Gentrifizierung in Istanbul

Saniert, verkauft, vertrieben

In Istanbul schreitet die Gentrifizierung voran. Wohnraum wird fast unbezahlbar, und immer mehr Menschen sind dazu gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Ein Besuch bei einer kurdischen Familie im Zentrum der Stadt zeigt, wie schwer sich Widerstand gegen diesen Prozess organisieren lässt.

Die Oberstadtverwaltung von Istanbul hat viel vor. Die Metropole am Bosporus soll das neue Juwel für Touristen aus Ost und West werden. Oberbürgermeister Kadir Topaş wünscht sich seit langer Zeit den Glanz vergangener Prachtzeiten zurück. Üppige Blumenrabatten empfangen Besucher schon auf dem Stadtzubringer vom Flughafen. Selbst die Mittelstreifen der Autobahn werden in den Stadtgrenzen mit Rosensträuchern, Stiefmütterchen und Narzissen bepflanzt. Ein alljährliches Tulpenfestival erinnert an das »Zeitalter der Tulpe« unter Sultan Ahmet III. (1673–1736). Diese Zeit läutete eine Phase des türkischen Rokoko ein, in der verspielte Ornamente den Reichtum der Herrscher symbolisierten. Neben der üppigen Bepflanzung plant die Oberstadtverwaltung einen umwälzenden Umbau aller wichtigen Viertel der Stadt, die sich touristisch vermarkten lassen. Im Mittelpunkt des Sanierungsplans stehen die Viertel an der historischen byzantinischen Stadtmauer, die historische Altstadt und der zentrale Taksim-Platz samt des ihn umgehenden Szene-Viertels Beyoğlu. Dort wird der Bau von Hotels und exklusiven Wohnanlagen gefördert. Das alte Minderheitenviertel am Tarlabaşı Boulvard ist schon halb abgerissen worden. Riesige Baulücken klaffen in den Straßen, die noch vor einem Jahr vor allem von Migranten, Kurden, Roma und anderen »Randgruppen« bewohnt wurden.

Die kurdische Familie Yılmaz wohnt in einer großen Wohnung nahe der Serdari Ekrem Sokak, einer Seitenstraße des Tarlabaşı Boulvard. Früher war dies ein prächtiges Viertel. Vor allem wohlhabende griechische, jüdische und armenische Familien lebten hier.
Die jungen Frauen sitzen kichernd in der Mitte des Zimmers auf dem Boden. Auf einem alten, kunstfertig geschmiedeten Kupfertablett mit orientalischen Ornamenten stehen die Reste des Frühstücks: gekochte Eier, Tomaten und frische grüne Gurken, Schafskäse und grüne Oliven. Sebiha hält Ali, den sechs Monate alten jüngsten Spross der Familie Yılmaz, auf dem Schoß. Fatma, die Schwester ihres Mannes Lezgin, faltet Bügelwäsche. Neben den beiden leben noch drei weitere Schwägerinnen mit ihren Familien im Haushalt. Alle zusammen haben sie 17 Kinder. Fünf davon sind von der erst 27jährigen Sebiha. Die Wohnung ist spartanisch eingerichtet. Kissen auf dem Boden ersetzen die Sitzmöbel. An der Wand des Wohnzimmers hängt das Foto einer rauen, wildschönen Berglandschaft. Sie liegt in der südostanatolischen Provinz Siirt, aus der die Yılmaz ursprünglich stammen. Zwei von Alis Geschwistern kommen aus dem Nebenzimmer hereingetollt. Der zweieinhalbjährige Hasan und die vierjährige Bariş bekommen Helva, eine Paste aus Sesamöl und Traubenmelasse. Die junge Mutter achtet sorgfältig darauf, die Süßigkeit gerecht aufzuteilen. »Helva bekamen nur meine Brüder«, erinnert sich Sebiha an ihre Kindheit im Dorf, als die Jungs bevorzugt wurden. Ein bitterer Zug umspielt kurz ihre Mundwinkel, bevor sie energisch hinzufügt: »Meine Kinder wachsen anders auf.« Sie zieht Ali eine frisch gewaschene Babyjacke aus hellgrünem Sweatshirt-Stoff an, auch seine Mini-Jeans wird gewechselt. Ihre Schwägerin entsorgt die Kleidung schnell in der Waschküche.
Die jungen Frauen sind ein eingespieltes Team. Jede kümmert sich um die eigene Kinderschar, die Hausarbeit wird geteilt. Ali wippt begeistert mit Armen und Beinen, als die jungen Frauen ein kurdisches Lied anstimmen. Es handelt von den Bergen und von der Liebe. Singen ersetzt bei den Yılmaz in der Erziehung der Kleinsten das Vorlesen. Weder Sebiha noch Fatma können lesen und schreiben. Im Dorf war es nicht üblich, die Mädchen zur Schule zu schicken. Pünktlich um eins geht die Tür auf, Sebihas Mann Lezgin kommt aus der Schneiderwerkstatt zum Essen nach Hause. Der 30jährige hat ihre beiden Ältesten, die neunjährige Rojin und die siebenjährige Suzan, von der Schule abgeholt. Er ist ein scheuer, schmaler Mann mit gutmütigen Augen. Ali jauchzt, als der Vater ihn hoch über den Kopf wirbelt. Sebiha strahlt das erste Mal über das ganze Gesicht.
Das Paar hat trotz schwieriger Umstände zueinander gefunden. Vor der Hochzeit hatten sie sich ein einziges Mal gesehen. Sebiha war erst 14, Lezgin 17. Die Kinderbraut wurde aus dem Heimatdorf nach Istanbul geholt. Der ebenfalls minderjährige Bräutigam war 1992 mit seinen Brüdern in die Metropole am Bosporus migriert und arbeitete noch als Lehrling in einer Schneiderwerkstatt. Mittlerweile haben es die Yılmaz für ihre Verhältnisse weit gebracht. Die Männer arbeiten als Handwerker, die Frauen kümmern sich ausschließlich um die Wohnung und die Kinder. Die Mütter und Schwiegermütter sind in die Dörfer zurückgekehrt und schicken im Sommer große Behälter mit Schafskäse, Oliven, Melasse, Marmelade, Trockenfrüchten und Nüssen, alles, was gut und haltbar ist. Die Yılmaz lagern diese Schätze in einer Kammer neben der Küche.

