Eine literarische Reise in die römischen Vorstädte

Römische Ruinen

Fast zwei Monate nach den Parlamentswahlen steht in Italien die nächste wichtige Wahl an: In Rom muss ein neuer Bürgermeister gewählt werden. Auch in der Hauptstadt könnte die Bewegung Beppe Grillos zur stärksten Partei werden.

»Auf der mittleren Spur der Ringautobahn, meine Tränen glänzen im Licht der Autos, die mich links überholen, um zu beschleunigen, oder rechts, um in ihre Stadtviertel abzufahren. Um meinen Kopf freizubekommen, muss ich um die Stadt kreisen, das stetige Tempo des Nachtverkehrs wirkt für mich wie eine Yoga-Übung.«
Der Grande Raccordo Anulare ist eine knapp siebzig Kilometer lange, sechsspurige Ringautobahn, die in einem Radius von zehn Kilometern um das Zentrum der italienischen Hauptstadt herumführt. Für den namenlosen Protagonisten in Tommaso Giagnis im Frühjahr vergangenen Jahres erschienenen Roman »L’estraneo« (Der Fremde) markiert der Raccordo eine Grenze: Innerhalb des Rings liegt das gutbürgerliche Rom, in dem er zufällig aufgewachsen und doch ein Fremder geblieben ist, jenseits des Rings erstreckt sich die ausufernde römische Peripherie, in der seine Familie ursprünglich gelebt hat.
Einige der Autobahnausfahrten tragen die Namen der antiken Konsularstraßen: Salaria, Prenestina, Casilina. Die Abfahrten führen in die borgate, die frühesten römischen Vorstädte, die in den zwanziger Jahren vom faschistischen Regime entworfen wurden. Doch bevor Mussolinis utopische »neue Städte« fertiggestellt waren, begann der Zweite Weltkrieg und Tausende von ausgebombten römischen Familien flüchteten in die Peripherie. Neben den neuen Sozialwohnungen wurden provisorische Baracken errichtet, so entstand ein wildes Konglomerat aus ausgewiesenen und ungenehmigten Ansiedlungen: Don Bosco, San Basilio, Centocelle. Beim Umkreisen des Rings beschwört der Name jeder Abfahrt die schwarzweißen Filmbilder des neorealistischen Nachkriegskinos. Vor allem Pier Paolo Pasolinis Autorenfilme »Mamma Roma« und »Accattone« aus den frühen sechziger Jahren prägen bis heute die Vorstellung von den römischen Vorstädten. Doch für die zeitgenössische Romanfigur sieht die Realität anders aus: »Um mich herum ist nichts von der Poesie Pasolinis, wie ich sie mir seit meiner Schulzeit ausgedacht hatte, nichts von der Anmut, die ich mir erhoffte.«
Der 28jährige Giagni erweist dem Meister im Zitat seine Referenz, Pasolinis »Ragazzi di vita« ist für ihn Literaturgeschichte. Dass sein Erstlingswerk von der Kritik immerzu mit dem Klassiker verglichen wird, stört ihn nicht. Doch kaum hat er im hinteren Teil der Bar einen ruhigen Tisch ausgemacht, stellt er klar: »Eigentlich erzähle ich eine ganz andere Geschichte.«
Es ist eine Geschichte über die gegenwärtige italienische Gesellschaft, die Lebensbedingungen junger Menschen im römischen Ballungszentrum. Im Mittelpunkt des Romans steht der titelgebende Fremde zwischen den zwei unversöhnlichen Welten, dem postkartenschönen »Rom der Ruinen« und der jenseits des Raccordo sich unaufhaltsam ausdehnenden »neuen urbanen Zentren«. Hinter diesem euphemistischen Namen verbergen sich Ansammlungen gleichförmiger, sechs- bis achtstöckiger Wohnblocks und riesiger Einkaufszentren. Im Vergleich zu diesen Geisterstädten im römischen Hinterland wirken die traditionellen borgate mittlerweile fast anheimelnd. Immerhin sind die alten Vorstädte an das dünne Verkehrsnetz angeschlossen, wer in den neuen Vorstädten wohnt, ist für die Fahrt ins Zentrum auf ein Auto oder einen Roller angewiesen, andernfalls muss er mindestens zwei verschiedene, nur schlecht aufeinander abgestimmte Busse nehmen, die sowieso nur zur Hauptverkehrszeit regelmäßig fahren.

