Der Streit zwischen Religiösen und Säkularen auf dem WSF

Meine Revolution, deine Revolution

Beim Weltsozialforum in Tunis wurde der Konflikt zwischen Säkularen und Islamisten nicht ausgetragen, unterschwellig präsent war er aber ständig. Die verschiedenen sozialen Bewegungen haben kaum einen gemeinsamen Nenner.

Ihr Name ist Monica und normalerweise unterrichtet sie auf der anderen Seite des Campus Italienisch. Am dritten Tag des Weltsozialforums (WSF) sitzt die junge Frau hinter dem Stand der »Tunesischen Liga für Toleranz«. Das Gelände der staatlichen al-Manar-Universität, auf dem das Forum stattfindet, ist heute brechend voll, es ist sommerlich warm, aus der ganzen Welt sind Teilnehmer angereist. Einigen von ihnen erklärt Monica die großformatigen Fotos, die über ihrem großen Stand mitten im »Palästina-Dorf« des WSF hängen: Syriens Diktator Bashar al-Assad neben Hugo Chávez, dem iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad und Mahatma Gandhi. »Wir betrachten Assad als Aktivisten für die Rechte des palästinensischen Volkes«, sagt Monica.
Zehntausende Menschen sind in diesen Tagen nach Tunis gekommen. Das Forum ist eine Verneigung vor dem »arabischen Frühling«, der hier vor zwei Jahren seinen Anfang nahm. Wie kann man hier einen arabischen Diktator feiern, der bis heute Zehntausende Syrer hat umbringen lassen? Es sei vielleicht schwer zu verstehen, sagt Monica und lächelt, aber »die Lage in Syrien ist anders«. Wie denn? »Die Tunesier waren friedlich, die Ägypter auch.« Die Syrer hingegen seien bewaffnet und der Westen habe seine Finger im Spiel. »Wir müssen ja fragen: Was kommt nach Assad?« sagt sie. Ihre Antwort: Blutvergießen, Kleinstaaterei. »Deswegen ist es in dieser Situation besser, wenn Assad bleibt.«
Einst angetreten, um einen Kapitalismus zu bekämpfen, der auch noch die letzten Winkel der Welt zu seinen Märkten macht, begreift sich das WSF heute offiziell als neutraler Spiegel der sogenannten Zivilgesellschaft – doch die hat in Tunis keinen gemeinsamen Nenner. Außer vielleicht einen: »Wir haben nichts gegen die Juden und auch nichts gegen die Israelis«, sagt Monica. Man sei lediglich »für die Palästinenser«. Und deswegen auch für Assad, Chávez, Gandhi, Ahmedinejad und die Hizbollah. Palästina-Solidarität, das ist hier der Minimalkonsens. Das Thema dominiert das Forum zumindest optisch derart, dass all die drängenden Süd-Nord-Fragen fast wie thematisches Beiwerk erscheinen.
Am Freitag errichten offensichtlich regierungsnahe Iraner auf dem Hauptplatz des Forums eine Art aufblasbaren Turm. Das etwa zehn Meter hohe Gebilde trägt den Schriftzug »Zionism = Racism«, es wird eine Dauermahnwache. Die iranischen Redner ziehen Hunderte Zuhörer an, sie recken Plakate in die Luft, auf denen ein Männchen einen Davidstern in einen Papierkorb wirft. Einige Meter weiter haben andere Iraner großformatige Fotos von Leichen ausgestellt, es soll sich um Opfer israelischer Angriffe auf die palästinensischen Gebiete handeln. Über den grauenerregenden Fotos steht: »The real Holocaust«. Am Vortag war eine Performance eine Attraktion auf dem WSF, bei der man eine große Israel-Flagge am Boden beschmieren und sich dann filmen lassen konnte, während man darauf herumtrampelte.

