Das Buch »Das Verschwinden der Frauen« von Mara Hvistendahl

Die neue Männergesellschaft

In »Das Verschwinden der Frauen« geht die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl der Frage nach den Ursachen und Folgen der gezielten Abtreibung weiblicher Föten und dem wachsenden Anteil von Männern in der Weltgesellschaft nach.

Ende der sechziger Jahre, ungefähr zur selben Zeit, als der Beatle George Harrison Sitar-Unterricht beim Meister Ravi Shankar nahm, reiste auch der US-amerikanische Biologe Paul R. Ehrlich nach Indien. Seine Mission war jedoch keine musikalisch-spirituelle, sondern eine gesellschaftspolitische. Er sollte der erste Wissenschaftler sein, der die steigenden Bevölkerungszahlen im globalen Süden – verursacht durch die sinkende Sterberate und die gleichbleibend hohe Geburtenrate – auch den Menschen in den westlichen Staaten zu Bewusstsein brachte. In seinem romanhaften Sachbuch »The Population Bomb«, das 1968 erschien und sich nicht nur in den USA millionenfach verkaufte, beschreibt er in skandalisierendem Tonfall die vermeintliche Kausalität zwischen steigender Bevölkerungszahl und wirtschaftlichem Niedergang. Anknüpfend an den theoretischen Fatalismus eines Thomas Malthus, ging Ehrlich davon aus, dass zwischen 1970 und 1980 furchtbare Hungersnöte auftreten würden, da die »Überbevölkerung« die Ressourcen zu stark belaste. Zentrum der Katastrophe werde Indien sein, ein Land, das sich nie selbst werde ernähren können.
Zu Beginn des Buches schildert der Autor, der zuvor nur als Schmetterlingsforscher wissenschaftlich hervorgetreten war, seine Taxifahrt durchs nächtliche Delhi mit Frau und Tochter auf dem Weg zurück ins Hotel: »Menschen beim Essen, Menschen, die sich wuschen, schlafende Menschen. Defäkierende und urinierende Menschen. Menschen, die sich an Busse klammerten. Menschen, die Tiere hüteten. Menschen, Menschen, Menschen, Menschen. Während wir uns langsam durch die Menge weiterbewegten, verliehen die quäkende Hupe, der Staub, der Lärm, die Hitze und die offenen Kochfeuer der Szene etwas Höllisches. Würden wir je unser Hotel erreichen? Offen gestanden waren wir alle drei in Angst.«
Diese Taxifahrt macht für Ehrlich – und für seine Leser – aus dem Bevölkerungswachstum, das ihm zuvor nur ein statistisches Faktum zu sein schien, eine Erfahrung konkreter Bedrohung. Dass die Inder »sich wie die Karnickel vermehrten« – dagegen musste dringend etwas unternommen werden!
Paul R. Ehrlich und die Frage nach der Wirkung der »Bevölkerungsbombe« sind ein zentraler Gegenstand in Mara Hvistendahls Buch »Das Verschwinden der Frauen«, das Ende 2011 bereits auf Englisch veröffentlicht wurde und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Für die in China lebende US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin ist »der Untergangsprophet« Ehrlich ein wichtiger Protagonist einer historischen Entwicklung, in der die steigenden Bevölkerungszahlen in der sogenannten Dritten Welt zum Problem und die restriktive Geburtenkontrolle zu dessen Lösung erklärt wurden. Dabei wurde die Begrenzung der Kinderzahl in Asien seit den siebziger Jahren, und hier insbesondere in China, Indien und Südkorea, in erster Linie restriktiv und oft gewaltsam durch Zwangsabtreibungen und Massensterilisationen durchgesetzt. Die Stärkung der Rechte von Frauen und Verhütungsmethoden spielten kaum eine Rolle. In der Folge setzte sich die selektive Geburtenkontrolle zuungunsten der Frauen durch, da in erster Linie weibliche Föten abgetrieben wurden. Eine Praxis, die sich auch dann kaum veränderte, als die staatlichen Zwangsmaßnahmen entschärft wurden. 160 Millionen Frauen seien im Laufe der Jahrzehnte weltweit »verschwunden«, rechnet die Autorin nach, und nimmt dabei das natürliche Geschlechterverhältnis von 100:104 zum Maßstab, wonach geringfügig mehr Mädchen als Jungen zur Welt kommen.
