Das Weltsozialforum in Tunis

Mut zur Lücke

Zehntausende Teilnehmer haben beim Weltsozialforum in rund 1 200 Workshops und Veranstaltungen die Kooperation zwischen NGOs aus dem Norden und dem Süden forciert. Doch es gab auch Vereinnahmungsversuche von staatlichen und antiemanzipatorischen Organisationen.

Am Dienstag voriger Woche findet die Auftaktdemonstration des Weltsozialforums (WSF) in Tunis statt. Es beteiligen sich zwischen 15 000 und 20 000 Menschen aus aller Welt. Auf einmal versucht eine kleine Gruppe von Leuten mit Trans­parenten, die überwiegend arabische Aufschriften tragen, sich an die Spitze zu setzen. Die meist ausländischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer dürften kaum ahnen, um wen es sich handelt. Auch wer arabisch lesen kann, erkennt auf den Transparenten wenig Aussagekräftiges. Eines trägt die Aufschrift »Tunesische Frauenvereinigung«, obwohl die Träger ausschließlich junge Männer sind. Wie sich herausstellt, gehört die Gruppe von einem bis zwei Dutzend Menschen zu den »Ligen zum Schutz der Revolution« (LPR), die der islamistischen Regierungspartei al-Nahda seit Jahresmitte 2012 als Fußtruppe zur Straßenmobilisierung dienen. Beobachter identifizieren ein bekanntes Mitglied der LPR, das nach einem Fußballspieler »Recoba« genannt wird.
Da die Sache vielen Teilnehmern und Veranstaltern der internationalen Demonstration nicht geheuer ist, lässt man die Gruppe vorweg laufen, um danach gut 200 Meter Abstand zu wahren. Dann folgt die eigentliche Demonstrationsspitze: Die Familienangehörigen von jungen Tunesiern, die während der ersten Phase der Revolu­tion im Dezember 2010 und Januar 2011 von der Polizei getötet wurden, tragen Bilder ihrer toten Kinder oder Geschwister. Neben ihnen gehen Invaliden, die durch Schusswaffen verletzt wurden, an Krücken oder werden im Rollstuhl geschoben. Gemeinsam ist ihnen die Forderung nach angemessener Entschädigung und symbolischer Gerechtigkeit: »Wir vertrauen der Militärjustiz nicht«, proklamieren sie. Bislang sind die Prozesse gegen Angehörige der Repressionskräfte einer speziellen Militärgerichtsbarkeit anvertraut, sie kommen kaum voran.

