Die Lieblingsfilme von Frieda Grafe in Be

Das kurze Pullöverchen der Geschichte

Das Kino Arsenal in Berlin zeigt die 30 Lieblingsfilme der 2002 verstorbenen Kritikerin Frieda Grafe.

Die Filmkritikerin Frieda Grafe (1934–2002) praktizierte eine sehr bildhafte Form des Schreibens. Beim Lesen ihrer Texte, die von Analyse und sensualistischer Erfahrung gleichermaßen geprägt sind, hat man oft das Gefühl, ihr beim Sehen zuzugucken. Sehen und Sprache gehen Hand in Hand, beides wird beständig in Bewegung gehalten. »Für mich ist die Sprache, mein Arbeitsmittel, schon so allgemein und stumm, dass meine ganze Mühe, statt auf noch größere Allgemeinheit, darauf sich richtet, die Mauer der Allgemeinheit so dünn zu machen, dass etwas durchschlagen kann von jenseits der Barriere, von meinem Körper, in den so durch und durch artikulierten Sprachraum«, schrieb Grafe 1976 in der Zeitschrift Filmkritik. Sie wolle »den generativen Grund von Sprache zeigen, ehe sie in kommunizierter Form starr wird«. Auch die Liste mit ihren 30 Lieblingsfilmen, die Grafe rund 20 Jahre später in dem Magazin Steadycam veröffentlicht hat, ist von jener flirrenden Bewegung gekennzeichnet, die ihrem Schreiben eigen ist. Es sind keine in Stein gemeißelten Meisterwerksbekundungen, wie sie einem in den epidemisch verbreiteten Bestenlisten mit ihrem öden Wettbewerbsgeist begegnen, vielmehr ist es ein Spiel mit dem Kanon, mal darauf zugehend, das andere Mal absichtsvoll danebenzielend.
Unter dem Titel »Wie Film Geschichte anders schreibt« zeigt das Berliner Kino Arsenal die Lieblingsfilme der Kritikerin, die in der Zeit und der Süddeutschen Zeitung publizierte. Das Programm ist in drei Reihen mit jeweils zehn Filmen gegliedert, zu sehen im April, Juni und Oktober. Max Annas, Annett Busch und Henriette Gunkel, die die Reihen kuratieren, geht es nicht nur um das (Wieder-)Sehen der Filme und das Herstellen von historischen wie auch motivischen Zusammenhängen, sondern um eine Fortsetzung des Schreibens über Film, um ein eigenes Sehen und eigenes Schreiben. Zu jeder der drei Staffeln erscheint deshalb ein magazinähnliches Heft mit einem Aufsatz zu jedem der Filme. Zudem haben die Autoren und Autorinnen wiederum ihre 30 liebsten Filme aufgelistet. Erschienen ist das Heft im Verlag Brinkmann & Bose, der bereits die zwölfbändige Gesamtausgabe mit Grafes Schriften veröffentlicht hat.
Die meisten Autorinnen und Autoren des Bandes sind mit Grafe oder ihren Arbeiten auf die eine oder andere Weise in Berührung gekommen, durch eine gemeinsame Arbeit, bei Begegnungen auf Filmfestivals und in der Lehre oder durch das Lesen ihrer Texte. Im französisch- und englischsprachigen Bereich sind Grafes Texte nahezu unbekannt, nur wenige liegen übersetzt vor.
Die Beiträge eignen sich als begleitende Lektüre zu den Filmen; lesenswert sind vor allem diejenigen Texte, die sich von der Filmerzählung oder der Rezeptionsgeschichte lösen. So unterschiedlich die Heransgehensweisen auch sind, vom akademisch geschulten Aufsatz bis hin zum autobiographisch inspirierten Schreiben – gemeinsam ist den Texten ihre Perspektive auf gesellschaftliche Zusammenhänge, aufs größere Ganze. Zur Filmkritik gehört eben auch, die Grenzen des Werks zu verlassen und dieses, selbst wenn es sich um eine am Sozialen nicht sonderlich interessierte romantische Komödie handelt, zum Gesellschaftlichen hin zu öffnen. Max Annas etwa hält sich in seinem Text über das deutsche Lustspiel »Ihre Majestät die Liebe« (1931) von Joe May nicht allzu lange mit der eigentlichen Filmerzählung auf, sondern wirft stattdessen einen Blick auf die Besetzungsliste. Kaum einer der Beteiligten hat nach 1933 weiter im deutschen Film gearbeitet, zum Vorschein kommen unterbrochene, abgebrochene oder gewaltsam beendete Biographien in den Zeiten von Stummfilm und Tonfilm, Weimarer Kino, Exil und Shoa.
