Die Ausstellung »Graben für Germanien« in Bremen

Die Erben der Scherben

Die Ausstellung »Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz« beleuchtet ein düsteres Kapitel deutscher ­Wissenschaftsgeschichte.

In einer Glasvitrine liegt eine römische Landkarte, die Europa vom Limes durchzogen zeigt. Nördlich des Grenzwalls liegt Germanien und darüber schweben wolkige Sprechblasen mit Zitaten von Publius Cornelius Tacitus: »Obwohl das Land ziemlich verschieden aussieht, ist es doch im Allgemeinen schrecklich wegen der Wälder oder grässlich wegen der Sümpfe«. Und weiter: »Trotz der großen Menschenzahl ist die Körperbeschaffenheit bei allen die gleiche: blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene, starke Leiber, die nur für den Angriff taugen.« Der römische Historiker hatte im Jahre 98 nach der christlichen Zeitrechnung eine länderkundliche Schrift über Germanien verfasst – obwohl er nie dort war und die Gegend nur vom Hörensagen kannte. Als Germanen wurden damals all diejenigen jenseits des Rheines bezeichnet, die man nicht hatte unterwerfen können. Der Name sollte gefährliche Gegner bezeichnen und einen Sieg über sie besonders ruhmreich erscheinen lassen. Germanien war im Altertum eine Projektion der Römer.
Natürlich wäre es falsch, die Römer verantwortlich zu machen für den Germanenmythos, der später mit dazu beitragen sollte, die Unterdrückung und Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma sowie Gebietsansprüchen gegenüber den Nachbarländern Deutschlands ideologisch zu begründen.
Bis zum Beginn der Frühen Neuzeit sind die Germanen als angebliche Vorfahren der Deutschen im deutschen Sprachraum nicht bekannt gewesen, so Uta Halle. Die Bremer Landesarchäologin leitet gemeinsam mit dem Historiker Dirk Mahsarski das Projekt »Vorgeschichtsforschung in Bremen unter dem Hakenkreuz« und gab den Anstoß für die Ausstellung »Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz« im Bremer Focke-Museum.
Der Germanenmythos entstand erst zwischen dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit um 1500, als sich das Weltbild, die Wissenschaft, die Technik und der Alltag stark zu wandeln begannen. Im Kloster Hersfeld wurde damals eine aus dem 9. Jahrhundert stammende Abschrift von Tacitus’ »Germania« entdeckt, die zwischen 1473 und 1519, so Halles Schätzung, 6 000 Mal gedruckt wurde, allerdings noch auf Lateinisch und damit nur Gelehrten zugänglich. Dennoch verbreitete sich das Interesse an den Germanen, die in der folgenden Literatur auch bald zu den »Teutschen« wurden.
Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Entstehung eines deutschen Nationalstaats wurden germanische Sagen populär. Die kriegerische Frau Germania mit geflochtenem Eichenlaubkranz über dem wallenden Haar prangte auf Briefmarken, Geldscheinen und Pfeifenköpfen. Apotheker, Lehrer, Pfarrer und andere Heimatforscher suchten mit viel Mühe und Geld nach dem Schlachtfeld, auf dem Arminius alias Hermann die Römer geschlagen hat. Dem Cherusker verpasste man 1875 ein gigantisches Denkmal, auf antisemitischen Postkarten wies der blonde Riese den deutschen Juden den Weg nach Palästina.
In der Bremer Ausstellung wird eine Ausgabe der Tacitus-Schrift von 1602 aus der Bremer Staats- und Universitätsbibliothek präsentiert. Später sollten weitere Drucke auf Deutsch folgen, insbesondere während des Nationalsozialismus.
In dieser Zeit boomte die Vor- und Frühgeschichte nicht nur unter Laienarchäologen, sondern auch an den deutschen Universitäten. Während die Zahl der Lehrstühle an deutschen Hochschulen insgesamt schrumpfte, stieg sie im Bereich der Archäologie der Vor- und Frühgeschichte enorm an. Finanziert wurden die neuen Professuren zum Teil dadurch, dass jüdische und politisch unliebsame Wissenschaftler zuvor entlassen worden waren. Seminare und Vorlesungen rund um das Thema Germanien erfreuten sich großer Beliebtheit. »Die Germanen in der Tschechoslowakei« war im Sommersemester 1937 in Prag zu hören; in Rostock ging es im ersten Trimester 1941 um das Thema »Deutscher Boden als germanischer Volks­boden«.
Ein Großteil der Archäologen trug das Parteibuch der NSDAP und das Mitgliedsheft der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe. Diese war 1935 vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, gegründet worden. Sie sollte den Abstammungsmythos und die Kons­truktion einer »arisch-germanischen Rasse« wissenschaftlich untermauern. Die Monatszeitschrift Germania erhielten alle SS-Mitglieder kostenfrei. Gelder für die Aktivitäten des »SS-Ahnen­erbes« flossen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, SS-Stiftungen und einzelnen Fördermitgliedern wie Ludwig Roselius, dem Gründer der Firma Kaffee Hag.
