Streit um die tunesische Femen-Aktivistin Amina Tyler

Fragen der Ehre

Über die Solidaritätsaktionen für die nach einem Nacktprotest verfolgte Tunesierin Amina Tyler wird in der feministischen Bewegung gestritten.

Die Boulevardpresse ist sich einig. Die tunesische Femen-Aktivistin Amina Tyler musste Schreckliches erleben, weil sie Nacktfotos von sich ins Internet stellte. »Flucht aus dem Familienknast« titelte der Berliner Kurier. Distanzierter zeigte sich die linksliberale Presse. »Gut gemeint«, aber nicht gut, urteilen unisono Nadia Pantel in der Süddeutschen Zeitung und Kübra Gümüsay in der Taz über den Topless-Jihad-Day. Gümüsay meint, Femen agiere rassistisch und islamophob, Pantel schreibt von Bevormundung und Ignoranz.
Feministische Blogs aus aller Welt bezeichnen die jüngste Femen-Aktion als postkolonialistisch und kritisieren, dass es wichtigere Anliegen von Frauen in muslimischen Ländern gebe. Aber es gab auch Solidarität. Die tunesische Filmemacherin Nadia al-Fani stellte ein Foto von sich mit offener Bluse und erhobenem Arm, auf dem »Für Amina« steht, ins Netz. Die Menschenrechtsaktivistin Maryam Namazie organisiert die Vernetzung von Solidaritätsadressen. Eine Petition an die tunesische Regierung verlangt die Sicherheit von Amina.

Die Geschichte Amina Tylers spaltet in Tunesien genauso wie hier Feministinnen und Linke – und das zu Recht. Denn es ist eine komplizierte Geschichte. Die 19jährige Amina Tyler ist nach eigener Aussage die Gründerin der tunesischen Femen-Sektion. Am 11. März stellte sie ein Nacktfoto von sich auf ihre Facebook-Seite. Auf ihrer Brust steht in Arabisch: »Mein Körper gehört mir und ist nicht die Quelle von irgendjemandes Ehre.«
Auf ihrer »Femen – Tunisian Fanpage« erfuhr Tyler viel Zustimmung. Der Privatsender Ettounsiya lud sie am 16. März in eine Talkshow ein. Vier Tage später wurde der salafistische Prediger Adel Almi, der gute Verbindungen zum Religionsministerium hat, in dieselbe Talkshow eingeladen. Almi forderte 100 Peitschenhiebe für Amina, angesichts der Provokation sei sogar eine Steinigung angemessen.
Amina tauchte ab. In Tunesien gibt es keine Körperstrafen. Wegen »sittenwidrigen« Verhaltens drohten ihr aber zwei Jahre Gefängnis, wenn nachgewiesen werden könnte, dass sie die »Tat« in Tunesien begangen hat. Doch die Todesgefahr, die ihr von Salafisten nach dieser Quasi-Fatwa droht, ist real. Zwischenzeitlich hieß es, Amina sei verhaftet und in die Psychiatrie gebracht worden. Die ukrainische Organisation Femen rief für den 4. April zu einem Topless-Jihad-Day auf. Weltweit protestierten nackte Frauen vor Moscheen für Aminas Freilassung und gegen Salafisten.
Am 6. April gab Amina Tyler dem französischen Fernsehsender Canal+ ein Interview. Ruhig erläuterte sie, warum sie weiterhin zu Femen stehe »bis ich 80 bin«, kritisierte aber das Verbrennen einer Fahne mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis bei einem Femen-Protest in Paris. Am 17. März veröffentlichte Femen ein Interview der ukrainischen Femen-Chefin Inna Shevchenko mit Amina. Darin berichtete Amina, wie sie von Cousin und Onkel aus einem Café gezerrt wurde. Sie schlugen sie, ihre Eltern schleppten sie zum Therapeuten und zu Geistlichen, ließen sie aus dem Koran lesen und brachten sie in ein Dorf, wo ihre Großmutter ihre Jungfräulichkeit prüfte. Dort erhielt sie Beruhigungsmittel, bis sie weglaufen konnte. Soweit hört sich der Fall nach finsteren Methoden aus dem muslimischen Hinterland an. Femen spricht von Folter.
Allerdings berichtete Amina auch, wie sie Cousin und Onkel mit Tränengas angriff und dass ihr Vater den Cousin anschrie, er solle seine Tochter nicht so behandeln. Ihre Mutter behauptet, Amina sei seit Jahren in psychiatrischer Behandlung. Das mag stimmen oder auch nicht. Doch erscheint die Aufregung, mit der gerade konservative Medien den Fall aufgriffen, überzogen. Bis vor kurzem waren 19jährige in Tunesien nicht volljährig. Man kann sich vorstellen, dass einer Minderjäh­rigen in der konservativ-christlichen Provinz der USA Ähnliches widerfahren wäre – womöglich sogar in der deutschen. Darüber hätte wohl höchstens die lokale Presse berichtet.
Trotzdem trifft die Kritik, es handele sich um Islamophobie, nicht. Die Annahme, dass einem Mädchen in der muslimischen Welt weit schlimmeres widerfahren kann als hierzulande, wenn sie nackt protestiert, ist zweifellos richtig. Genauso wenig stimmt die Behauptung, der Nacktprotest sei aus dem Westen importiert. Aminas Protest gegen die Vereinnahmung ihres Körpers durch die Gesellschaft im Namen der Ehre ist ein ureigenes Anliegen von arabischen Feministinnen. Das Nacktfoto erscheint dafür als sinnvolles Mittel. Schon die Ägypterin Alia Madgy hat es 2011 effektiv eingesetzt – und damals ganz ohne das Zutun von Femen.