Trotz der räumlichen Isolation der neuen Peripherie betont Giagni im Gespräch, dass ihm der Autobahnring eher zur literarischen Illustration diene: »Die Trennung zwischen Zentrum und Peripherie lässt sich nicht allein geographisch bestimmen, es ist auch eine kulturelle, anthropologische Unterscheidung.« Giagnis »Rom der Ruinen« beschreibt nicht nur den antiken Stadtkern, sondern ebenso die selbstreferentielle, linksliberale politische Klasse der Hauptstadt: »Ihre Fähigkeit, eine soziale, fortschrittliche, auch verantwortungsbewusste Rolle zu übernehmen, ist zu Bruch gegangen.«
In den neunziger Jahren wandten sich die römischen Linksliberalen der politischen Mitte zu, ihr Interesse an den Armen aus den Vorstädten kultivierten sie in cineastischen Retrospektiven. Die realen Verhältnisse in den römischen Vorstädten gerieten weitestgehend aus dem Blick. Deshalb traf die historische Wahlniederlage im April 2008 die hauptstädtische Linke auch völlig unerwartet. Nach jahrzehntelanger Vorherrschaft verlor sie die Kommunalwahlen an den stadtbekannten früheren faschistischen Schläger Gianni Alemanno.
Es ist Sonntagnachmittag. Auf der Fahrt über den Raccordo von den südlichen in die nördlichen Vorstädte lässt sich die rechtsextreme Hegemonie am Straßenbild ablesen. Um diese Tageszeit haben nur wenige Bars geöffnet, vor einem Pizzaladen stehen ein paar verwitterte Plastikstühle. Mauern und heruntergelassene Rollläden sind mit Keltenkreuzen beschmiert, überall hängen Plakate, die eine Veranstaltung im Foro 753 bewerben, einem von Rechtsextremenen organisierten Centro Sociale. Nur einmal erinnert ein Wandbild an den 1980 von Neofaschisten ermordeten linken Aktivisten Valerio Verbano: »Valerio vive!« Andererseits ist an diesem Wochenende die antifaschistische Tradition vieler Vorstädte anlässlich des Jahrestages des SS-Massakers in den Ardeatinischen Höhlen am 24. März 1944 besonders präsent. Wie in der Via del Peperino in Pietralata wurden überall an den Gedenktafeln für die erschossenen Widerstandskämpfer frische Kränze aufgestellt. Doch Giagni warnt davor, sich von dem institutionalisierten, nunmehr von der rechten Stadtverwaltung gepflegten Antifaschismus täuschen zu lassen: »Die Linke hat die Kontrolle in den Vorstädten komplett verloren. Seit die Parteilokale der früheren KP aufgelöst wurden, ist die Parteilinke vor Ort nicht mehr präsent. Die römische Peripherie ist rechts.«
Der Rechtsextremismus kanalisiert sich jedoch nicht in der Wahl extremistischer Parteien. Die stark fragmentierte extreme Rechte erreichte bei den Regionalwahlen im Februar zusammen weniger als zwei Prozent. Der Faschismus der Vorstädte versteht sich weniger als politische denn als kulturelle Bewegung, er beschreibt eine diffuse, radikale Haltung der »einfachen Leute«. »Ihre Unzufriedenheit entlädt sich in Schikanen und pogromartigen Überfällen auf Migranten, vor allem auf Sinti und Roma, aber auch in Krawallen mit der Polizei.« Giagni verweist auf die Mauerkritzeleien, die Luciano »Lupo« Liboni verherrlichen. Der Kunsträuber war im Sommer 2004 nach einer tagelangen Hetzjagd in einem dramatischen Showdown ausgerechnet am Circus Maximus wie ein letzter Gladiator von einem Polizeischuss tödlich verletzt worden.

