Über den »Record Store Day«

Eichhörnchen im Glück

Ein Tag für Plattenjäger und -sammler: Am 20. April lockt der Record Store Day Käufer mit exklusiven Veröffentlichungen in die Plattenläden. Die Veranstaltung ist nicht unumstritten.

Es gab mal eine Zeit, da waren Plattenläden für Musikfreaks ungefähr das, was Kirchen für Katholiken sind. Im Plattenladen traf man auf Gleichgesinnte, das Angebetete war zum Greifen nah und man verbrachte Stunden damit, zu lobpreisen, sich über unterschiedliche Auslegungen zu unterhalten und Geschichten zu erzählen, die nicht zuletzt der Selbstvergewisserung dienten. Die ganze Bude Subkultur wurde hier geprägt und zusammengehalten, kaufmännische Tugenden waren sekundär, es ging um Höheres. Deutungsmacht besaß der Betreiber des Plattenladens. Ein meist schlecht rasierter Typ mit Augenringen und Zigarette, vielleicht selber Künstler, zumindest aber Verrückter und nicht selten übler Laune. Er herrschte über all die angebeteten Platten, die man sich unbedingt anhören, manchmal sogar kaufen wollte. Und es ist wirklich wahr: Besonders eingebildete Plattenhändler gab es häufig, ihre mittlerweile zur Legende gewordene Unfreundlichkeit machte die Läden zu einer geradezu absurden Unternehmung. Um den Verkauf schien es hier nicht zu gehen, im Zentrum des Geschäftsmodells stand alles, nur nicht das Geschäft. Kein Wunder also, dass man es den größten Konsumkritikern nachsah, wenn sie stapelweise Produkte aus dem Laden trugen.
Größere Entwicklungen, die gern im Zusammenhang mit sogenannten Medienrevolutionen zitiert werden, haben vielerorts zum Bedeutungsschwund des Plattenladens geführt. Die Leute blieben weg, kauften ihre Tonträger online und trafen ihre Peer Group, wenn sie nicht selbst Blogs machten, woanders. Deshalb wurde der Record Store Day ins Leben gerufen. Seit 2007 werden immer am dritten Samstag im April limitierte Veröffentlichungen ausschließlich in den »unabhängigen« Plattenläden verkauft, die vielerorts ein Rahmenprogramm aus Instore-Gigs, Meet-&-Greets und anderen Spektakeln bieten. In den USA ins Leben gerufen, findet die Veranstaltung mittlerweile in über 1 700 Plattenläden weltweit statt. Mit dabei: Kanada, Großbritannien, Irland, Frankreich, Holland, Belgien, Italien, Japan, Hongkong, Australien und Neuseeland – in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich über 180 Läden zur Teilnahme angemeldet. Angeboten werden mehr als 250 exklusive Veröffentlichungen in Kleinstauflagen. Die Vinyl-Fans können ihr Glück kaum fassen. Als würde man Eichhörnchen in eine Badewanne voller Nüsse schmeißen.
Marga Glanz ist zum wiederholten Mal dabei. Sie betreibt Groove City, einen auf Soul, Jazz und HipHop spezialisierten Plattenladen in Hamburg, der fast ausschließlich Vinyl anbietet. »Der Record Store Day funktioniert. Die Leute kommen in den Laden und denken: Huch, das geht ja auch noch!« Im vergangenen Jahr sei Groove City am Record Store Day voller musikbegeisterter Leute gewesen, die Atmosphäre entsprechend ausgelassen.
Christos Davidopoulos, Mitarbeiter von Optimal Records in München, meint, der Record Store Day habe sich positiv entwickelt. Habe es anfangs Probleme bei der Auslieferung von Platten gegeben – kaum ein bestellter Tonträger kam tatsächlich im Laden an –, funktioniere es mittlerweile deutlich besser. In München werde der Tag von Jahr zu Jahr beliebter, Optimal Records verzeichnete am Record Store Day 2012 den Rekordumsatz in 30 Jahren Firmengeschichte. Die Käufer stehen Schlange: »Manche Leute stehen anderthalb Stunden vor Ladenöffnung vor der Tür und warten.«
Der Record Store Day lockt eine besondere Kundschaft an. »Es gibt den Fan«, sagt Davidopoulos, »der sich sonst nie aus seinem Zimmer rauswagt, vor dem Rechner hockt und guckt, was in der Welt mit seinen Bands los ist. Außerdem die Stammkundschaft. Und die Jäger, die gibt es natürlich auch.« Für letztere hat sich der Laden eine besondere Regelung einfallen lassen. Jeder Kunde kann nur ein Exemplar jeder Veröffentlichung kaufen. »Nicht, dass hier einer kommt und alle zehn Bob-Dylan-Singles kauft, um sie drei Stunden später über das Internet zu verkaufen.«
