Gentrifizierungskritik und Architekturkritik

Allen ihre Nische

Wer in der Gentrifizierungsdebatte nicht von persönlichen Bedürfnissen sprechen will, landet bei Gemeinschaften. Nötig wäre aber eine Architekturkritik, die sich vom vorschnellen Ideologieverdacht nicht irre machen lässt.

In meiner Heimatstadt gibt es einen Konzertort, der Antigentrifizierungsaktivisten wohl als »Freiraum« gelten würde. Die Besitzerin des Hauses hofft, dass sie eines Tages ihr Grundstück gewinnbringend verkaufen kann, auf dass ein schöner Supermarkt an der Stelle entstehe. Bis dahin ist sie bereit, ihr Haus preiswert zu vermieten. Seit etwa 20 Jahren finden dort nun Konzerte mit Bands statt, die sich sonst wohl kaum in diese öde Stadt verirren würden. Ich würde also schon aus purem Eigennutz kein schlechtes Wort über Immobilienspekulation verlieren, schließlich verdanke ich ihr einige der schöneren Abende meiner Jugend.
Mit dieser Anekdote soll nichts affirmiert werden, die sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen dort Kultur betrieben wird, sind durchaus kritikwürdig. Aber eines soll zumindest deutlich werden: Viele der liebgewonnenen Projekte der linken Szene und der autonomen Kultur, über die in der gegenwärtigen Gentrifizierungsdebatte so viel geredet wird, existieren nicht trotz, sondern in gewissem Maße wegen Immo­bilienspekulation. Vielleicht lohnt es sich also, Gentrifizierung einen Moment lang als ästhetisches und ökonomisches Problem zu begreifen, zu dem etwas mehr als die Platitüde zu bemerken ist, dass einfach alle Lebensbereiche vom Kapitalismus erfasst würden.

Bei aller Kontroverse scheint sich in der Debatte gerade ein Konsens herauszubilden, nämlich dass persönliche Geschmacksurteile in ihr keine Rolle spielen dürfen. »Wo einst die Kritik der ka­pitalistischen Gesellschaft praktiziert wurde, ist Subkultur übriggeblieben, die ihre Konsumvorstellungen mit Politik verwechselt«, schrieb schon 2009 Hans-Christian Psaar in der Jungle World. Was vor vier Jahren noch einen wunden Punkt getroffen hat, ist heute zum guten Ton geworden.
Andreas Thiesen stellt in der Jungle World 12/2013 fest: »Der kulturelle Common Sense der Debatte muss vom Ökonomischen getrennt werden. Anders formuliert: Die soziokulturelle Ideologie der Gentrifizierungsgegner konterkariert ihre berechtigten sozioökonomischen Argumente.« In eine ähnliche Richtung geht die Leipziger Gruppe »Disneyland des Unperfekten« (Jungle World 13/2013), wenn sie auch die linke Szene in ihre Kritik mit einschließt. Selbst wenn die Lebensstile der Bewohnerinnen und Bewohner dem Mainstream entgegenstünden, seien sie »Ausdruck einer gesellschaftlichen Pluralisierung im Kapitalismus und diesem immanent«. Eine materialistische Begründung liefert schließlich Sam Ott: »Als würden diese Verhältnisse die Entwicklung von Individualität und Geschmack zulassen; als wäre der jeweilige Wohnort nicht vor allem dadurch bestimmt, wie viel Miete man zu zahlen vermag«. (Jungle World 15/2013)
Der Gentrifizierungskritik wird vorgeworfen, sie affirmiere lediglich bestimmte Lebensstile und ideologisiere subjektive Konsumvorlieben. Wie es sich in einer typisch deutschen Debatte gehört, wird zu jeder politischen Forderung das Bekenntnis verlangt, sie diene keinesfalls einfach nur den eigenen Interessen. Sicherlich ist die Kategorie des individuellen Geschmacks spätestens angesichts der Kulturindustrie und einer steigenden Armut in den Städten fragwürdig geworden. Jedoch ist hier zu beobachten, dass die Negation des politischen Gehalts persönlicher Vorlieben mit einer – wenn auch etwas verstohlen geäußerten – Hoffnung einhergeht, die auf Gemeinschaften oder Kollektive gesetzt wird.
Dem Kommunisten Ott ist der Gegenstand der Auseinandersetzung relativ egal, solange sie ihm nur die vage Hoffnung auf eine kollektive Sponti-Revolte konserviert, die ihr »wirklich revolu­tionär(es) Begehren« gegen die kapitalistischen Verwertungsinteressen auf der Straße durchsetzt. Warum die Mieten in unterschiedlichen Stadtteilen verschieden stark steigen, ist aus einer solchen Perspektive vorerst nicht weiter erklärungsbedürftig.
Fast schon in sympathischer Ehrlichkeit erkennt die Gruppe aus Leipzig an, dass in der linken Szene ein Bedürfnis nach Gemeinschaftsgefühl befriedigt wird. »Die Suche nach Alternativen des sozialen Zusammenhalts, (…) in denen die Vergemeinschaftung nicht auf essentialistischen Kategorien, sondern auf bewussten Entscheidungen beruht, darf nicht grundsätzlich abgetan werden«, schreibt sie in der Jungle World 13/2013.

