Anna Khvyl im Gespräch über die ukrainische Frauenbewegung und Feminismus in Osteuropa

»Es geht darum, nicht nur zu reagieren«

Am 9. April hat die All-Ukrainische Vereinigung Swoboda (Freiheit), die 2012 als erste rechte Partei seit der Staatsgründung ins ukrainische Parlament gewählt worden ist, einen Gesetzentwurf eingebracht, der Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellen soll. Die feministisch-separatistische Initiative Feminist Ofenzyva bereitet nun eine Protestaktion für den 1. Mai vor. Gegründet wurde die Gruppe 2010 von 20 Frauen in Kiew. Die Jungle World sprach mit der 28jährigen Aktivistin Anna Khvyl über die Frauenbewegung in der Ukraine und postsowjetische Protestkultur.

Wie kann Feminist Ofenzyva auf den Gesetzentwurf von Swoboda reagieren?
Momentan diskutieren wir, wie unsere Aktion zur Anhörung aussehen wird. In jedem Fall werden wir auch die Regierung in einem offenen Brief dazu auffordern, in die Verbesserung der Abtreibungspraxis zu investieren. Außerdem verteilen wir Informationsmaterial, das über Abtreibung und Verhütung aufklärt und die schlechte medizinische Versorgung anprangert.
Einen großen Teil der Arbeit von Ofenzyva machen Demonstrationen und Straßenaktionen aus. Außerdem organisieren wir Diskussionen, Seminare und Konferenzen. Einmal im Jahr findet zum Beispiel eine Konferenz statt, zu der wir verschiedene feministische Gruppen aus postsowjetischen Ländern einladen.
Welche Rolle spielt eine solche Konferenz für das feministische Netzwerk in Osteuropa?
Dieses Jahr haben wir uns mit häuslicher Gewalt auseinandergesetzt. Vertreterinnen aus Weißrussland, Russland, Armenien, Georgien, Ungarn und Polen kamen nach Kiew, um sich mit uns über ihre Ansätze und gegenwärtigen Arbeitsfelder auszutauschen. Ich glaube, dass Länder, die eine ähnliche historische Entwicklung durchlaufen haben, im Umgang mit Problemen voneinander lernen und gemeinsame Strategien entwickeln können. In diesem Jahr war die Debatte sehr anregend, weil wir herausarbeiten konnten, mit welchen spezifischen Unterschieden die Gruppen in den einzelnen Ländern umgehen müssen.
Oksana Kis, eine der wenigen Dozentinnen für Gender Studies in der Ukraine, bezeichnet Feminist Ofenzyva als die radikalste feministische Gruppe des Landes. Warum?
Allein sich als Feministin zu bezeichnen, ist in der Ukraine schon ein radikaler Akt. Du bist sofort öffentlichem und privatem Druck ausgesetzt und wirst misstrauisch beobachtet. Die feministische Szene befindet sich hier noch in der Entstehungsphase, sie ist mit ihren 20 Jahren sehr jung. Feministischer Aktivismus entwickelt sich um ei­nige wenige Gruppen, die in Zentren wie Kiew, Lwiw oder Charkiw arbeiten. Daneben gibt es NGOs und Frauengruppen, teilweise mit religiöser Motivation, die beispielsweise gegen Menschenhandel und sexuelle Gewalt vorgehen. Sie fordern die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, allerdings innerhalb der bestehenden Strukturen, ohne zu reflektieren, dass diese auf Diskriminierung und Ausbeutung basieren. Unser Kampf hingegen gilt der Überwindung patriarchaler Macht in ihren vielfältigen Erscheinungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie. Wir arbeiten zudem nach separatistischen Prinzipien, das provoziert. Wir wollen einen Raum abseits patriarchaler Machtstrukturen schaffen, daher besteht die Gruppe ausschließlich aus Frauen und es werden nur Frauen in unsere Entscheidungsprozesse einbezogen. Diese Ansätze teilen in der Ukraine die wenigsten Gruppen.
Wie hat sich die ukrainische Frauenbewegung in den letzten Jahren entwickelt?
Ein großer Fortschritt ist die Bildung eines akademischen Fachbereichs für Gender Studies. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Situation der Frauen, wie sie beispielsweise am Kharkiv Institute for Gender stattfindet, sensibilisiert für eine öffentliche Debatte und eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit, einen Überblick über die Bewegung zu bekommen und sie im historischen Zusammenhang zu untersuchen.
Sich im postsowjetischen Kontext als Feministin zu bezeichnen, was bedeutet das?