Lezgin ist stolz darauf, dass er die Wohnung mit Hilfe der gesamten Verwandtschaft in den neunziger Jahren kaufen konnte. Niemand wollte damals in dem heruntergekommenen Viertel leben. Die umgerechnet 20 000 Euro Kaufpreis sind heute ein Witz, damals war es der angemessene Preis und für die Yılmaz eine horrend hohe Summe. Die zentrale Lage der Wohnung ist für die kurdische Großfamilie ein Segen. Die Männer haben einen kurzen Weg zur Arbeit und die Schule der Kinder liegt in Laufweite. Sebiha und die anderen Frauen mögen ihre Straße, hier leben Kurden aus ihrem Herkunftsort und diejenigen, die nicht zum Istanbuler Establishment gehören. Das macht es den Frauen einfacher, sich nicht minderwertig zu fühlen. Viele Istanbuler mögen keine Migranten und behandeln sie herablassend.
Vor 20 Jahren noch lebten 70 Prozent der Türken auf dem Land, 30 Prozent in der Stadt. Heute ist es umgekehrt. Für alteingesessene Istanbuler sind die Yılmaz zugereiste Bauern, deren Lebensweise von der einer städtischen türkischen Kleinfamilie deutlich abweicht. Sebiha wird für ihre fünf Kinder und ihren ostanatolisch-kurdischen Akzent im Türkischen verachtet.
Auf der Straße ruft der Tomatenverkäufer: »Tomaten, Tomaten, die besten Tomaaaten!!!« Fatma eilt zum Fenster und lässt einen Weidenkorb an einer Schnur hinunter. Sie bestellt zwei Kilo und zieht behende das frische Gemüse nach oben.
Lezgin Yılmaz seufzt. Wir fast alle in dem Viertel hat er schon vor Monaten eine Aufforderung der Stadtverwaltung bekommen, wegen der Sanierung im Rathaus von Beyoğlu vorzusprechen. Er hat sich bisher drücken können. Denn von anderen Nachbarn aus dem Viertel weiß er, was die Beamten vom Bauamt mit ihm besprechen wollen. Es liegen dort genaue Sanierungspläne aus. Die Hausbesitzer werden dazu aufgefordert, die Sanierung entweder selbst vorzunehmen und zu finanzieren oder zu verkaufen. Beides will der junge Mann vermeiden. Die Sanierung übersteigt seine finanziellen Möglichkeiten, bei einem Verkauf wird er nicht viel mehr als das bekommen, was er vor vielen Jahren investiert hat. Das findet er ungerecht. »Alle Istanbuler verdienen ein Heidengeld mit Immobilienspekulationen«, klagt er, »aber wir dürfen nicht einmal das Wenige, das wir haben, nutzen oder gewinnbringend verkaufen.« Die Yıl­maz gehören zu den vielen Zehntausenden, die im Kurdenkrieg in ihrem Dorf bereits ihr Hab und Gut verloren haben. Auf dem Höhepunkt des bewaffneten Kampfes zwischen der PKK und der türkischen Armee in den neunziger Jahren rodete das Militär ganze Wälder und brannte viele Dörfer ab, um der PKK Unterschlupf- und Versorgungsmöglichkeiten abzuschneiden. In dem Dorf der Yılmaz waren die Häuser zwar aus Stein, sie ließen sich nach 2002, als der Ausnahmezustand aufgehoben worden war, wieder für die vielen rückkehrwilligen Alten herrichten. Die gesamte Wasserversorgung und die Infrastruktur waren allerdings auch zerstört worden. Mit mühseliger Knochenarbeit haben die kurdischen Familien sie in den vergangenen Jahren wiederhergestellt. »Eine Haussanierung ist etwas anderes, als Wasserleitungen im Dorf selbst zu legen«, sagt Lezgin. Dem Blick seiner Frau weicht er aus. Sebiha schaut ihn flehentlich an, sie möchte diese Gegend auf keinen Fall verlassen.
Am Sonntag wird der einzige in der Innenstadt übergebliebene Gemüse- und Obstbasar in diesem Viertel aufgebaut. Oft setzen Sebiha und die anderen Frauen sich an einen der Stände und verkaufen kleine, kunstvolle Häkelarbeiten. Im Sommer gehen sie mit den Kindern in den nahegelegenen Gezi-Park am Taksim-Platz und machen dort Picknick. In einer der Trabantenstädte außerhalb des Zentrums, die einzige Wohnlage, die sich die Yılmaz leisten könnten, wird dieses Leben vorbei sein. Auch eine so große Wohnung werden sie sich nie wieder leisten können, sie ist aber eine Notwendigkeit für die Großfamilie. Um an den Vorzügen der Stadt teilzuhaben, brauchen die Yılmaz eine für sie günstige Infrastruktur. Ihnen fehlt das Geld für teure Busfahrten, die Frauen trauen sich weite Wege auch gar nicht zu.
Sebihas größte Sorge ist ihre fehlende Bildung. Bei den Schularbeiten kann sie ihren Kindern nicht helfen. Baby Ali ist nur auf der Welt, weil Sebiha die Einnahme der für arme Familien kostenlosen Verhütungsmittel nur nachlässig praktiziert. Sie kann die Gebrauchsanweisung nicht lesen. Lezgin erzählt seiner Frau von einem kostenlosen Alphabetisierungskurs der Stadtverwaltung. Beide rühren nachdenklich in ihren Teetassen. Die Ungewissheit ihrer Wohnsituation macht Planungen schwierig. Noch wissen sie nicht, dass auch der Gezi-Park längst Teil der Sanierungspläne ist. Auf der einzigen Grünfläche in der Innenstadt soll ein großes Einkaufszentrum im Baustil einer osmanischen Kaserne entstehen, die hier vor 100 Jahren aus guten stadtplanerischen Gründen zugunsten öffentlicher Erholungsflächen abgerissen wurde. Auch der Basar wird nach abgeschlossener Sanierung Vergangenheit sein. Denn in der Kaserne sollen Läden und Supermärkte angesiedelt werden und gute Umsätze erzielen, damit ihre Betreiber die üppigen Mieten bezahlen können. Selbst wenn es Lezgin gelingen sollte, dem Gespräch bei der Stadtverwaltung zu entgehen, das Viertel wird sich in den folgenden Jahren komplett verändern, und die Familie wird über kurz oder lang von hier vertrieben werden.