Bisher profitierten Silvio Berlusconis Parteienbündnisse von der rechten Stimmung in der Peripherie, doch zuletzt erzielte der populistische Movimento 5 Stelle (M5S) die Stimmenmehrheit in den römischen Randbezirken. Beppe Grillo lobte im Wahlkampf die »nachvollziehbaren Ideen« der neofaschistischen Bewegung Casa Pound (vgl. Jungle World 9/13), und die Parlamentssprecherin des M5S, Roberta Lombardi, hob gleich bei ihrem Amtsantritt die »guten Seiten« des Faschismus hervor. Der M5S könnte Ende Mai auch die bevorstehenden Bürgermeisterwahlen für sich entscheiden. In zweitägigen Online-Vorwahlen bestimmten 2 300 M5S-Mitglieder mit insgesamt knapp 500 Stimmen Marcello De Vito zu ihrem Spitzenkandidaten. Seinen Wahlkampfslogan formulierte der 38jährige Rechtsanwalt in romanaccio, dem römischen Alltagsslang: »Annamose a ripijà Roma« – »Lasst uns losziehen, Rom zurückzuerobern«. Die Kampfansage zitiert einen Satz aus Giancarlo De Cataldos »Romanzo Criminale«, einem Romanepos über die römische »Banda della Magliana«. Das Verbrecherkartell aus der gleichnamigen Vorstadt war Mitte der siebziger Jahre mit Drogenhandel und Prostitution aktiv, verdankt seinen kriminellen Aufstieg jedoch vor allem der Zusammenarbeit mit der Mafia, mit neofaschistischen Terrorgruppen und von rechts unterwanderten Geheimdiensten. Nach der Kinoverfilmung von Michele Placido wurde insbesondere die Fernsehbearbeitung des Stoffs in den vergangenen Jahren zur Kultserie für die römischen Neofaschisten. Übersetzungen von De Cataldos Büchern sind als Krimis international erfolgreich, ihre gesellschaftspolitische Dimension wird dagegen meist verkannt. »Mein Roman gilt bei den Literaturagenten als unverkäuflich«, gibt Giagni zu. Die hässliche Fratze der Peripherie passt nicht ins heile Italien-Bild des Pauschalurlaubers. Der junge Autor nimmt es gelassen, er verabschiedet sich vor der Bar am Alberone.
Im kalten Aprilwind wirkt der »große Baum«, nach dem die Bar und das Viertel benannt sind, eher mickrig. Die Atmosphäre in der ehemals gutbürgerlichen Gegend hinter der Lateranbasilika San Giovanni ähnelt trotz ihrer zentralen Lage immer mehr den stadtauswärts an der Via Appia Nuova gelegenen Vierteln. Von touristischen Blicken aus dem Fenster des Flughafenzubringers wird die Gegend allenfalls flüchtig gestreift, seit der Militärflughafen Ciampino zum Drehkreuz für Billigflieger ausgebaut wurde. Bei genauerer Betrachtung wird die allseits beklagte »Krise der Mittelschicht« offensichtlich: Prekäre Arbeitsverhältnisse führen zur Verarmung der nachfolgenden, immer noch gut ausgebildeten Generationen und zur Verbreitung einer rückschrittlichen Familienideologie auch in ehemals progressiven Milieus.
Andererseits organisiert sich in der südöstlichen Peripherie auch Widerstand. Der Journalist Sandro Medici führt seit über zehn Jahren eine linke Mehrheit im X. Bezirk, nun bewirbt er sich mit einem überparteilichen, linksalternativen Bündnis um das Amt des Oberbürgermeisters. »Römische Konversationen« nennt er seine Wahlkampfveranstaltungen. Eines der ersten Gespräche findet im Scup statt, einem besetzen Sport- und Kulturzentrum. Das große Gebäude mit der schönen, villenartigen Eingangshalle liegt hinter der Aurelianischen Mauer im Stadtteil San Giovanni. Es gehörte der staatlichen Sozialversicherungsanstalt INPS, ehe es zu einem Spekulationsobjekt erklärt und deshalb besetzt wurde. Ein Räumungsversuch Ende Januar wurde abgewehrt, binnen weniger Tagen hatte die Stadtteilbevölkerung das Scup wieder eingerichtet. In einem zur Sporthalle umfunktionierten Raum toben Grundschulkinder, ältere Jugendliche drehen ihre Aufwärmrunden im Hof. Sie nutzen die kostenlosen Angebote für Kickboxing und Capoeira, für die politische Diskussion im hinteren Teil des Gebäudes interessieren sie sich nicht. Doch der Raum füllt sich schnell, weitere Stühle müssen herangeschafft werden.

