Gentrifizierungskritik und Neubaupolitik

Hochhäuser für alle!

Die Kritik der Gentrifizierung richtet sich allzu oft gegen jede städtebauliche Ver­änderung und gegen Neubaumaßnahmen an sich. Doch nicht der Neubau ist das Problem.

»Was ist denn schon dabei, wenn wir versuchen, im Stadtviertel die Quote der Empfänger von Transferleistungen von 48 auf 42 Prozent zu senken?« tönte beim zweiten Glas Wein ein Berliner SPD-Bezirkspolitiker vor etwa zehn Jahren. Damals wollte er mit ein bisschen urbaner Aufwertung den – von vielen prognostizierten – Gürtel von Armutsvierteln rund um die Berliner Innenstadt verhindern. Heute steht er genauso ohnmächtig wie viele andere vor den Ergebnissen der in Berlin weitgehend von den Sozialdemokraten zu verantwortenden Wohnungspolitik. Denn seine Wähler sind es, die wegziehen müssen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Doch ähnliche Gedanken hört man auch von Mitgliedern der Partei »Die Linke« oder der Grünen. Da hilft es wenig, dass einzelne Bezirksverbände – zum Beispiel die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg – versuchen, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen. Und dass CDU und FDP so denken wie der zitierte SPD-Bezirkspolitiker, ist ja allgemein bekannt.

Der damals sicher leichtfertig dahergesagte Satz zeigt exemplarisch, was jenseits schöner Wahlkampfreden in den internen Zirkeln der Macht tatsächlich gedacht wird. Nur so ist zu verstehen, warum die Politiker in ihrer übergroßen Mehrheit der Mietpreisexplosion seit zehn Jahren so untätig zuschauen und die Dinge einfach laufen lassen. Was hier geschieht, ist vergleichbar mit dem, was derzeit angesichts der Finanzkrise in Europa anhand der Mittelmeerländer durchgespielt wird: Die »Schwachen« und »Unproduktiven« werden aus dem Spiel geworfen und sollen sehen, wo sie bleiben. Der Angriff richtet sich gegen die gesamte sogenannte Unterklasse, auch die mit Deutsch als Muttersprache, doch bei den Migranten wird er am sichtbarsten. Wer zum Beispiel aus der Türkei stammend den sozialen Aufstieg in der Bundesrepublik nicht geschafft hat, wird faktisch in die Türkei zurückgedrängt. Nebenbei spart dies der bundesdeutschen Gesellschaft sogar noch eine Menge Sozialkosten.
Deshalb wirken aber auch manche Diskussionsbeiträge in dieser Debattenreihe der Jungle World ein wenig so, als würden sie die wirklichen Probleme verfehlen, und bleiben einem Mittelschichts- und akademischen Diskurs verhaftet, der sich auf Fragen der Kultur und Ideologie konzentriert. Für viele Menschen, zum Beispiel in den Hochhäusern am Kottbusser Tor, stellt sich die Frage gar nicht, was eigentlich Gentrifizierung genau ist oder ob nun am Tempelhofer Feld gebaut wird oder nicht. Für sie geht es um ganz existentielle Fragen etwa der Miethöhe: »Nicht mehr als vier Euro pro Quadratmeter«, ist ihre profane Forderung, und dass das Jobcenter zumindest im sozialen Wohnungsbau die Mieten in ihrer tatsächlichen Höhe übernimmt. Aus dem linken Milieu kommt dabei wenig an konkreten wohnungspolitischen Vorschlägen, wie mit ganz klaren Miet­obergrenzen und Mietergesetzen ein Recht auf Wohnraum für alle in der Innenstadt realisiert werden könne. Eigentlich klassische Bereiche linker Politik. Warum ist eine Rekommunalisierung der Strom- und Wasserversorgung inzwischen als Forderung weit verbreitet, während sich an die Forderung nach Wohnungen für alle kaum jemand herantraut? Nur wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, zum Beispiel bei Zwangsräumungen, wird man aktiv. Alles gut und richtig, doch dies löst strukturell überhaupt nichts.

