Erzählen ihre persönlichen Geschichten des Scheiterns

Meine schönste Niederlage

Wir alle sind Loser und manchmal sehen wir auch so aus. Autorinnen und Autoren erzählen die Geschichten ihres Scheiterns.

Alles relativ
von Markus Ströhlein
In der achten Klasse ging das Tor zu einer neuen Welt auf, zur großen Welt der Physik. Rückblickend kann ich sagen: Es war nicht meine Welt und ich hätte es mir sparen können, diese Schwelle zu überschreiten, denn ich habe alles, wirklich alles vergessen. Ohm – das ist doch dieser Laut, den Buddhisten beim Meditieren immer brummeln, oder? In der achten Klasse kam ich an Volt, Ohm, Ampere und dem anderen Kram jedenfalls nicht vorbei. Nach einer kurzen Phase des Mittelmaßes pendelten sich meine Noten in Physik zwischen vier und fünf ein, meine Leistungen waren sehr konstant. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine Vier beziehungsweise eine Fünf wie die andere gewesen wäre. Nein, zumindest eine Fünf ist mir im Gedächtnis geblieben. Wie jedes Mal anlässlich der Herausgabe einer Klausur kritzelte der Physiklehrer Lösungswege an die Tafel, nur unterbrochen von Schimpftiraden, in denen er das mangelnde physikalische Verständnis seiner Schüler monierte. Aufgabe um Aufgabe wurde mir klarer, dass ich auch dieses Mal mein Leistungsniveau halten würde. Gegen Ende der Klausurbesprechung wurde der Lehrer auf einmal sehr still, aber nur um den bislang lautesten und am heftigsten von Fassungslosigkeit gekennzeichneten Klassenanpfiff zu halten. »Wie oft haben wir das zusammen gemacht, wie oft? Ich habe euch noch gesagt, das kommt dran, aber man braucht ja nicht zu hören anscheinend. Das ist wirklich unglaublich, unglaublich.« Gesenkte Blicke in der Klasse. »Diese Aufgabe hat wirklich keiner zustande gebracht. Keiner – außer Markus.« Ich hob meinen Kopf. »Aber das ist auch das Einzige, das er richtig hat.« Ich senkte meinen Kopf wieder. Kurz darauf wurde mir meine Klausur ausgehändigt, ich guckte mir die Aufgabe an, die nur ich gelöst hatte, und die Fünf auf der Klausur. Meine beste Fünf aller Zeiten. Fünf doppelplus mit Stern mindestens.

Verlieren mit Kindern
von Bianca Ravel
Eltern werden ist der schnellste und sicherste Weg zum Scheitern. Jedes Mal, wenn der Dreijährige sich weigert, sein Brokkoli aufzuessen und stattdessen nach dem zweiten Fruchtzwerg schreit, fühlt man sich wie ein Totalversager. Wer daran scheitert, die Freude an in diesen Breitengraden gereiftem und daher bestenfalls nach nichts schmeckendem Gemüse zu vermitteln, verurteilt den Nachwuchs zu einem Junk-Food-Leben. Ebenso ist man von unerträglichen Schuldgefühlen geplagt, wenn die Siebenjährige einem das iPhone aus der Tasche klaut, um mit der neuen Version von Angry Birds Star Wars zu spielen. Sofort tun sich Szenarien einer verlorenen Jugend auf, die zwischen brutalen Computerspielen, Sex-Chats, fragwürdigen Facebook-Freundschaften und, natürlich, Junk-Food verbracht wird. Dass so keine Gewinner produziert werden, daran werden Eltern ständig erinnert, und der Druck nimmt zu. Aber scheitern wird man so oder so. Wenn aus dem Kind ein fehlerfrei funktionierendes Produkt werden soll, muss man mit einer Konsequenz vorgehen, die früher oder später in Form von blankem Hass zurückbezahlt werden wird. Wer es dagegen mit der Siegermentalität etwas lockerer nimmt, wird irgendwann mit dem moralischen Vorwurf konfrontiert, nicht genug Fernsehverbote verhängt zu haben.
Selbst, wer sich in der Kindererziehung dem neoliberalen Druck von Erfolg, Leistung und Gewinnmaximierung verweigert, fühlt sich als gescheitert, wenn er feststellen muss, dass den eigenen Kindern herzlich egal ist, ob sie gewinnen oder verlieren, wenn es darauf ankommt. Als mein achtjähriger Sohn vor einem Vorlesewettbewerb verkündete: »Ich freue mich, wenn ich Zweiter werde«, erschrak ich selbst, als ich mich in strengem Ton sagen hörte: »Warum Zweiter?« Auch seine Erklärung, er wolle keine zu hohen Erwartungen an sich selbst stellen, um nicht enttäuscht zu werden, hielt mich nicht davon ab, nachzulegen: »Fühlst du dich denn nicht vorbereitet genug, mein Schatz? Komm, dann üben wir noch ein bisschen, ja?« »Ne, lass mal. Gleich kommt Phineas und Pherb auf RTL II. Übrigens, von der Serie gibt es jetzt ein Spiel für die Playstation, darf ich das downloaden?« »Nur, wenn du den Lesewettbewerb gewinnst«, hätte eine Mutter des Typs Gewinner geantwortet. Mir dagegen fiel das erst ein paar Minuten später ein, nachdem ich schon »Ja, ist okay« gesagt hatte. Die Selbstzweifel, die mich den ganzen Abend begleiteten, waren jedoch unbegründet: Den Wettbewerb hat er gewonnen.