Medicis Wahlkampfprogramm knüpft an die Forderungen der Gemeingutbewegung an. Er will die Privatisierung der Wasserversorgung rückgängig machen, einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr, den Ausbau von Fahrradpisten, die Wiedereröffnung von Stadtteilbibliotheken, die Stärkung der Bürgerschaftsrechte für Migranten. Sein Versprechen, den Bau weiterer Hochhausanlagen zu verhindern und stattdessen die Instandsetzung des Leerstands zu organisieren, nimmt man Medici ab. Er hat in den vergangenen Jahren in seinem Bezirk gegen Räumungsklagen demonstriert und leerstehende, private Gebäude als Sozialwohnraum beschlagnahmt. »Bisher wurde ich noch von keinem Gericht verurteilt«, sagt er. Medici ist entschlossen, die Haus- und Grundstücksbesetzungen weiter zu unterstützten. In seinem Bezirk hat die Bewegung für die Gemeingüter, die commons, aus Protest gegen den Ausbau einer Neubausiedlung einen »Garten der Freiheit und der Teilhabe« angelegt. In den Stadtgärten sollen nach dem Null-Kilometer-Konzept die kommunale Agrarproduktion und der soziale Zusammenhalt gefördert werden. »Das klingt nach Pfarrgemeinde«, flüstert eine Frau neben mir. Als hätte Medici den Einwand gegen das romantische Konzept der Selbstversorgung und reaktionären Vergemeinschaftung gehört, fügt er augenzwinkernd hinzu: »Man kann natürlich auch Cannabis anbauen.«
Es ist nicht einfach, der von der Bewegungslinken aufgestellten Forderung nach einer »Demokratie ohne Parteien« gerecht zu werden. Medici sucht einen Weg jenseits der diskreditierten Linksbündnisse, aber auch gegen Grillos Populismus. »Bisher haben wir den alten Mechanismus der repräsentativen Demokratie nur kritisiert, aber wir haben kein neues politisches Subjekt geschaffen. Die Wahlergebnisse auf nationaler Ebene sind enttäuschend, die Gefahr besteht, dass wir es auch in Rom nicht schaffen. Aber meine Kandidatur ist der Versuch, den vielen lokalen Gruppierungen eine Alternative anzubieten, damit sie endlich aufhören können, die weniger schlechte Koalition zu wählen.« Medici liefert eine überzeugende Selbstkritik der desolaten Situation der Linken. Wie der von ihm gewünschte »Emanzipationsprozess« in Gang gesetzt werden soll, bleibt dagegen vage.
Ein junger Mann, der tatsächlich Giagnis Romanfigur ähnelt, macht in der Diskussion zuerst in schüchternem, dann immer entschlossenerem Ton darauf aufmerksam, dass zwar die Abwahl von Alemannos rechter Stadtverwaltung wahrscheinlich sei, da sich mittlerweile zahlreiche seiner Stadträte wegen Korruption und Amtsmissbrauch vor Gericht verantworten müssten, damit aber noch kein linker Wahlsieg garantiert sei. Anders als in Mailand und Neapel, wo vor zwei Jahren unabhängige Kandidaten von einer breiten, linksliberalen Koalition ins Amt gewählt wurden, kann Medici nicht mit parteiübergreifender Unterstützung rechnen. Mit Ignazio Marino präsentiert die Demokratische Partei ihren eigenen Spitzenkandidaten. Die ohnehin geschwächte Linke präsentiert sich also gespalten. Ruggero, der in Medicis Wahlkampfteam mitarbeitet, gibt zu, dass die Konkurrenz zwischen Medici und Marino dazu führen könnte, dass keiner der beiden linken Kandidaten in die Stichwahl kommt. »Das Risiko müssen wir eingehen, wenn wir versuchen wollen, Sandros in der Peripherie erprobtes, radikales sozialpolitisches Programm ins Zentrum zu tragen.« Dann verteilt er weiter seine Flyer. Für die selbstgekochte Marmelade, durch deren Verkauf die Wahlkampfkasse aufgefüllt werden soll, interessiert sich an diesem Abend niemand. Die Gläschen sind für die Anwesenden zu teuer.