Theorie und Praxis der Antipsychiatrie

Leiden und Macht

Wie die Gesellschaft mit den Irren umgeht, ist in der radikalen Linken kein großes Thema mehr. Allerhöchstens spielt es eine Rolle für das eigene beschädigte Leben.

Die Linke setzt sich mit der Psychiatrie vor allem als Institution auseinander, kritisiert eine letztendlich vom Staat verantwortete Praxis der Zwangseinweisung und Ruhigstellung der als geisteskrank Diagnostizierten. Solche Kritik üben zumeist Betroffene, also Psychiatrisierte oder Psychiatrie-Erfahrene; Unterstützung finden sie durch Ärzte und kritische Wissenschaftler (im Zuge der Hochschulreformen nach 1968, wozu auch neue universitäre Forschungs- und Fachbereiche wie Medizinsoziologie gehören). In den siebziger Jahren erreicht die sogenannte Antipsychiatriebewegung ihren auch theoretischen Höhepunkt – Psychiatrisierung, Psychologisierung und Pädagogisierung werden von der Neuen Linken diskutiert, zahlreiche Patienteninitiativen gründen sich. In den achtziger Jahren entwickeln sich daraus die Gesundheitsselbsthilfegruppen – die Kritik der Betroffenen an der Institution wird gleichsam institutionalisiert. Heute ist die Selbsthilfebewegung zum Teil in den Angeboten der Krankenkassen aufgelöst, die Kritik am DSM findet als öffentliche Debatte in der Mitte der Gesellschaft statt. Die Psychiatrie erscheint nur noch als klinischer Ex­trem­fall psychischer Störungen, Manfred Lütz präsentiert sein Buch »Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen« als »heitere Seelenkunde«, mit einem Vorwort des Kabarettisten Eckart von Hirschhausen.
Mittlerweile ist es politisch um die Gesundheits- und Antipsychiatriebewegung still geworden, selbst wenn einzelne Gruppen noch aktiv sind. Die Bande der politischen Solidarität sind zerrissen. Die Stigmatisierung und Denunziation der Irren kapriziert sich auf den Einzelfall, der entweder zur Sensation skandalisiert wird oder seinen Leidensdruck fatalistisch durch Leistungsdruck zu kompensieren hat. Die psychiatrischen Kliniken und Krankenhausabteilungen werden nicht selten zu Asylen der Ohnmächtigen, die den ganz normalen Wahnsinn der Gesellschaft nicht mehr aushalten können. Gerade im klinisch-medizinischen Bereich der Psychiatrie, des Wahnsinns und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung oder Nichtauseinandersetzung damit, auch innerhalb der emanzipatorischen Linken, zeigt sich, dass die alte Disziplinargesellschaft sich in eine Kontrollgesellschaft verwandelt hat.

Psychiatrie und Antipsychiatrie sind von der Geschichte der Medizin so wenig zu trennen wie überhaupt von der Entfaltung der sozialen Verhältnisse, die das bürgerliche Zeitalter charakterisieren. Die pathologische Klassifizierung bestimmter Verhaltensweisen und Verhaltungsauffälligkeiten als »psychisch krank« ist Ideologie, aber gleichwohl reale Gewalt nicht nur in Bezug auf die Behandlung der Irren, sondern vor allem in Hinblick auf materielle Lebensbedingungen, die den modernen Menschen »verrückt« machen, beziehungsweise in ihrer Verrücktheit den Menschen auch als »modern« formen. Gerade in den psychischen Leiden zeigt sich das ohnehin diffuse Ideal von Gesundheit und Wohlbefinden in seiner mehrschichtig-widersprüchlichen Komplexität: Das individuelle Empfinden korreliert mit der ärztlich-klinischen Diagnostik, den sozialen Normen, den öffentlichen Erwartungen und den Vorstellungen der anderen, schließlich auch mit dem ökonomischen Leistungsprinzip und der »gesunden« Bereitschaft, sich diesem möglichst störungsfrei und reibungslos zu unterwerfen. Überdies ist Gesundheit auch heute noch vom Klassenantagonismus bestimmt, mindestens vom Unterschied zwischen arm und reich – auch die psychiatrische Medizin ist Zweiklassenmedizin.
In der frühen Neuzeit Europas werden die Irren gemeinsam mit Armen, Prostituierten, Bettlern und Krüppeln eingesperrt, in Zuchthäusern, Arbeitshäusern oder ersten Hospitälern. Ärzte sind für die Irren nicht zuständig. Das ändert sich im Zuge der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: In Paris befreite der Arzt Philipp Pinel 1793 die Irren von ihren Ketten, behandelte dann ab 1794 am Hôpital Salpêtrière als erster Geisteskranke ohne die üblichen Zwangsmaßnahmen. Die Irren werden nun zu Objekten wissenschaftlicher Verfahren, der Wahnsinn wird professionalisiert. Die Medizin ist nun keine Heilkunst mehr, sondern begründet sich explizit als Wissenschaft. 1808 ist erstmals von »Psychiatrie« die Rede. In Europa entwickelt sich die Psychiatrie ambivalent: Fürsorge und Zuwendung für die Kranken einerseits, qualvolle Behandlungsmethoden andererseits. In England wird der Tod eines in der Zwangsjacke fixierten Patienten zum Skandal; einige Ärzte verzichten fortan auf Zwang, etablierten stattdessen eine Behandlung der Irren als »normale« Kranke. Nicht zuletzt bedingen auch physiologische Erkenntnisse, dass Ende des 19. Jahrhunderts die Psychiatrie zur Klinik und ins medizinische Gesamtsystem integriert wird. Seit den fünfziger Jahren wird der Einfluss der Pharmaindustrie immer stärker. 1952 erscheint erstmals das von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung herausgegebene DSM.