160 Millionen – eine abstrakte, unfassbar hohe Zahl, der die Autorin Hvistendahl auf mehr als 400 Seiten nachforscht. Dabei liegt die Stärke des Buches in den vielen Facetten, die die Autorin dem Gegenstand abgewinnt. Denn Geburtenkontrolle und Abtreibung allein führen nicht zwangsläufig zur Bevorzugung der männlichen Nachkommen und auch nicht zu einem derart drastischen statistischen Missverhältnis. Dafür bedarf es einer Kombination der in vielen Ländern Asiens traditionell vorherrschenden Vorstellung vom »Wunschkind Junge« mit hochmoderner Technik. Minutiös beschreibt die Autorin die Kooperation von Ärzten, Forschern und Unternehmern, die Ultraschallgeräte und andere Methoden der pränatalen Geschlechter­identifikation entwickeln, die es auch in den entlegensten Dörfern möglich machen, vor der Geburt zu erkennen, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen wird. Auf Drängen der USA und internationaler Organisationen wie der Uno und der Weltbank werden diese Geräte weltweit eingesetzt. Problematisch wird dieser technische Fortschritt, wenn die Eliten und politisch Verantwortlichen des globalen Südens, keineswegs nur unter dem Druck der westlichen Geldgeber, die »Vermehrung der Armen« im eigenen Land möglichst strikt unterbinden wollen. Erst unter diesen Umständen – der medizinischen Möglichkeit und dem politischen Willen, die verfügbare Technik im Sinne einer repressiven Politik einzusetzen – wird die rigide Bevölkerungskontrolle Wirklichkeit. Und mit ihr der Wunsch der Eltern nach einem Jungen und die gezielte Tötung weiblicher Föten. Denn wenn man die Anzahl seiner Kinder schon begrenzen muss, dann möchte man wenigstens einen Jungen: ein gesellschaftlich erzeugter Wunsch, der in Folge der Durchsetzung der »Ein-Kind-Politik« in China mancherorts zu einem Geschlechterverhältnis von 100:150 führte.
Man könnte vermuten, dass mit den sinkenden Bevölkerungszahlen und dem gleichzeitigen, wenngleich nicht kausal daraus ableitbaren Wirtschaftswachstum eine Modernisierung der asiatischen Gesellschaften und damit auch eine Tendenz zu mehr Gleichberechtigung von Frauen einherging. Tatsächlich wurden in China mittlerweile Sprüche wie »Du kannst es raus­prügeln! Du kannst es abtreiben!« ersetzt durch solche wie »Ein Herz für Mädchen – ich bin dabei!« Doch lassen sich geschichtliche Entwicklungen nicht ohne Weiteres rückgängig machen. Am Beispiel Südkoreas, einem Land, das in den siebziger Jahren pro Geburt 2,75 Abtreibungen mehrheitlich weiblicher Föten zu verzeichnen hatte, zeigt die Autorin, dass Frauen dort heute zwar ebenso viele Jungen wie Mädchen bekommen, das Land jedoch die weltweit niedrigste Geburtenrate hat, eine baldige Korrektur des Ungleichgewichts also kaum zu erwarten sei. Zudem breite sich die selektive Geburtenkontrolle, glaubt man den demographischen Kennziffern, in Albanien, dem Kaukasus und ländlichen Regionen Chinas gegenwärtig aus. Für Zweit- und Drittkinder sei sie in Indien und China, vor allem in der Mittel- und Oberschicht, weiterhin an der Tagesordnung – nur Mädchen zu haben, sei immer noch nicht gesellschaftlich anerkannt, so die Autorin.
Die Folgen der »neuen Männergesellschaft« veranschaulicht Mara Hvistendahl in Episoden, die eher den Charakter von Reportagen haben und wenig analytisch sind. Nach Taiwan verkaufte vietnamesische Bräute, die für ihre Eltern ein finanzieller Gewinn sind, Mädchenhandel in China und das Beispiel des »Wilden Westens« voller Männer mögen als Stichworte genügen. Oft bringt die Autorin dies auf die biologistische Gleichung »Mehr Männer = mehr Testosteron = mehr Gewalt«, was trotz der Anschaulichkeit der Beispiele verkürzt und ärgerlich ist. Etwas bedauerlich, aber angesichts der umfassenden Recherchen in Asien fast konsequent ist, dass Hvistendahl die gesellschaftliche Wirklichkeit in den USA und in Europa nur gegen Ende streift, obwohl auch hier selektive Schwangerschaftsabbrüche vorkommen. Erst im letzten Kapitel befasst sie sich mit künstlicher Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik und dem Wunsch nach einem »perfekten Kind« in »Kinderwunschzentren« Kaliforniens. Dort sollen die Nachkommen übrigens am liebsten weiblich sein.

Mara Hvistendahl: Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013, 424 Seiten, 24,90 Euro