Hausverwaltung – Bokowski 1 : 0
von Paul Bokowski
Ich bin kein sonderlich kämpferisches Naturell, was entweder meiner pazifistischen Grundeinstellung oder einer klinisch noch nicht diagnostizierten Schilddrüsenunterfunktion geschuldet sein mag. Die nicht zu leugnende Neigung zu einem doch eher stoischen Gemüt hat sich bereits in frühester Kindheit manifestiert und dabei besonders meinem fußballbegeisterten Vater großen Kummer bereitet. Alle Versuche, einen irgendwie gearteten sportlichen Ehrgeiz in mir zu wecken, endeten damit, dass der Jugendtrainer des SV 1919 Gonsenheim mich bis heute für einen Autisten hält.
Die einzigen Schlachten, denen ich mich knapp 20 Jahre später, mit so etwas Ähnlichem wie Leidenschaft hingebe, werden zwischen mir und meiner Hausverwaltung ausgetragen. Bei einem meiner letzten Kämpfe ging es um den neuen Sisalteppich in unserem Hausflur. Ich war gestürzt, weil er sich, wenige Wochen nach Abschluss der Sanierungsarbeiten, an verschiedenen Stellen gelöst hatte. Ergo beschloss ich meiner bürokratischen Leidenschaft zu frönen und einen Brief an meine Hausverwaltung zu schreiben:
Sehr geehrter Herr Künerich, hiermit informiere ich Sie darüber, dass sich der rote Sisalteppich in unserem Hausflur an verschiedenen Stellen gelöst hat. Ferner möchte ich sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir eine gehbehinderte Person hohen Alters in unserem Hause haben. Der gelöste Teppich stellt somit eine besondere Gefahrensituation dar. Ich bitte Sie daher darum, diese Mängel alsbald zu beseitigen. Mit freundlichen Grüßen, Paul Bokowski
Wenige Tage später wurde mir postwendend verdeutlicht, weshalb ich diesen Kampf verloren geben musste:
Sehr geehrter Herr Bokowski, wir haben die von Ihnen beschriebenen Mängel zur Kenntnis genommen. Sollte es sich bei der von Ihnen erwähnten »gehbehinderten Person hohen Alters« allerdings um Margot Sackmann aus dem vierten Stock handeln, so sind wir gerne bereit einen etwaigen Personenschaden wissentlich in Kauf zu nehmen. Mit freundlichen Grüßen, Harry Künerich«