Die Leute sind skeptisch. Feminismus wurde jahrzehntelang als westliche, bourgeoise Erscheinung verteufelt – das hat sich tief in die Köpfe eingegraben und haftet dem Begriff noch an. Vor allem Ältere reagieren auf uns mit einem Kopfschütteln: »Oh das kennen wir schon, wir wissen, dass es nicht funktioniert.« Sie assoziieren sofort sowjetische Propaganda mit dem Kampf für Frauenrechte. In der UdSSR wurde das Bild der kämpfenden, arbeitenden Frau idealisiert, die als Produktionskraft auch am politischen Leben teilnehmen sollte. Diese diktierte Emanzipation führte aber zu einer enormen Doppelbelastung der Frauen durch Arbeit und Haushaltspflichten. Die stalinistische Regierung erklärte 1936 die Frauenfrage für gelöst. Damit wurde die Debatte in den privaten Raum verdrängt.
Inwiefern wirkt dieser Prozess bis heute nach?
Es ist nach wie vor schwer, genderspezifische Fragen öffentlich zu diskutieren. Unter »öffentlich« wird immer noch »staatlich« und »erzwungen« verstanden. Es ist nicht verwunderlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung alles Politische als vom Staat gelenkt wahrnimmt. Die Parteien machen kein Geheimnis daraus, dass sie Leute kaufen, die für sie auf die Straße gehen. Uns fragen Journalisten dann: »Wer bezahlt euch eigentlich?« Ärgerlich ist, wenn auf Demonstrationen von Ofenzyva und linken Gruppen Parteiaktivisten auftauchen und die Reporter in ihren Berichten nur die Partei erwähnen. Das Hauptproblem ist das fehlende Bewusstsein der Journalisten für zivile Protestkultur. Wie ungebildet sie sind, zeigte sich zum Beispiel am 1. Mai vorigen Jahres. Einer der großen Fernsehsender verwechselte die Anarchisten, mit denen wir demonstrierten, mit Neonazis. Es hieß, Jugendliche einer feministisch-nationalistischen Organisation seien in den Straßen von Kiew aufmarschiert.
Ist die Polizei auf Ihren Demonstrationen präsent?
Es sind zu wenige Polizisten, meist sind sie überhaupt nicht in der Lage, Übergriffe zu verhindern. Rechtskonservative lauern nur auf eine Möglichkeit, uns zu provozieren. Man spürt, wie aufgeladen die Atmosphäre ist, weil alle wissen, dass es eine gefährliche Situation ist. Richtig brenzlig wird es am Ende einer Demonstration, weil die Polizei sich nicht mehr verantwortlich fühlt und verschwindet. Deswegen versuchen wir, in kleinen Gruppen auseinanderzugehen, um nicht Opfer einer Attacke zu werden. Die Provokateure wissen genau, wen sie angreifen müssen, weil die Szene überschaubar ist. Auch auf größeren Demonstrationen kommen oft nicht mehr als 200 Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Viele haben Angst, auf die Straße zu gehen.
Die Berichterstattung deutscher Medien erweckt den Eindruck, Femen dominiere die ­ukrainische Frauenbewegung. Wie ist das Verhältnis von Feminist Ofenzyva zu der Gruppe?
Es kam nur einmal zu einem Treffen mit Femen. Wir hatten die Gruppe zu einer unserer Konferenzen eingeladen. Eine Vertreterin erschien dann wirklich zur Diskussion, verschwand allerdings nach fünf Minuten wieder, ohne ein Wort zu sagen. Die Beziehung zu Femen ist zwiespältig, weil sie den Kontakt mit uns und anderen feministischen Organisationen im Land meiden.
Ich persönlich halte es für problematisch, dass sie sich zwar hin und wieder selbst als Feministinnen bezeichnen, einen Austausch über ihre Arbeit oder ihre Standpunkte aber blockieren und sich dadurch einer fachlichen Debatte entziehen. In ihren Medienauftritten tragen sie traditionelle Blumenkränze, bemalen sich in den Nationalfarben, verwenden Nationalflaggen, treffen pauschalisierende Aussagen über »die ukrainische Frau« und identifizieren sich über ein heteronormatives Schönheitsideal. Für mich steht das im Widerspruch zu ihren Forderungen: Sie reproduzieren Traditionen, die Ungleichheit legitimieren.
Und wie geht Ofenzyva vor, um solche neokonservativen Werte zu bekämpfen?
Wir müssen daran arbeiten, in unserer Aktionen auch jüngere Generationen einzubeziehen – nur so lassen sich verfestigte Muster aufbrechen. Es ist wichtig, dass wir eine breitere Masse erreichen und so den Diskurs öffnen. Langfristig ist unser Ziel, statt in erster Linie auf aktuelle Ereignisse wie Gesetzentwürfe zu antworten, Strategien zu entwickeln, die uns handlungsfähiger machen. Es geht darum, nicht nur zu reagieren.