleibt Spielraum für Steueroasen. »Wir halten uns wie alle EU-Staaten an die europäischen Richtlinien«, hatte vor dem Zusammenbruch der zyprischen Wirtschaft der damalige zyprische Präsident Dimitris Christofias, damals der einzige nominell kommunistische Staatschef Europas, während einem Auftritt im Europa-Parlament versichert. Dasselbe behauptete mehrfach der Luxemburger Finanzminister. Darüber, wie effektiv diese Richtlinien der Steuerflucht einen Riegel vorschieben, kann man nur spekulieren. Denn Informationen darüber, welche Gelder tatsächlich auf Luxemburger oder zyprischen Konten lagern, gibt es kaum. Das liegt auch daran, dass der Aufklärungswille der europäischen Finanzminister jenseits von Wahlkampfreden regelmäßig ins Stocken gerät. Das Geschäftsmodell Steuerparadies hat also durchaus Überlebenschancen.