Scheitern erarbeitet
von Sarah Schmidt
Mit 17 wollte ich unbedingt Arbeiterin werden. Ich sah mich, wie auf kommunistischen Bildern, mit einem Kopftuch, roten Wangen und einer wehenden Fahne die Massen agitieren und trotzdem viel Geld verdienen. Also bewarb ich mich bei den üblichen Stellen – und wurde abgelehnt. Sogar von der Berliner Pizzafabrik, die alle nahm, die zwei Arme besaßen. Vielleicht war schon in meiner Bewerbung etwas zu sehen, das auf grundsätzliche Bockigkeit schließen ließ. Letztlich landete ich in der Brillengestellproduktion.
Meine Aufgabe: Brillengestelle in eine Halterung legen, diese schließen, mit einer Sprühpistole das Gestell farbig sprühen, Halterung lösen, Brille zum Trocknen beiseite legen. Der Vorarbeiter, ein freundlicher Kittelmann, führte mir den Ablauf mehrfach vor. »So, dann sind Sie jetzt dran.« Ich schloss meinen Kittel, verankerte, sprühte, öffnete – und da war es passiert: Die nasse Farbe berührte die Halterung. Das Ergebnis war ein Farbklumpen am Brillenrand. »Nicht schlimm, das ist am Anfang normal, versuchen Sie es noch mal.« Auch beim zweiten, dritten, vierten und fünften Versuch produzierte ich Ausschuss. Doch plötzlich hatte ich den Dreh raus, ich sprühte vier oder fünf astreine Gestelle und legte sie stolz an ihren Trocknungsplatz. Und dann hatte ich den Trick wieder vergessen. Kein einziges der nächsten zehn Gestelle war brauchbar.
Langsam begann mein Vorarbeiter ungeduldig zu werden. »So schwer ist das wirklich nicht.« Doch! Er holte eine Arbeiterin zu meinem Tisch, auch sie zeigte erst Verständnis, dann Verzweiflung. Im Laufe der kommenden Stunde standen drei Arbeiter in meinem Rücken, gaben Tipps und konnten nicht glauben, dass ich es nicht hinbekam. »Machen Sie das jetzt extra?« Nein! Wirklich nicht. Der Ausschusshaufen wuchs, meine Hände wurden feucht, ich war so nervös, es war überhaupt nicht mehr lustig. Trotzdem gelang mir nicht ein einziges Brillengestell mehr. Nach weiteren zwei Stunden wurde ich mit der Diagnose »hoffnungslos« entlassen. Draußen wusste ich es: Die Arbeit und ich, wir werden niemals Freunde werden. Ich kann das einfach nicht.

Nix Integrationsbambi
von Federica Matteoni
»Bist du eine echte Italienerin?« Mehr als zehn Jahren wohne ich jetzt in Berlin und diese Frage muss ich immer wieder beantworten. Interessanterweise hat mich noch nie der Späti-Verkäufer gegenüber – der, obwohl er Hassan heißt, im Gegensatz zu mir ein echter Deutscher mit dazugehörigem Pass ist – danach gefragt. Wer es wissen will, sind in der Regel »echte Deutsche«, die Thomas oder Ulrike heißen und deren politische Sozialisierung mit Sprüchen wie »Nie, nie, nie wieder Deutschland« begonnen hat.
Am liebsten würde ich so etwas antworten wie: »Jo, bin ich, hast du ein Problem damit?« (Mann, bin ich froh, dass ich in Kreuzberg wohne.) Aber meistens fragen die so höflich, dass ich es mir verkneifen muss. Und dann kommt er, der selbstverständlich als Kompliment gemeinte, immer gleiche Kommentar seit zehn Jahren: »Hätte ich nie gedacht. Dein Deutsch ist total akzentfrei!« Lange war dieser Satz für mich der Beweis meines größten Erfolgs: meiner gelungenen Integration. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass mein akzentfreies Deutsch nicht nur viele Deutsche – auch die Deutschland-Hasser unter ihnen – verunsicherte, sondern auch mich in eine schwierige Position gebracht hatte. Man fing an, merkwürdige deutsche Sachen von mir zu erwarten, etwa, dass ich Öl ins Nudelwasser reinkippe, damit die Spaghetti nicht klebrig werden; dass ich mein Kind im Sommer nackt auf dem Spielplatz rumlaufen lasse; oder dass ich mich beim Autofahren an die Vorfahrtsregeln halte und dabei nicht noch herumgestikulieren muss. Ich fing sogar an, bei einer »antideutschen Wochenzeitung« zu arbeiten. Dann wurde mir klar, dass mein Erfolg eigentlich meine größte Niederlage war. Denn ich hatte mittlerweile gelernt, dass, egal ob »qualifiziert«, »nützlich« oder »integrationswillig«, der Nichtdeutsche vor allem eins bleiben soll: erkennbar. (Übrigens, falls sich jemand wundern sollte: Diesen Text habe ich ganz ohne die Hilfe von Google Translator geschrieben.)