Auf diese beeindruckende Demonstrationsspitze folgt ein buntes Gemisch von Menschen mit ganz unterschiedlichen Anliegen: Schuldenstreichung für die sogenannte Dritte Welt, Kampf gegen CO2-Emissionen, Bewegungsfreiheit für Migranten. Es gibt auch einige islamistische Inhalte, etwa »Schutz für Familien mit islamischen Prinzipien«. Diese bleiben aber insgesamt eher marginal. Die Demonstration wird von den internationalen Teilnehmern dominiert. Ob es eine gemeinsame, themenübergreifende Botschaft gibt, ist schwer auszumachen, es herrscht eher ein Eindruck von Heterogenität jenseits allgemeiner Grundanliegen – für mehr Gerechtigkeit – neben länderspezifischen Anliegen.
Staatliche Organisationen sind eigentlich unerwünscht bei Weltsozialforen, die ansonsten einen Jahrmarkt unterschiedlichster Ausdrucksformen darstellen: Werbung für NGOs mit kommerziellen Praktiken, für Esperanto als Weltsprache oder »Weltbürgerpässe« findet sich ebenso wie gewerkschaftliche Organisierungs- und philosophische Orientierungsangebote. Konsequent durchgehalten wurde das Prinzip der Staatsferne, wie so oft beim WSF, jedoch nicht. Staatliche oder staatsnahe Akteure unterschiedlicher Provenienz konnten sich de facto darüber hinwegsetzen. Die dem US-Außenministerium nahestehende und von ihm finanzierte Entwicklungsagentur US-Aid präsentiert sich an einem Stand als NGO, die halbstaatliche brasilianische Ölfirma Petrobras hat das gemeinsame Hauszelt der Vereinigungen aus ihrem Land gestiftet. Das Königreich Saudi-Arabien tritt zwar nicht durch Personen direkt in Erscheinung, stellt aber weiße Zelte als Regenschutz zur Verfügung, die die unwahrscheinliche Aufschrift »Saudi Arabia, kingdom of humanity« tragen. Nach einem Tag ist allerdings von dem Text kein Buchstabe mehr zu erkennen, jemand hat dick rote Farbe drübergepinselt.
Den wohl krassesten Fall quasistaatlicher Präsenz bildet eine iranische Propagandaorganisation. Am ersten Tag gibt sie sich nicht offen zu erkennen. Sie zeigt jedoch in einem der Innenhöfe der Universität al-Manar, auf deren Gelände das WSF stattfindet, eine eindeutig antisemitische Fotoausstellung. Man muss schon sehr genau hinschauen, um das Logo der Islamischen Republik Iran zu erkennen. Am übernächsten Tag packen die bärtigen Standwächter, die mit einer Kamera mögliche Widersacher filmen, dann jedoch ihre Staatsfahne und ein Khomeini-Portrait aus.
Gleichzeitig bekommen sie Ärger mit Oppositionellen, die direkt gegenüber »Unabhängigkeit für Ahwaz« fordern, eine arabischsprachige und überwiegend sunnitische Provinz im Südwest-Iran. Sie bezeichnen die Iraner als »Safawiden«, nach der Bezeichnung einer persischen Dynastie im 15. Jahrhundert, heute in sunnitisch-islamistischen Kreisen als Schimpfwort für Schiiten üblich. Als die Konfrontation sich zuzuspitzen beginnt, gehen Menschen mit tunesischen und ägyptischen Fahnen dazwischen und verdecken beide streitenden Fraktionen. Eine tunesische Forumsteilnehmerin meint dabei im Vorübergehen, die Iraner hätten hier nichts zu suchen. Ein Landsmann wendet ein, er sei strikt gegen das Teheraner Regime, aber man müsse »das Regime beschimpfen, jedoch nicht die Schiiten oder das iranische Volk als solche«.

Antiemanzipatorische Organisationen, die auf einem progressiven Forum nichts zu suchen haben sollten, sind unter freiem Himmel, etwa im Innenhof der Universität, optisch präsent. Auch tunesische Islamisten mit Buchläden und einem Stand zu »islamischer Nächstenliebe (charity)«. Dort, wo das Weltsozialforum arbeitet – in rund 1 200 Workshops, Debatten und thematischen Plenarsitzungen – sind solche Kräfte jedoch kaum vertreten. Islamisten unterschiedlicher Couleur nehmen an vielleicht zehn Veranstaltungen als Sprecher auf Podien teil, darunter eine prominent besetzte Diskussionsrunde mit dem islamistischen Vordenker Tariq Ramadan. Saudis oder Iraner treten bei den Debatten nicht in Erscheinung.
Zu Syrien finden über ein halbes Dutzend Workshops statt, die alle thematisch der Unterstützung der dortigen Revolution gewidmet sind. Die Auseinandersetzung darüber, ob man die syrische Opposition oder das Regime unterstützen soll, ist im Vorhinein geführt und grundsätzlich entschieden worden. Nicht alle akzeptieren das. Am letzten Forumstag wird sogar der Stand eines Unterstützungskomitees für die syrische Revolte mit körperlicher Gewalt attackiert. Allerdings sind die meisten, wenn nicht alle Befürworter des syrischen Regimes beim WSF Tunesier und nicht etwa aus Damaskus angereist. Eine Minderheitsfraktion innerhalb des tunesischen Linksnationalismus unterstützt das syrische Ba’ath-Regime, das sie von einer »imperialistisch-islamistischen Invasion mit Unterstützung der reaktionären Golfstaaten« bedroht sieht. Dazu gehört auch ein Teil der Anhänger des im Februar ermordeten linken Politikers Chokri Belaïd. Die tunesische »Volksfront«, der er angehörte, hat ­allerdings inzwischen mehrheitlich Position gegen die syrische Diktatur bezogen. Die Auseinandersetzung spiegelt anhaltende Konflikte über dieses Thema innerhalb Tunesiens wider.