Das einst in Südamerika entstandene Forum gastiert zum ersten Mal in einem arabischen Land. Vor zwei Jahren fiel die Entscheidung dafür, in eine Gegend zu gehen, in der die Dynamik der sozialen Bewegungen derzeit stärker ist als irgendwo sonst auf der Welt. Doch die massiven Konflikte in der Region ziehen sich nun auch mitten durch das Forum. Am ersten Tag haben die Organisatoren auf der Avenue Habib Bourguiba, der Prachtstraße der Hauptstadt, ein Zelt errichtet. Obwohl das Forum einige Kilometer außerhalb stattfindet, können sich die Teilnehmer an diesem symbolträchtigen Ort regis­trieren. Es ist die Meile der Revolution, hier liegt das Innenministerium, früher die Machtzentrale Ben Alis, um die Ecke der Glaspalast, in dem seine mittlerweile aufgelöste Partei RCD einst residierte. Vor zwei Jahren demonstrierten hier Zehntausende Tunesier, bis Ben Ali stürzte.
Das WSF-Zelt ist zu klein, auf den Tischen stehen Freiwillige, sie brüllen und gestikulieren mit den Armen, damit die Teilnehmer sich in Reihen aufstellen, um ihre Teilnehmerkärtchen abzuholen. Auch draußen ist es voll und es wird geschrien, doch hier geht es um etwas anderes. Trauben von Männern haben sich gebildet, sie diskutieren, fassen sich gegenseitig an den Armen und zerren daran. Die einen sind Anhänger der regierenden islamistischen al-Nahda-Partei, die anderen sind Linke, oft Mitglieder einer der vielen Organisationen, die das WSF gemeinsam veranstalten. Es geht hin und her. »Das bringt doch alles nichts hier«, sagt einer der Regierungsanhänger, er meint das Forum, und erntet wütendes Geschrei, bis einer der Linken das Wort in den Mund nimmt: »Dégage«, sagt er, verschwinden soll sie, gemeint ist al-Nahda. Sie habe versagt, politisch, sozial, sie solle abhauen, die Regierung niederlegen. »Dégage« – mit diesem Ruf hatten die Tunesier genau hier auch Ben Ali vertrieben. Als sie sich das erste Mal trauten, es offen zu sagen, war es um den Diktator geschehen, sein Schicksal nur noch eine Frage der Zeit. Entsprechend empfindlich reagieren jetzt die Anhänger al-Nahdas auf das Reizwort, wieder wird viel geschrien und geschubst. Mahmoud, ein junger Tunesier mit weißer WSF-Weste, schleicht mit besorgter Miene um die Diskutanten. Er ist einer der Ordner des Forums und soll verhindern, dass der Streit sich bis in das Zelt ausbreitet. »Es sind hier alle ein bisschen nervös gerade«, sagt er.
Der Streit zwischen den Religiösen und den Säkularen durchzieht das ganze Forum. Der künftige Kurs des Landes ist noch immer so umkämpft wie direkt nach dem Sturz von Ben Ali. Radikale Muslime streiten mit Linken und beide mit der Regierung. Der bislang ungeklärte Mord an dem sozialistischen Oppositionellen Chokri Belaïd Anfang Februar hat die Lage verschärft. Das Forum steht zum ersten Mal nicht unter dem traditionellen, von den Zapatisten erfundenen Motto »Eine andere Welt ist möglich«, sondern unter dem Motto »Würde«, einem der Schlagworte der tunesischen Revolution von 2011.

Auf dem Universitätsgelände sind auch islamistische Gruppen vertreten, sie werben für »islamische Lebensart« und die Sharia. In einem Verwaltungsgebäude haben islamistische Studierende eine Mahnwache errichtet, seit 30 Tagen protestieren sie hier ununterbrochen für das Recht, mit Niqab an die Universität zu kommen. »Niquab till the End« ist auf ihren Plakaten zu lesen. »Sie sagen, es sei die Revolution der Würde, aber unsere Würde wollen sie uns stehlen«, sagt Emina, eine junge, vollverschleierte Elektrotechnikstudentin. Sie trägt, wie alle hier, das weiße Teilnehmer­kärtchen des WSF um den Hals. »Das Forum steht für Würde und das ist genau das, was den Islam ausmacht: Würde und soziale Gerechtigkeit«, meint auch Fatma Maaima, eine andere religiöse Studentin, die auf der Treppe vor der juristischen Fakultät Broschüren verteilt. Ihre Gruppe sei für die Einführung der Sharia, sagt sie, und drückt dem Fragenden eine Visitenkarte in die Hand. »Wir wissen, dass viele hier gegen die Revolution sind, aber wir sind hier, um mit ihnen zu diskutieren. Wir sind tolerant.«
Molka Sousi macht das wütend. Für sie seien Islamisten »Manipulatoren«, die die Öffentlichkeit täuschten, sagt die junge Französischstudentin. Sie ist Sprecherin des säkularen Studierendenverbandes UGET, der auf dem Campus ein paar Zelte errichtet hat. Das sehe man schon an ihrer Mahnwache: »Es stimmt nicht, dass sie nicht mit Niqab studieren dürfen. Es geht nur um die Frage, wie die verschleierten Frauen bei Prüfungen ihre Identität belegen sollen.« Die Islamisten wollen, dass es reicht, den Ausweis vorzuzeigen, die Unileitung besteht darauf, dass der Schleier kurz gelüftet wird, gegenüber einer Frau. Ein Stellvertreterkonflikt im postrevolutionären Kampf zwischen Religiösen und Säkularen. Sousi sagt: »An der Uni wollen sie die Niqab-Pflicht für Frauen und getrennte Seminarräume für Männer und Frauen. Hier sind sie noch eine Minderheit, doch im Land wächst ihr Einfluss schnell.« Sie habe Angst vor der wachsenden Macht der Religiösen, Angst, dass ihre Revolution in einen Gottesstaat führen könnte.