Bis in die sechziger Jahre bleibt der Widerstand gegen die Psychiatrie sporadisch. Als geschichtliche Wendepunkte gelten Michel Foucaults »Wahnsinn und Gesellschaft«, Thomas Szasz’ »Geisteskrankheit – ein moderner Mythos?« sowie Erving Goffmans »Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen« (alle drei Bücher erscheinen 1961). Ende der sechziger Jahre bezeichnen David Cooper und Ronald D. Laing erstmals die fundamentale Kritik an der Psychiatrie als »Antipsychiatrie«. Verschiedene Patienteninitiativen formieren sich. In Frankreich werden sie etwa von Félix Guattari und Gilles Deleuze unterstützt (»Anti-Ödipus«, 1972), in Heidelberg gründet sich 1970 das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK). 1980 kommt die Westberliner Irren-Offensive als eingetragener Verein dazu und richtet, nach dem Vorbild eines ähnlichen Modells von Cooper und Laing, ein sogenanntes Weglaufhaus als Alternative zur Psychiatrie ein.
Szasz’ Kritik, die Psychiatrie sei ausschließlich durch Zwang definiert und nicht durch Heilungsabsicht, radikalisiert das SPK: Die Psychiatrie versuche, die Patienten bloß »tauglich für die krankmachende Gesellschaft« zu machen, deshalb müsse aus der Krankheit eine Waffe gemacht werden.
Emanzipatorisch gelingt der Zusammenschluss von Antipsychiatriebewegung und radikaler Linken jenseits der »Patientenfront« nur partiell, etwa mit dem »Foucault-Tribunal«, dass die Irren-Offensive in der Berliner Volksbühne 1998 zur Lage der Psychiatrie organisierte.
Auch wenn die Kritik der Antipsychiatriebewegung zur positivistischen Verkürzung neigt: Die grundsätzliche Problematisierung von psychischen und psychiatrischen Krankheitsbildern, deren Diagnostik und klinisch-medizinischer Behandlung bleibt trotz der Reformbestrebungen berechtigt. In der vollends verwalteten Welt sind die psychiatrischen Kliniken wie Krankenhäuser überhaupt in hochtechnologische, entmenschlichte und zudem kostenintensive Versorgungsanstalten verwandelt. Das neue DSM-5 erscheint dabei nicht als Handbuch medizinischen Wissens, sondern als Handbuch medizinischer Macht – eine Macht, die auch im Bereich der Psychiatrie die Hospitäler längst in Unternehmen verwandelt hat. Die einmal von den Patienteninitiativen geforderte Selbstbestimmung gehört heute zu den programmatischen Leistungsanforderungen der Selbstsorge; die Psychiatrie erscheint dabei nicht nur als Integrationsmaschine, sondern auch als Mechanismus der Ausschließung. Die gesellschaftliche Normalität ist längst in den psychiatrischen Betrieb hineingewachsen.