Dass die Autoren und Autorinnen, abgesehen von einigen Praktikern wie dem Berliner Regisseur Christian Petzold, dem Schauspieler Alex Descas und dem nigerianischen Filmemacher Akin Omotoso, überwiegend aus dem akademischen Bereich kommen, so der Romanist und Psychoanalytiker Marcus Coelen, die Filmwissenschaftlerin Ute Holl, der Literaturwissenschaftler Ackbar Abbas, ist nicht zuletzt ein Statement zur Situation der Filmkritik. Theoretische Reflexion, subjektive Schreibweisen und der Blick auf Filme in ihrer Gesamtheit kommen in den Feuilletons kaum mehr vor, Filmkritik ist der Aktualität unterworfen, gewünscht wird der Gebrauchstext, das Gutachten, die Kaufempfehlung. Filmkritik ist flexible Medienarbeit. Inzwischen spielen sich die interessantesten Auseinandersetzungen vor allem in US-amerikanischen Film-Blogs ab. Der Film- und Literaturkritiker Jonathan Rosenbaum, der Billy Wilders allgemein eher wenig geschätztes Spätwerk »Avanti!« (1972) vorstellt, betreibt ein sehr lesenswertes Blog.
Rosenbaum nennt Grafes Liste, die Arbeiten zwischen 1926 und 1986 umfasst – darunter nur ein Stummfilm (»The Strong Man« von Frank Capra) und lediglich ein Werk einer Regisseurin (Chantal Akermans »News from Home«, 1976) – »exzentrisch«. Exzentrisch daran ist vor allem, dass neben kanonisierten Filmen von Jean-Luc Godard, Carl Theodor Dreyer, Roberto Rosselini oder John Ford nicht nur einige weniger bekannte Arbeiten darunter sind, sondern vor allem auch eher als Nebenwerke geltende Arbeiten bekannter Regisseure, etwa Fritz Langs »House by the River« (1950), Kenji Mizoguchis »Waga Ko! Wa moenu/Die Flammen meiner Liebe« (1949) und Josef von Sternbergs »The Saga of Anathahan« (1953).
»Sie verschiebt mit ihrer Auswahl nicht zuletzt die Betonung von Handlung und Aktion auf frivol Überschüssiges, Gemachtheit und Ausstattung und richtet den Fokus auffallend oft auf berufstätige Akteurinnen, die ihre Ehemänner, Liebhaber oder Kollegen auch gern zu Nebenfiguren geraten lassen«, heißt es im Editorial des Magazins. Der Titel »Wie Film Geschichte anders schreibt« spricht das historische Bewusstsein an, das ihrer Textproduktion immanent ist. Grafe hatte eine geschärfte Wahrnehmung für die Zeichen von Geschichte – in der Mode, der Architektur, in den Gesten, den Körpern. Zu »Riso Amaro« von Guiseppe de Santis (1949), ein mit populären Elementen durchsetzter neorealistischer Film, der sich ebenfalls in ihrer Liste findet, schreibt sie: »Wer die Erotik der Nachkriegszeit studieren möchte, findet hier die reinste Quelle, in den Gesten von Silvana Magnano, in den kurzen Pullöverchen und den lappigen, ärmlichen Baumwollkleidern, ganz zu schweigen von den Unterröcken, dem Markenzeichen italienischer Filme damals.« Von Frieda Grafe lässt sich vieles Lernen, immer noch. Vor allem das: den Blick frei schweifen zu lassen und dabei gleichzeitig präzise zu sein.

Wie Film Geschichte anders schreibt. Arsenal, Berlin. ­Termine unter