Weil sie vor allem von moralischer Empörung getragen ist, wirkt die ganze politische Diskussion oft sehr kläglich. Implizit schwingt zu oft der Wunsch mit, alles möge doch bitte einfach so bleiben, wie es ist. So wird die Mentalität mancher Dörfer in den Städten reproduziert. Was ist denn grundsätzlich schlimm daran, wenn sich etwas ändert, wenn zum Beispiel an der Spree oder am Südrand des Tempelhofer Feldes Hochhäuser gebaut werden? Die Frage kann doch nur lauten: Wer baut da mit welchen Interessen für wen? Und zu welchem späteren Mietpreis? Werden da kinderreiche Familien mit Migrationshintergrund einziehen können oder nur in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Kreative, die sich ein Loft als Eigentumswohnung leisten können?
Ohne Not wird jede gesellschaftliche Dynamik der Gegenseite überlassen. Als wären Veränderung und Dynamik an und für sich schlecht. Dabei macht es doch das Leben gerade spannend, wenn Neues hinzukommt. Dies betrifft einerseits den Einbau von Bädern, Heizungen und fließend Warmwasser in Kreuzberger Hinterhofwohnungen. Die Frage lautet auch hier: Wer zahlt dafür und wer verdient daran? Und dies schließt andererseits auch ein, dass die eigene Alltagskultur das Zeitliche segnen kann. Es wird sich Neues finden. Eine Kreuzberger oder Friedrichshainer Hausbesetzerkultur lässt sich nicht verewigen, sie ist wie alle Kulturen und Subkulturen einer ständigen Entwicklung und Veränderung ausgesetzt. Gerade am Kottbusser Tor ist ein entscheidender Faktor dafür, dass sich dort der Widerstand in den Hochhäusern des sozialen Wohnungsbaus so deutlich artikuliert, dass in den vergangenen Jahren aus dem linksalternativen Milieu stammende Wohngemeinschaften zugezogen sind. Erst diese Mischung – mit all ihren Konflikten – führte zur Gründung der Initiative »Kotti & Co«. Weder die auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesenen langjährigen Bewohnerinnen und Bewohner noch die neuen Mittelschichtkreativen hätten für sich alleine diesen Widerstand entwickeln können.
Auch am Beispiel der Tourismuskritik lässt sich dies illustrieren: Wir selbst, die durchschnittlichen Leserinnen und Leser der Jungle World, haben unsere eigenen Selbstfindungsprozesse meist als Touristen irgendwo in den Ländern des Südens durchlebt. Und dort sicher manchen Einheimischen genervt. Waren selbst mit leuchtenden Augen in Barcelona oder sonstwo zu Besuch. Mit welchem Recht will man nun den spanischen Jugendlichen verwehren, ihrerseits diese Selbstfindung am Heinrichplatz und in der Wrangelstraße in Berlin zu erleben? Wenn sich die aufgestaute Wut über die Vermietung der Hälfte der Wohnungen im Haus als Ferienwohnungen gegen »die Touristen« richtet, bekommt sie einen fremdenfeindlichen Unterton. Einen anderen möglichen Umgang zeigt die Mieterinitiative »Kotti & Co«, die explizit »Touristen und Besserverdienende« zu ihren Lärmdemos einlädt: »Let’s fight together for a good life for everyone.«

Da derzeit in der Bundesrepublik insgesamt rund vier Millionen Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen fehlen, wird die Forderung nach einem neuen sozialen Wohnungsbau in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle spielen. Und warum nicht Hochhäuser bauen, wenn das Bauland knapp ist und alle in den Städten und am liebsten in denselben Stadtvierteln leben wollen? Raus aus den Mietskasernen der Hinterhöfe, Licht, Luft und Sonne für alle! Waren das nicht mal Forderungen der Linken? Nicht der Neubau an sich ist das Problem, sondern die architektonische Einfallslosigkeit vieler Entwürfe und die Höhe der Mieten.
Gleichzeitig heißt es auch, sich den Fehlern der Vergangenheit zu stellen. Deutschland hatte einmal einen ziemlich umfangreichen sozialen Wohnungsbau. Gescheitert ist er auch an den kapitalistischen Verhältnissen, aber wirklich kaputt gemacht wurde er in der Wahrnehmung eines Großteils der Bevölkerung von Gewerkschaftskonzernen wie der »Neuen Heimat«. Und nur zur Erinnerung: Einer der Hauptgegner der Hausbesetzerbewegung 1980/81 in Westberlin waren nicht private Investoren, sondern die städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Deshalb stellt sich heute die Frage, welche demokratischen Formen der Selbst- und Mitverwaltung durch die Bewohner neu aufgebaut werden sollten. Und welche Kontrollen der Geschäftsführungen? Ein entscheidender Schritt wäre die Wiedereinführung der Ende der achtziger Jahre abgeschafften Gemeinnützigkeit für städtische Wohnungsbaugesellschaften und Baugenossenschaften, denn dies würde für sie wieder ganz andere ökonomische Möglichkeiten jenseits der reinen kapitalistischen Verwertungslogik ermöglichen.
Wege dahin hat im Herbst die Konferenz »Nichts läuft hier richtig« aufgezeigt, die unter anderem von den Kampagnen »Kotti & Co« und »Sozialmieter.de« ausgerichtet wurde. Der entscheidende Punkt ist, all diese Fragen nicht der politischen Klasse zu überlassen, sondern sich mit ins Handgemenge zu begeben. Wie der Konflikt ausgeht, ist offen. Aber es geht um ein schönes und bequemes Leben für alle.