Merkel und der Mindestlohn

Arm im Paradies

Ein Mindestlohn sei mit ihr nicht zu bekommen, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das ist eine innenpolitische und außenpolitische Botschaft.

Nur den zweiten Platz zu belegen, schmerzt. 2009 musste Deutschland den Titel des Exportweltmeisters an China abtreten, 2011 lag Saudi-Arabien vorn. Die deutsche Wirtschaft nur Vizemeister – das ist hart. Und nicht nur diese: Angela Merkel belegt in der vom US-Magazin Forbes kürzlich veröffentlichten Liste der einflussreichsten Menschen der Welt nur den zweiten Rang. In der Begründung heißt es immerhin, Merkel sei die »›Eiserne Lady‹ Europas und Hauptakteurin im Wirtschaftsdrama der Eurozone«.
»Zweiter zu sein, ist kein Zustand, den ich akzeptiere«, tönte nach der vergangenen Saison Uli Hoeneß, der Präsident des FC Bayern München. Und siehe da: In dieser Spielzeit sieht es schon deutlich besser aus. Dank Großinvestitionen und stattlichen Gehältern konnten Schlüsselspieler an den Verein gebunden werden, dieser steht nun kurz davor, sämtliche wichtigen Titel des europäischen Fußballs zu erringen.
Während der Erfolg des Vereins allerdings mit Jahresgehältern bis zu zehn Millionen Euro teuer erkauft ist, müssen in der Bundesrepublik viele Beschäftigte mit fünf oder sechs Euro Stundenlohn über die Runden kommen beziehungs­weise ihren Beitrag zur Exportweltmeisterschaft leisten. Und besser wird es nicht. Einen »Einheitsmindestlohn« lehne sie ab, sagte Merkel jüngst der Bild-Zeitung. Deshalb dürfte sich auch an diesen Zahlen nichts ändern: Knapp acht Mil­lionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, fünf Millionen bekommen einen Stundenlohn unter acht Euro. Dem WSI-Tarifarchiv der Hans-Böckler-Stiftung zufolge erhält ein Konditor in Bayern einen durchschnittlichen Stundenlohn von 5,26 Euro, ein Fleischer in Ost-Berlin 5,51 und ein Friseur in Sachsen-Anhalt 3,05 Euro. Zugleich hat Deutschland europaweit die schwächste Reallohnentwicklung und ist eines der wenigen Länder ohne Mindestlohn in der EU. Die belgische Regierung kündigte jüngst sogar an, Deutschland wegen Sozialdumpings vor der Europäischen Kommission anzuklagen.
Drei Millionen working poor sind in Deutschland von Armut bedroht, obwohl sie einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Doch Merkel weiß: »Ein Arbeitsplatz schützt am ehesten vor Armut.« Die Forderung aus etlichen EU-Staaten, endlich Mindestlöhne einzuführen, beeindruckt Merkel nicht. Stattdessen stimmt sie das Hohelied der beispielhaften deutschen Wirtschaft an: »Viele haben doch genau deshalb eine viel höhere Arbeitslosigkeit als wir, weil Löhne und Leistung bei ihnen zu weit auseinander klaffen.« Kassieren, aber nichts tun – selbst schuld, die Südländer. Unterstützung erhielt sie ausgerechnet von Hoeneß, der in der Sendung von Günther Jauch verlauten ließ, dass Deutschland verglichen mit den Krisenländern ein »Paradies« sei.
Hinsichtlich der Übermacht seines Vereins warnte Hoeneß jüngst vor »spanischen Verhältnissen« in der Bundesliga. Er forderte Maßnahmen, die dem Leistungsgefälle, wie es in der spanischen Primera Division zu beobachten ist, entgegenwirken. Angesichts einer Arbeitslosenquote über 26 Prozent in dem südeuropäischen Land fürchtet Merkel offensichtlich ebenfalls die spanischen Verhältnisse. Nur ist von ihr ebenso wenig wie von Hoeneß zu erwarten, dass sie freiwillig die Vormachtstellung des eigenen Vereins in Europa aufgeben möchte, um die Lage zu verbessern.