Für den Gründer des Weltsozialforums, den brasilianischen Allround-Aktivisten Chico Whitaker, ist die Anwesenheit solcher Gruppen kein Problem. »Das Forum ist Vielfalt und es ist Demokratie«, sagt er. Es gebe keine Leitung, niemand, der bestimme. Die Grundsätze seien: keine Regierung, keine Parteien, keine Guerillas. Wer diese Regeln erfülle, sei willkommen, sagt er. »Das Forum kann und darf die Vielfalt der sozialen Bewegungen nicht kontrollieren wollen.« Dass es in Ländern, in denen Gruppen wie die von Fatma Maaima, die syrische Ba’ath-Partei oder die iranischen Mullahs das Sagen haben, weder Toleranz noch ein WSF oder eine Zivilgesellschaft gibt, übergeht Whitaker.
Doch natürlich ist der Campus der al-Manar-Universität in diesen Tagen nicht nur ein Tummelplatz für Sharia- und Diktatoren-Freunde. Organisationen aus aller Welt sind registriert, die meisten von ihnen ökologisch oder sozial, viele basisdemokratisch oder antikapitalistisch ausgerichtet. Der Versuch, der ökonomischen Dominanz des Nordens Modelle für eine andere Wirtschaft, eine anders organisierte Gesellschaft entgegenzusetzen, kann hier in allen erdenklichen Facetten betrachtet werden. Am Donnerstag sprechen Experten über die Frage der Nahrungssouveränität in Westafrika. Die Region exportiert zu viel von ihrer Nahrungsmittelproduktion, so dass für die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu wenig bleibt. 2012 betrug diese Differenz fast drei Milliarden Dollar. Wenn die Lebensmittelpreise steigen, können diese Länder sich keine ausreichenden Importe mehr leisten. Vom Entwicklungsziel der »Nahrungssouveränität« ist die Region also weit entfernt. Dabei haben die Weltbank und der Internationale Währungsfonds dieses Entwicklungsziel formuliert – aber gleichzeitig die Exportorientierung des Agrarsektors vorangetrieben. »Manche Länder könnten doppelt so viele Menschen ernähren, wie in ihnen leben, haben aber nur Nahrung für halb so viele«, sagt ein Aktivist aus Togo. Die Runde ist sich einig, sie warnt vor einer weiteren Zurichtung des Agrarsektors. »Es gibt genug für die Bedürfnisse des Menschen, aber nicht genug für seine Gier«, sagt Teilnehmer Bernhard Walter von der deutschen Organisation Brot für die Welt. Doch mehr, als diese Feststellung zu treffen, kann diese Runde im Moment nicht tun: »Ich hoffe, wir sehen uns wieder beim nächsten WSF in zwei Jahren«.
Die Demonstranten aus Choucha haben andere Hoffungen. Hunderte Flüchtlinge aus dem libyschen Bürgerkrieg sitzen seit zwei Jahren in dem UNHCR-Wüstenlager nahe der libyschen Grenze fest. Das UNHCR weigert sich, sie als Flüchtlinge anzuerkennen, und will das Lager bald schließen. Die aus Ländern wie Eritrea, Somalia, dem Tschad oder Nigeria stammenden Flüchtlinge sind eine Art Folgeerscheinung des »arabischen Frühlings«, sie können nicht zurück nach Libyen, nicht zurück in ihre Heimat, Tunesien will sie nicht, Europa auch nicht. Sie wollen das Forum nutzen, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen. Das Verteidigungsministerium hat dies genehmigt, doch am Montagabend, als die von Spendern finanzierten Busse in der Stadt Ben Gardane losfahren wollen, erscheinen Militäreinheiten und halten die Busse ohne Begründung auf. Viele der Flüchtlinge kehren entmutigt nach Choucha zurück, doch einige machen sich auf eigene Faust auf dem Weg in die Hauptstadt. Am Mittwochmorgen stehen sie vor dem Eingang der Universität. Sie tragen Transparente, Tausende der WSF-Teilnehmer ziehen an ihnen vorbei und nehmen ihre Flyer entgegen. »Wir sind politische Flüchtlinge, das muss die internationale Gemeinschaft anerkennen«, sagt einer von ihnen. Das UNHCR begehe einen Fehler, wenn es sie in der Wüste sich selbst überlasse. Am Abend treten 40 von ihnen vor dem UNHCR-Gebäude in Tunis in einen Hungerstreik.
Zur selben Zeit sitzt Philippe Nanger aus Douala in Kamerun in einer Hotellobby in der Nähe. In seiner Heimat arbeitet er bei einer Organisation, die sich um Arbeitsmigranten kümmert. Die gehen oft nach Nordafrika, teils bleiben sie hier, teils ziehen sie weiter. Für ihn war es selbstverständlich, zum Forum zu kommen, er hofft auf Kontakte zu Gruppen, die ähnliche Schwerpunkte haben. »Das Forum ist dafür eine wunderbare Sache«, sagt er. Doch es sei auch eine Veranstaltung für Reiche: »Die Armen werden ausgeschlossen.« Vor zwei Jahren in Dakar seien sie zu sechst angereist, diesmal ist er allein gekommen. »Die Subsaharis können sich die Reise nur leisten, wenn sie jemanden finden, der sie einlädt«, sagt er.

