Ayoob Sufyan im Gespräch über die Situation in Libyen

»Gaddafi hat in unsere Ignoranz investiert«

Ein libyscher Medienaktivist und Vertreter einer indigenen Bevölkerungsgruppe über die Demokratisierung in seinem Land und seine Eindrücke vom Weltsozialforum.

Während des vorigen Weltsozialforums wurde Ihr Land noch von Gaddafi regiert. Mit welchem Ziel sind Sie nach Tunis gekommen?
Ich arbeite beim Zuware Media Center, einem freien Medienprojekt. Aber gekommen bin ich vor allem als Amazigh, als Angehöriger einer indigenen Bevölkerungsgruppe, der Berber. Unter Gaddafi waren wir unterdrückt, wir durften nicht in unserer Sprache sprechen oder singen. Wir sind hier, um zu zeigen, dass wir existieren, nach der Revolution, nach all dem Blut, das wir für die Freiheit gegeben haben.
Was bedeutet für Sie, dass das WSF im Land des »arabischen Frühlings« stattfindet?
Ich hasse den Begriff »arabischer Frühling«. Denn wir, die Berber, haben auch gekämpft. Sagen wir »nordafrikanische Revolte«.
Wie würden Sie die Lage in Ihrem Land beschreiben, wenn Sie es mit Tunesien vergleichen?
Tunesien ist vollkommen anders. Hier gab es auch einen Diktator, aber es gab Gewerkschaften und schon immer eine Ahnung von der Demokratie. Wir hatten nichts. Die Bevölkerung war dem Konzept der Demokratie gegenüber völlig ignorant, wir kannten das nur aus dem Fernsehen. Auf unserem Sender machen wir heute Awareness-Kampagnen darüber, was Demokratie bedeutet.
Was muss sich in Libyen am dringendsten ­ändern?
Bei den Frauen- und Menschenrechten ist die Lage schrecklich. Es gibt eigentlich beides nicht. Frauen können nicht allein ausgehen und frei sprechen; sie müssen sich an Regeln halten, wenn sie das Haus verlassen, und dürfen nur bestimmte Berufe ausüben. Kultur und Bildung sind ein Privileg der Männer. Auch die Sicherheitslage muss sich verbessern. Derzeit herrscht in Libyen etwas, das viele »Balance des Terrors« nennen, was bedeutet, wenn alle Waffen haben, kann niemand die Macht übernehmen. Die Macht ist im Land unter den Milizen verteilt.
Bald soll es auch in Libyen eine neue Verfassung geben. Macht Ihnen das Hoffnung?
Die verfassungsgebende Versammlung, das sogenannte Komitee der 60, wird bald gewählt. Aber davon kann man nichts erwarten. Denn darin müssten verschiedene Klassen und gesellschaftlichen Gruppen vertreten sein, etwa Intellektuelle, junge Leute, Frauen, Arbeiter, Künstler. Das wird aber nicht passieren, wenn man die Versammlung wählen lässt.
Warum ist das so?
Ich war bei der letzten Wahl der jüngste Kandidat für die Nationalversammlung in meinem Bezirk. Niemand hat verstanden, dass ein junger Mann politische Verantwortung übernehmen könnte. Es wird auch niemand einen Arbeiter wählen, weil der kein Geld für eine Kampagne hat, ganz zu schweigen von einer Frau. Nur die großen Parteien werden die Verfassung schreiben und nicht die Bürgerinnen und Bürger. Das wird ein Desaster.
Gibt es heute Redefreiheit in Libyen?
Ja. Man kann alles sagen. Es gibt Meinungsfreiheit, weil niemand dich stoppen kann.
Es heißt, die Milizen würden Kritik nicht dulden.
Es kommt darauf an. Ich habe mit den Rebellen gekämpft und kann heute sagen, was ich will. Ich habe in meiner Radiosendung die Milizen heftig kritisiert, aber niemand ist je gekommen und hat mich bedroht.
Libysche Bürgerrechtler haben beim WSF die exzessive Inhaftierungspraxis im Land kritisiert.
Es stimmt, dass viele Menschen sehr leicht eingesperrt werden. Manche wegen illegaler Sachen. Wir sind keine Gesellschaft der Engel. Aber es gibt viele Menschen, die während der Revolution schreckliche Verbrechen begangen haben und heute noch frei herumlaufen. Es gab keine Aufarbeitung.
Auf dem Forum tritt der Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen in Tunesien zutage. Gibt es Vergleichbares auch in Ihrem Land?
Nein. Im Nationalrat gibt es die Muslimbrüder, aber sie sind nicht die Stärksten. Die Libyer sind nicht so islamistisch. Wenn man Muslimbrüder sagt, denken viele an Selbstmordattentäter. Und wenn man Säkularismus sagt, denken sie an Säufer und an Prostituierte. Man kann ihnen das nicht vorwerfen. Gaddafi hat in unsere Ignoranz investiert.
Haben Sie studiert?
Ja. Englische Literatur.
Waren Sie schon einmal im Ausland?
Vor der Revolution nicht. Danach wurde ich in Ägypten zu gesponserten Workshops über Medienarbeit und Zivilgesellschaft eingeladen.
Wie haben Sie das Forum bisher erlebt?
Ich habe mit Leuten gesprochen, die an Sachen arbeiten, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Heute habe ich mit jemandem gesprochen, der sagte, Werbung sei schädlich für die Gesellschaft. Seine Gruppe will Werbung bekämpfen, auf so eine Idee bin ich noch nie gekommen. Aber so etwas zu sehen, öffnet den Geist. Das Forum ist das größte, das ich je gesehen habe. Ich bin begeistert und glücklich. Ich fahre das nächste Mal wieder hin, aber mit mehr Vorbereitung. Hier hat man uns erst 48 Stunden vorher eingeladen und wir saßen zehn Stunden im Bus.
Viele Menschen hier vertreten sozialistische oder kommunistische Ideen. Was halten Sie davon?
Ich habe viele amerikanische Freunde auf Facebook, die auch Sozialisten sind. Ich bin mit vielen dieser Ideen einverstanden. Auf dem Forum laufen Menschen mit Fragebögen herum, darauf soll man ankreuzen, ob man ein Linker oder ein Rechter ist. Und ich dachte: Was heißt das? Wir Libyer müssen politisch noch viel lernen. Bislang gibt es bei uns nur eine sehr kleine Klasse von Menschen, die wirklich gebildet ist.