Selbst die am stärksten in Konventionen befangenen konventionell Menschen, so könnte man mit Adornos Vortrag »Funktionalismus heute« einwenden, hätten »noch ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei’s auch falschen Bedürfnisse. Setzt der Gedanke an das wahre, objektive Bedürfnis sich rücksichtslos über das subjektive hinweg, so schlägt er (…) in brutale Unterdrückung um.« Was aber sowohl die Leipziger Gruppe als auch Ott ignorieren, ist, dass es gerade die von ihnen angesprochenen Tugenden linker Politik sind, die zur Selbstverwertung der Subjekte mehr denn je gebraucht werden. Spontaneität und die Fähigkeit zur stetigen Mobilisierung von selbstgewählten Gemeinschaften sind keine subversiven Praktiken mehr, sondern sozial erwünschte Verkehrsformen gerade in gentrifizierten Stadtteilen. Wenn Psaar mit seiner Kritik also die politische Praxis linker Stadtteilaktivistinnen und -aktivisten grundsätzlich in Frage stellen wollte, so kann dies getrost als gescheitert angesehen werden.
In Sachen Konsumkritik und der Organisation kollektiver Bedürfnisse war die linke Szene stets Avantgarde. In Zeiten, in denen die Stadtplanung die sogenannte kreative Klasse als Zielgruppe innerstädtischer Umstrukturierungsmaßnahmen propagiert, könnte Gentrifizierungskritik also an persönliche Bedürfnisse erinnern, die in einer solchen Sicht ignoriert werden. Das wären aber wahrscheinlich weniger Spontaneität und Gemeinschaft als Privatheit und Ruhe. Das Politische an der Architektur erschöpft sich jedoch nicht in einer Forderung nach Befriedigung der Bedürfnisse im Hier und Jetzt. Menschenwürdige Architektur, so Adorno weiter, »denkt besser von den Menschen, als sie sind; so, wie sie dem Stand ihrer eigenen, in der Technik verkörperten Produktivkräfte nach sein könnten«. Die Architektur als zweckgebundene Kunst ist also stets beides: sowohl autonom als auch »Funktion fürs Subjekt«. Es ist dieser Widerspruch, anhand dessen die immer gleiche innerstädtische Investorenarchitektur, aber auch die »Mein Kohleofen reicht mir«-Mentalität kritisiert werden könnten.

Doch konkrete Kritik an Bauformen ist in der Diskussion sowieso selten. Wo es nur geht, verschließt sich die linke Debatte den kulturellen und ästhetischen Fragen der Gentrifizierung, und nicht umsonst empfiehlt Peter Nowak in der Jungle World 14/2013, sich der Kritik der Verkehrsplanung zu widmen. Schließlich wird in kaum einer anderen Planungsdisziplin noch der Anschein einer objektiven Wissenschaft gewahrt, die mit Hilfe von mathematischen Modellen optimale Lösungen entwickele. Lediglich der relativ abstrakte Wunsch nach »Freiräumen« kommt in der Debatte regelmäßig zur Sprache. Abgesehen davon, dass einzelne Räume sich niemals von den Zwängen des Kapitalismus freimachen können, wäre auch anzuzweifeln, ob es tatsächlich die ungewidmeten, angeblich zweckfreien Räume sind, die die größten Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Wenn es hingegen an autonomen Kulturzentren etwas zu verteidigen gäbe, dann, dass sich in ihren Räumen kulturelle Nischen entwickeln könnten, ohne sich zu abgedichteten Szenen zu verhärten. Vielleicht taugt auch tatsächlich das Bild der architektonischen Nische mehr als das des Freiraums, um zu beschreiben, worum es hier gehen könnte.
Gerade angesichts von Stadtteilaufwertungen wäre auch darauf zu beharren, dass es Räume geben muss, in denen Kunst und Bildung ohne staatliche Subventionierung auskommen können. Nicht zuletzt wären aber auch die Angebote zum persönlichen Vergnügen gegenüber einer dauernd politisch mobilisierten Partyszene zu verteidigen, denn im besten Falle könnten autonome Zentren eher ein Heraustreten aus Gemeinschaften ermöglichen, als neue kollektive Banden zu erschaffen.
Die falsch an der kommunistischen Kritik ­geschulten Stadtteilaktivistinnen und -aktivisten haben es sich schon abgewöhnt, individuelle Rechte für Mieterinnen und Mieter zu fordern. In den vielen Antigentrifizierungs-Manifesten finden sich beispielsweise selten Forderungen nach einer Erhöhung des Wohngelds und der Ausweitung von Zumutbarkeitsgrenzen bei Wohnungen von Hartz-IV-Empfängern, ebenso fehlt häufig eine Kritik an den Vergabebedingungen von Wohnberechtigungsscheinen für Sozialwohnungen. Es ist zu befürchten, dass in Zukunft auch die Forderung nach einer Architektur aufgegeben wird, die die persönlichen Bedürfnisse der sie nutzenden Menschen befriedigt. Übrig bleiben dann nur noch die selbstgewählten Gemeinschaften, die aber mindestens genauso schlimm sind wie die nicht selbstgewählten.