Am Freitag endet das Forum mit der »Assemblée des Mouvements«, der Versammlung der Bewegungen. Das Auditorium ist voll, Vertreter fast aller Gruppen dürfen einmal auf die Bühne und kurze Statements abgeben, stets gibt es Applaus. Es entsteht der Eindruck, dass alle hier gleichberechtigt seien und am selben Strang zögen. »Wir wissen, wer die Welt kaputt macht«, ruft eine Brasilianerin, »es sind die großen Konzerne, die Multinationalen. Ihre Macht zerstört alles und deswegen sind wir hier«, sie brüllt fast, die Menschen sind begeistert, sie schwenken Fahnen – Nationalfahnen von Venezuela, Tunesien, palästinensische Flaggen, Attac-Fahnen und viele andere sind zu sehen. So geht es eine Zeitlang. Doch irgendwann kommt es doch zu einem Konflikt: Vertreter der Frente Polisario stehen auf der Bühne und verlangen die Unabhängigkeit der Westsahara von der marokkanischen Besatzung. Doch gleichzeitig sind nationalistische Marokkaner, die den Wüstenstreifen als unveräußerlichen Teil ihres Vaterlandes betrachten, auf die Bühne gekommen. Das Publikum ist verwirrt, vielen ist der Konflikt zwischen den Sahrauis und den Marokkanern offensichtlich nicht geläufig, sie wollen sich die Stimmung des Abends nicht kaputtmachen lassen. Und so rufen sie »Solidarität, Solidarität«, immer wieder, lauter und lauter, niemand kann recht sagen, wem die Rufe gelten, und so können beide Fraktionen die Rufe auf sich beziehen. Das Handgemenge legt sich, die Kontrahenten räumen die Bühne.
Im Publikum sitzt Rodrigo, ein junger Aktivist aus Brasilien. Er trägt trotz der Hitze einen braunen Wollpulli und um den Hals das grüne Tuch der Kleinbauernorganisation Via Campesina, er selbst allerdings studiert nahe Porto Alegre Politikwissenschaft. »Ich war sehr gespannt auf das Forum in Tunesien«, sagt er. »Die Leute hier haben gezeigt, was der Druck der Straße erreichen kann, das ist genau das, was wir wollen: Ohne Parteien, ohne große Organisationen eine Macht von unten aufbauen.« In den vergangenen Jahren sei das WSF zu einer verschnarchten Veranstaltung geworden, er müsse es wissen, er habe alle mitgemacht, sagt Rodrigo. »Die Kämpfe der Welt zusammenbringen«, diesen Anspruch hätte das Forum immer weniger erfüllen können. Doch hier, im Mutterland der arabischen Revolte, seien die Menschen »voller Begeisterung, überzeugt von sich selbst, von der Macht des Volkes«, sagt Rodrigo. Dass es vollkommen unklar ist, welche Macht sich hier auf der Straße konstituiert und durchsetzt, dass es nicht »das Volk« gibt, sondern eine tiefe, vertikale Spaltung der Gesellschaft, »die Straße« der Säkularen und jene der Islamisten, das habe er erst nach und nach gemerkt, sagt Rodrigo. »Bei uns in Lateinamerika gibt es auch Religiöse und es gibt ein sehr konservatives Establishment.« Doch hier liegen die Dinge anders: »Ich bin immer auf der Seite des Volkes, das Volk selbst muss seinen Kampf entwickeln.« Doch wenn »das Volk« sich nicht einig ist, wenn innerhalb der »Macht von unten« fundamental unterschiedliche Vorstellungen existieren? »Dann ist es kompliziert«, sagt Rodrigo.