Schüler, Studenten, Soldaten, Heimat- und Geschichtsvereine beteiligten sich an archäologischen Projekten. Nicht nur im Deutschen Reich wurde – auch wegen des Baus von Autobahnen, Militäranlagen, Flugplätzen und Konzentrationslagern – viel gegraben. In Frankreich, Polen, Norwegen, in der Ukraine und in allen anderen überfallenen Gebieten griffen die deutschen Archäologen ebenfalls zu Spaten und Pinsel. Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge mussten helfen.
Während des Kriegs plünderte das »SS-Ahnenerbe« frühgeschichtliche Kunst- und Kulturgüter in den besetzten Ländern und drängte die einheimischen Wissenschaftler aus dem Amt. Einige erbeutete Fundschätze, etwa die aus dem Museum Kertsch auf der Krim, sind bis heute verschollen. Bereits laufende Ausgrabungen in den besetzten Ländern wurden unter eigene Kontrolle gebracht, zum Beispiel im tschechischen Dolní Věstonice oder an der Prager Burg. Rund 100 Museen in der Sowjetunion, etwa das in Charkow, wurden neu geordnet, mit nationalsozialistischen Interpretationen versehen und für die deutschen Besatzungstruppen ­geöffnet.
Eine große Station der Ausstellung ist diesen Aspekten gewidmet, sie zeigt rings um eine beleuchte Europa-Karte die entsprechenden Anweisungen der Behörden sowie Landkarten und Briefe. Mitunter, so Halle, seien die Archäologen schon direkt an der Front gewesen und hätten in den Gefechtspausen gegraben. Ein Archäologenkommando mit dem SS-Mitglied Herbert Jankuhn rückte 1942 gemeinsam mit den Einsatztruppen in die Städte des Kaukasus ein. Juden wurden ermordet, Museen ausgeraubt.
Wie Jankuhn konnten auch viele andere deutsche Archäologen ihre Karrieren nach 1945 fortsetzen. Er spielte sein Wissen über die Judenverfolgung herunter, wurde von Kollegen entlastet und am Ende von einem deutschen Gericht 1949 in Schutz genommen. Noch im selben Jahr bekam er einen Forschungsauftrag für Haithabu, eine der bekanntesten Ausgrabungsstätten der NS-Zeit. Er arbeitete bis 1973 an der Universität Göttingen und erhielt das Große Niedersächsische Verdienstkreuz.
Die Schau im Bremer Focke-Museum beleuchtet erstmals die düstere Wissenschaftsgeschichte und die Kontinuitäten in der archäologischen Germanenforschung. In fünf Stationen zeigt sie rund 700 Exponate, darunter zahlreiche Fotos und Dokumente, aber auch Gipsfiguren handwerklich begabter Germanenfrauen, Julschmuck mit Runenzeichen, die Repliken des Eberswalder Goldschatzes – und eine Schale mit Mäandermuster aus der SS-Porzellanmanufaktur Allach im KZ-Dachau.
»Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz« entzaubert den Germanenmythos, der bis heute in Populärmedien, Was-ist-Was-Büchern, in der Alltagskultur und nicht zuletzt in der rechten Szene herumgeistert. Selbst der beliebte, aber völlig unhistorische, im 19. Jahrhundert erfundene Hörnerhelm thront in der Werbung gerne noch auf den Köpfen blonder Recken. Und so landete auch eine Knorr-Packung »Wikingersuppe mit Hackbällchen« in der Ausstellungsvitrine. Nach Hallers Urteil schließen diese gut vermarktbaren Germanen-Klischees an politisch problematische Bilder und Überlegenheitsgefühle an.
Die kurzweilige und facettenreiche Ausstellung zeichnet den langen und fortwährenden Herstellungsprozess des Germanen als Urahn der Deutschen nach. Die Germanen wurden nicht nur, aber vor allem im Nationalsozialismus als reine, einheitliche, seit Jahrtausenden bestehende Gruppe halluziniert, die mit einer überlegenen Kultur in einem großgermanischen Reich lebte. Dass es sich bei Nation, Rasse und Weißsein um Konstruktionen handelt, ist zwar ein Allgemeinplatz. Dennoch vollzieht die Ausstellung einen sehr wichtigen und schon lange ausstehenden Schritt, indem sie das Vorgehen und die Interpretationen der deutschen Archäologie aufarbeitet und kritisiert. Sie macht deutlich, wie Scherben und Schädel mit religiösen, ethnischen, nationalen und, spätestens Ende des 19. Jahrhundert, mit rassischen Zuschreibungen versehen wurden und wie sich dabei über viele Jahrhunderte hinweg Wissenschaft, Politik und Alltagsvorstellungen verzahnten.

Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, , bis zum 8. September