Eher lahm ist die Kritik von Yosr Didri auf der tunesischen Aktivisten-Website Nawaat, andere feministische Anliegen seien wichtiger, das Thema interessiere nur eine bourgeoise Mittelschicht. Tatsächlich betreffen Fragen der »Ehre« alle mus­limischen Frauen, je weniger »bourgeois«, umso stärker. Dass der Nacktprotest für Frauen ärmerer Schichten nicht in Frage kommt, weil sie nicht danach ins europäische Exil fliehen können, heißt nicht, dass ihnen das Recht auf ihren Körper kein Anliegen wäre.
Allerdings werfen Äußerungen Shevchenkos Fragen zu Femens Motivation auf. Nach dem »Oben Ohne Jihad-Tag« sahen sich die selbsternannten Sextremistinnen mit einer »Muslima-Pride-Bewegung« bei Facebook und Twitter konfrontiert. Die Musliminnen erklärten, sie müssten nicht von Femen befreit werden und bestanden auf Wahlfreiheit beim Kopftuch. Es wäre naheliegend gewesen, die Freiheit zu bejahen – zum Kopftuch wie zur Nacktheit. Doch Shevchenko beschied den Musliminnen: »In der gesamten Menschheitsgeschichte leugnen Sklaven, dass sie Sklaven sind (…). Sie schreiben auf ihren Postern, dass sie nicht befreit werden müssen, aber in ihren Augen steht ›Helft mir‹ geschrieben.«
»Muslima Pride« versteht sich explizit als »kollektive Stimme« einer konservativen »Identität«, die vom »westlichen Imperialismus« bedroht sei. Doch Musliminnen, die für ihre Rechte kämpfen, nur anders, erregen sich zu Recht, dass Shevchenko ihnen eine eigene Meinung abspricht. Diese Art von Bevormundung übt Femen nicht nur gegen Musliminnen. Die Sexarbeiterinnen in Hamburg erfuhren bei einem Femen-Protest, dass ihre Arbeit einem Holocaust gleiche. In Frankreich schlugen Femen-Aktivistinnen eine Porno-Darstellerin nieder.

Wer die Aussagen der Sextremistinnen verfolgt, stellt nicht nur eine mangelnde theoretische Tiefe fest. Es scheint kaum Diskussionen innerhalb der Gruppe zu geben, Inna Shevchenko gibt die Linie vor. Nur die brasilianische Sektion hat sich wegen eigener Führungsambitionen der dortigen Chefin selbstständig gemacht. Eine Abtrünnige berichtete, dass die brasilianische Femen-Chefin Sara Winter jede Diskussion abwürge und ihr gesagt habe, sie bewundere Hitler »als Person«. Fotos der ukrainischen Femen nutzen eine auffallend faschistische Ästhetik: Blonde schlanke Frauen mit Blumenkranz im langen Haar recken den Arm. Andere Femen-Kritikerinnen weisen auf die Werbeeinnahmen hin, die die Gruppe beispielsweise von einer Unterwäsche-Firma erhält. Zumindest die hierarchische Führungsstruktur von Femen scheint wenig feministisch.
Auch das Interview, das Shevchenko mit Amina führte, wirkt nicht wie ein Gespräch unter Gleichen. Es fehlt nicht nur eine Frage nach Aminas Befinden. Shevchenko diskutiert nicht, ob Amina nicht doch Tunesien zu ihrer eigenen Sicherheit verlassen sollte, wie es deren Anwältin will. Auf Aminas Ankündigung, zuerst einen Nacktprotest in Tunesien durchzuführen, antwortet sie kühl: »Lass uns weiterkämpfen. Wir sind stolz auf dich.« So legitim Aminas Anliegen ist, sie ist dabei an die falschen Leute geraten.