Homegrown Jihad

Nicht die Sorge um Tschetschenien motivierte die mutmaßlichen Attentäter von Boston.

Keiner der beiden jungen Männer trug einen Vollbart, Dzhokhar Tsarnaev soll Alkohol getrunken, sein älterer Bruder Tamerlan unverheiratet mit einer Frau zusammengelebt haben. Dem Klischeebild des Gotteskriegers entsprechen die mutmaßlichen Attentäter von Boston nicht.
Dass der Jihadismus kein Resultat überbordender Frömmigkeit ist, stellte der Psychiater Marc Sageman jedoch bereits 2004 fest. Kaum mehr als jeder zehnte der über 400 von ihm untersuchten islamistischen Terroristen hatte eine Koranschule besucht, drei Viertel waren Akademiker, die naturwissenschaftliche und technische Fächer bevorzugten und sich meist im westlichen Ausland politisierten. »Sie wurden erst religiös, als sie sich dem Jihad angeschlossen hatten«, resümiert Sageman. Der Jihadismus in westlichen Ländern sei »nicht das Resultat des Exports der Konflikte im Nahen Osten«, sondern »ein pathologisches Ergebnis der Verwestlichung des Islam«, urteilt der Islamwissenschaftler Olivier Roy.
Die Tsarnaev-Brüder stammen aus Tschetschenien, und Tamerlan besuchte im vorigen Jahr das benachbarte Dagestan. Doch eine persönliche Verbindung zu dortigen jihadistischen Gruppen wurde bislang nicht entdeckt. Wahrscheinlich wurden die Attentäter von der Propaganda des globalen Jihad motiviert, ohne organisatorisch in ein Netzwerk eingebunden zu sein.
Präsident Barack Obama stellte zumindest die richtige Frage: »Warum haben junge Männer, die als Teil unserer Communities hier aufwuchsen und studierten, zu solcher Gewalt gegriffen?« Zwar wird nun auch in den USA über Migrationsbeschränkungen diskutiert, doch nicht nur den liberals, sondern ebenso den Behörden gilt der Jihad nicht als »Ausländerproblem«. Islamistische Attentäter werden den homegrown terrorists zugerechnet, wenn sie in den USA gelebt haben.
Aber auch eine weniger ausgrenzende Migrationspolitik kann nicht jeden integrieren. Die Tsarnaev-Brüder hätten gleichfalls mit Sufi-Mystikern tanzen oder mit den pietistischen Fundamentalisten der Tabligh-Bewegung beten können. Doch Jihadisten wie die Tsarnaev-Brüder suchen offenbar eher eine ideologische Rechtfertigung, um ihre Gewaltphantasien ausleben zu können. Darin ähneln sie homegrown terrorists aus dem Milieu »patriotischer« Milizen. Anhänger beider rechtsextremer Strömungen frönen einem militaristischen Männlichkeitswahn, einem Körper- und Waffenkult. Sie halten sich dem Rest der Menschheit für überlegen und wollen andere Menschen bestrafen. Die Vorstellung, man werde von der Gesellschaft nicht ausreichend gewürdigt und müsse deshalb »etwas Großes« tun und eine Spur hinterlassen, scheint eine wichtige Rolle zu spielen.
Da die meisten »patriotischen« Milizionäre sich damit zufrieden geben, schwer bewaffnet im Wald herumzutollen, während Islamisten von internationalen Netzwerken motiviert, gesteuert und unterstützt werden, ist der Jihadismus derzeit die gefährlichere Bedrohung. Rechtzeitig aufspüren lassen sich die Jihadisten nur schwer. Erste Indizien, etwa die Hinwendung zu konservativen Werten, eine Vorliebe für Fitnessstudios und der Wunsch, Ingenieur zu werden, dürften die meisten Eltern eher erfreuen. Die Entscheidung für den Jihad kann dann offensichtlich in sehr kurzer Zeit fallen.