Auch Robert von »Bis aufs Messer«, einem kleinen Plattenladen in Berlin-Friedrichshain, hat wenig übrig für diesen Teil der Kundschaft. Noch immer scheint Liebhaberei eine große Rolle zu spielen, es geht weniger darum, möglichst viele Platten unter die Leute zu bringen: »›Spekulanten‹ ist natürlich ein blödes Wort. Aber manche der Käufer am Record Store Day sind wie Autohändler.« Die Erfahrung habe gezeigt, dass eine besondere Käuferklientel in den Laden gelockt werde, die sich danach nicht wieder blicken lasse. Der Record Store Day sei anfangs eine gute Idee gewesen, die aber mittlerweile dazu verkommen sei, den Sammelwahn zu bedienen beziehungsweise ihn überhaupt erst zu schaffen. »Die Platte ist in den vergangenen Jahren zum Boutiqueobjekt geworden«, sagt Robert, »unser Anspruch ist es, Platten zum Hören zu verkaufen, nicht zum Sammeln oder als Wertanlage.« »Bis aufs Messer« hat deshalb darauf verzichtet, sich in die Record-Store-Day-Verteiler der Vertriebe einzutragen. Stattdessen wird vor dem Laden ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: »Everyday is Record Store Day«.
Woher die Geringschätzung für Käufer, deren Motivation nur entfernt etwas mit Musik zu tun hat? Ist der Sammler nicht ebenso wie die Popkultur selbst ein kapitalistisches Produkt? Und wie deutlich hat sich Pop überhaupt durch die vielbeschworenen subversiven Strategien, Symbole und Versprechen – oder durch das absurde Geschäftsgebaren der Plattenverkäufer – jemals aus den Produktionsverhältnissen lösen können?
Weil die Antwort für alle frustrierend sein könnte, werden Jäger, Sammler und erst recht die sogenannten Spekulanten mit Verachtung gestraft. Vermutlich irritieren nämlich gerade sie die schöne Illusion, dass es sich bei der Schallplatte um weit mehr handelte als ein Erzeugnis aus Öl und Maschinenlärm. Mehr als ein Produkt also, mit dem sich gerade in den vergangenen Jahren wieder einträglicher handeln lässt.
Konnte sich das Vinyl lange Zeit lediglich im HipHop und Techno behaupten, steigen die Verkaufszahlen seit 2006 wieder. Nach Angaben des Bundesverbands Musikindustrie wurde 2012 insgesamt eine Million Vinyl-Langspielplatten verkauft, mehr als dreimal so viele wie 2006. Mit dem »warmen Sound«, dem »atmosphärischen Knistern« oder anderen halb fragwürdigen und halb herbeihalluzinierten Vorteilen der Platte ist dieser Anstieg nur bedingt zu erklären. Tatsächlich bieten Schallplatten, verglichen mit anderen Speichermedien, ausschließlich Nachteile: Sie nehmen Platz weg, sind aufwendig zu archivieren, teuer, oftmals schwer zu bekommen und bei jedem Umzug die Hölle.
Neben allgemeiner Vergangenheitsbesessenheit dürfte paradoxerweise gerade in den Nachteilen des Vinyls der Grund seiner Beliebtheit liegen. Durch ihre Umständlichkeit ist die Platte ein willkommenes Statement gegen Schnelllebigkeit und Hintergrundgedudel. Kein hektisches Skippen, sondern Durchhören. Womöglich im abgedunkelten Zimmer mit Kopfhörer. Kein beiläufiges Abspielen, sondern Aufstehen, Umdrehen, Achtsamsein. Keine nervös angeklickten Links im Internet, um die tägliche Flut digitaler Veröffentlichungen zu scannen, vielmehr Entschleunigung, Fokussierung und eingehende Beschäftigung mit dem Werk. Die Platte zwingt uns förmlich dazu, uns intensiver mit ihr auseinanderzusetzen. Der Genuss, der dabei entsteht, speist sich aus dem Glauben daran, bei Pop handele es sich um eine Welt jenseits aller Verwertungszusammenhänge. Ein Spiel also, das man sich als Popfan noch nie von der Realität versauen lassen wollte.
Die Plattenläden jedenfalls werden am 20. April gut besucht sein. Christian Weinrich vom Plattenladen Green Hell, der Münsteraner Punk- und Indie-Institution, sieht dem Record Store Day mit gemischten Gefühlen entgegen. Seiner Käuferschaft mit limitierten Pressungen eine Freude zu bereiten, hält er für eine gute Idee. Allerdings seien die Preise unverhältnismäßig hoch. »Die At-the-Drive-In-LP ›Relationship of Command‹ kostet 25 Euro im Einkauf. Also Entschuldigung, wenn es hier nicht darum geht, nochmal richtig abzucashen, worum geht es dann?« Wieso Green Hell trotzdem am Record Store Day teilnimmt? »Man kann es sich als Plattenladen einfach nicht mehr leisten, da nicht mitzumachen.« Und man möchte hinzufügen: als Vinylliebhaber eigentlich auch nicht.