Die türkische Regierung hat alle gesetzlichen Mittel in der Hand, ihre Sanierungspolitik in den Städten rasant voranzutreiben. Noch vor 2010, als Istanbul neben Essen und Pécs Kulturhauptstadt Europas war, wurde in Ankara flugs ein Gesetzt verabschiedet, das umfassende Baumaßnahmen zur Regierungspolitik erklärt. Das bedeutet, der ehemalige Istanbuler Bürgermeister und jetzige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo­ğan entscheidet nun wieder über die Geschicke der Stadt. Hinsichtlich der urbanen Infrastruktur ist gegen die Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei für »Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP) auch nichts einzuwenden. Die Wasserversorgung wurde in den vergangenen 20 Jahren entscheidend verbessert und das Metrosystem ausgebaut. Nur sobald es um historische Bausubstanz und den Umgang mit der von der Sanierung betroffenen ärmeren Bevölkerung geht, kennt die sonst Wohltätigkeit predigende AKP kein Erbarmen. Das Viertel Sulukulu an der Westseite der historischen Stadtmauer wurde komplett abgerissen, die Bewohner wurden umgesiedelt. Viele von ihnen kehren mittlerweile aus den fast an der griechischen Grenze liegenden Trabantenstädten in Thrakien zurück und hausen in Unterkünften oder leben auf der Straße. Die Betroffenen selbst sind so hilf- und machtlos wie die Yılmaz im Tarlabaşı-Viertel.
Proteste werden heute und auch in der Vergangenheit von Intellektuellen und Künstlern organisiert. Zwei Jahre lang wurde in Sulukule protestiert, Universitätsdozenten studierten die Lebens- und Wohnsituation der Roma und schrieben ungezählte Artikel, Petitionen und Protestbriefe, realpolitisch blieb all dies folgenlos. Die EU und die UN-Habitat rügen die türkische Regierung in jedem Bericht zum Thema, die Unesco droht sogar seit Jahren, Istanbul von der Liste des Weltkulturerbes zu streichen, aber was wäre das für ein politisches Signal? Geopolitisch kann es sich derzeit niemand leisten, die Türkei zu vergrätzen, es wird diplomatisch gemahnt und abgewartet. Innenpolitisch hat das Land so viele Konflikte zu lösen, dass die Vertreibung Tausender Menschen aus ihren Wohnverhältnissen den Großteil der Bevölkerung herzlich wenig interessiert.