In den Sand gesetzt
von Heiko Werning
Die hellen, nahezu zeichnungslosen Zaunleguane aus den Dünen im Grenzgebiet zwischen der Chihuahua-Wüste und den Great Plains waren kürzlich erst als eigene Art erkannt worden: winzige, verhuschte, unauffällige Echsen ohne jede Besonderheit. Die musste ich fotografieren! Mein Reisebegleiter Lars fand das nicht sehr einsichtig. Vor allem, warum wir deswegen in die Monaha Sand Hills fahren sollten: »Vor einem Jahr wärst du noch nicht hergefahren, weil es nur etwas anders aussehende Zaunleguane gewesen wären. Jetzt sehen sie immer noch genauso aus, und nun musst du sie fotografieren?« Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist was Persönliches«, antwortete ich. Er beließ es dabei. Das macht einen guten Reisebegleiter aus. »Warum nicht Monaha Sand Hills«, murmelte er, »da war bestimmt noch nie ein Europäer.«
Die großen Sanddünen in West-Texas liegen mitten in einer bemerkenswert ereignislosen Halbwüstenlandschaft. Die größte Sensation der Region sind regelmäßige Ufo-Sichtungen. Es ist erstaunlich anstrengend, durch Sanddünen zu wandern. Zumal bei 40 Grad. Wir schleppten uns durch den losen Sand, bekamen immer mal wieder eine Sandböe ins Gesicht, deren Körner dann im Schweiß an der Haut klebten, ganz zu schweigen vom Sand in unseren Augen, Ohren, im Mund. Wir waren im Sand und wurden eins mit dem Sand. Und es wurde gegen Mittag immer heißer. Lars gab auf und ging zurück, ich machte alleine weiter. Die Sonne stand schon im Zenit, mein Wasservorrat war erschöpft, mir ging die Puste aus. Mir wurde schwindelig. Verdammt, Anfängerfehler. Nie ohne ausreichend Wasser in die Wüste, hundertfach gelesen, und nun saß ich irgendwo in den Dünen, vor meinem Auge hüpften kleine Kreise und Spiralen, ich konnte die sengende Sonne auf meinem Kopf kaum noch ertragen. Und dann die Erkenntnis: Es gibt hier keinen Schatten. Ich musste irgendwie den Kopf aus der Sonne kriegen. Die Büsche! Niedrige, dornige, stark verholzte, extrem dichte Büsche, die Lebensgrundlage der Stachelleguane. Ich seufzte. Es piekste und kratzte höllisch, als ich meinen Kopf hinein schob, aber es klappte. Am Ende lag ich bäuchlings auf dem heißen Sand, den Kopf tief in einem dorren Büschlein versteckt. So überstand ich die schlimmste Mittagshitze. Als ich wieder halbwegs klar war, torkelte ich Richtung Parkplatz zurück. Kurz bevor ich ankam, huschte etwas Kleines, Bleiches vor mir in einen Busch und verschwand dort auf Nimmerwiedersehen. Verdammt. So schnell konnte ich die Kamera nicht zücken. Es blieb mein einziger Sandhill-Zaunleguan.
»Und – sehr schlimm?«, fragte Lars danach. »Nein«, murmelte ich, »dann eben beim nächsten Mal.« »Beim nächsten Mal? Du willst noch mal in diese gottverlassene Ecke hier? Wegen dieser Sandhügel?«, fragte er ungläubig.« »Selbstverständlich«, antwortete ich.