Ein Gesamtbild des WSF ergeben diese spektakulären Erscheinungen in den Durchgangszonen der Universität al-Manar jedoch nicht. Denn in zahlreichen Veranstaltungen wird auch gearbeitet. Dabei kommt die grenzübergreifende Kooperation zwischen progressiven Kräften oft voran, trotz manchmal erheblicher organisatorischer Schwierigkeiten. Am Dienstag vor der Eröffnung des Forums wird die Solidarität ganz praktisch. Am Vormittag, vor der Auftaktdemonstration um 16 Uhr, versammeln sich in Montplaisir – einem Stadtteil von Tunis – tunesische Streikende, UGTT-Gewerkschafter und französische Gewerkschaftsdelegationen von SUD und CGT vor dem Sitz des Konzerns Téléperformance. Das weltweit führende Unternehmen in der Call-Center-Branche ist in Paris börsennotiert, wo es auch seinen Hauptsitz hat, und leistet den Telefonberatungsservice für zahlreiche französische Unternehmen. Seine Filiale in Tunesien wird seit Ende Februar bestreikt. Seit 2010 gibt es einen Tarifvertrag, der jedoch nie eingehalten wurde. Statt über die Auslagerung von Arbeitsplätzen nach Tunesien zu klagen, unterstützen die weiter links stehenden französischen Gewerkschaften diesen Arbeitskampf, üben ihrerseits Druck auf die Direktion aus und fordern bessere Bedingungen für die tunesischen Kollegen. Dies hat zur Folge, dass noch am selben Dienstag eine Verhandlungsrunde in Tunesien eingeläutet wird – das Unternehmen blufft jedoch und legt keinerlei Angebote vor. Am Anfang dieser Woche, vom 1. bis 3. April, flammt der Arbeitskampf umso stärker auf und wird nunmehr von 80 Prozent der Beschäftigten befolgt. Auf dem Forum sind solche Nord-Süd-Kooperationen ein wichtiges Thema, sei es in der Telekommunikationsbranche oder im Metallsektor, wo viele Subaufträge nach Marokko oder Tunesien vergeben werden. Gewerkschafter aus Frankreich, Italien, Spanien, Nordafrika und Kolumbien diskutieren vielfach über gemeinsame Strategien.
Auch die Rechte von Migranten sind ein wichtiges Thema. Die Sans-papiers-Bewegung illegalisierter Einwanderer aus Frankreich und Europa ist präsent. Auch die Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika, die zum Teil seit zwei Jahren im Choucha-Camp an der Grenze zwischen Tunesien und Libyen festgehalten werden, nehmen an vielen Debatten teil. Sie führen derzeit einen Hungerstreik in Tunis. Wenn, wie vorgesehen, das Camp am 1. Juli geschlossen wird, wissen einige Flüchtlinge nicht, wohin sie gehen können. Angehörige des tunesischen Militärs kündigten ihnen an, »nur auf Befehle zu warten, um dann die Großreinigung zu beginnen«, und beschimpften sie rassistisch als »Sklaven«. Die Flüchtlinge sollen zum Teil in anderen Ländern »reinstalliert« werden, aber die Festung Europa zeigt sich weitgehend unnachgiebig. Deutschland hat inzwischen immerhin 100 bis 200 Menschen aus Choucha die Aufnahme zugesagt, diese verzögert sich jedoch. Positiv zu vermerken ist, dass die UGTT – die ihren »Sekretär für internationale Beziehungen und Migration« zu den Debatten geschickt hat – sich deutlich zugunsten der Rechte von Migranten auch in Tunesien engagiert.