Am konsequentesten beschäftigt sich die Kunst- und Kulturszene mit dem Problem. Während der am Samstag zu Ende gegangenen Istanbuler Filmfestspiele wurde das dem Abriss geweihte, traditionsreiche Emek-Kino am İstiklal Boulvard besetzt. Die Istanbuler Polizei konnte die Demonstranten erst mit Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray vertreiben. Regisseur Konstantin Costa-Gavras, der einen Filmpreis verliehen bekommen hatte, sagte im Anschluss, es bedeute ihm mehr, auf der Demonstration nass geworden zu sein, als eine weitere Trophäe in sein Regal zu stellen.
Der kleine Theater- und Performance-Raum Galata Perform führt derzeit das Stück »Narben« auf. Darin geht es um eine Wohnung auf dem Tarlabaşı Boulvard, in der geisterhaft die ehemaligen griechischen Bewohner, ein nach dem Militärputsch von der Polizei erschossener linker Aktivist und die jetztigen Bewohner, ein Transvestit mit seinem kurdischen Lebenspartner, umherwandeln. Das Künstlerkollektiv Periferi widersetzt sich mit kontinuierlichen Aktionen den derzeitigen urbanen Trends, die sie »Terror der Realität« nennen. Der Maler Cins etwa sprüht kunstvolle Graffiti auf Tore und Häuserwände in dem ebenfalls von Gentrifizierung betroffenen aufstrebenden Galerien-Viertel Tophane. Die Künstlerin Eda Gecikmez malt feministische Bilder von Frauen mit amputierten, netzbestrumpften Gliedmaßen und Gasmasken als Schmuck zum hübschen Sommerkleid. Die 29jährige lacht mit Galgenhumor, auch sie musste in den vergangenen Wochen bei den Eltern im Vorort Kartal wohnen, weil ihre alte Wohnung zu teuer geworden war. Unlängst zog sie in eine WG am Taksim-Platz. Dort wird sie wohl wohnen, bis zu ihr das gleiche Schicksal blüht wie der Familie Yılmaz.