zum 10. Todestag von Johannes Agnoli

Der geduldige Revolutionär

Am 4. Mai 2003 starb der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli. Zehn Jahre nach seinem Tod hat seine Kritik nichts an Aktualität verloren.

Lenin empfahl den Revolutionären, sich in Zeiten der Konterrevolution in »Geduld und Theorie« zu üben. Der linkskommunistisch-antiautoritäre Kritiker Johannes Agnoli setzte hingegen auf Geduld und Ironie. Auf den Einwand, es sich damit im falschen Ganzen hedonistisch bequem zu machen, entgegnete der von 1972 bis 1990 als Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft Lehrende: »Man braucht doch kein Jesuit, Jakobiner oder Bolschewik zu sein, bloß weil man vorhat, den Staat zu zerstören. Der echte Revolutionär muss sich immer einen Rest von Ironie und Selbstironie bewahren. Kommunismus ist wichtig, aber Ossobucco ist auch nicht ohne.«
Mit dieser ironischen Distanz versuchte Agnoli sich die verdummenden Zumutungen der spätkapitalistischen und postfaschistischen Gesellschaft, so gut das eben geht, bis zu seinem Tod vom Leib zu halten. Vor zehn Jahren, am 4. Mai 2003, ist Johannes Agnoli im Alter von 78 Jahren im italienischen Lucca verstorben, wohin er sich nach seiner Emeritierung zurückgezogen hatte. 1925 in Norditalien geboren, engagierte sich Agnoli in seiner Jugend in der Gioventù Italiana del Littorio, der faschistischen Jugendorganisation, was ihm einen Platz auf der Liste der zu Erschießenden der italienischen Partisanen einbrachte. Später, als linkskommunistischer Antifaschist, setzte er sich immer wieder mit den unterschiedlichen Strömungen in Mussolinis Bewegung auseinander. Die Ergebnisse können in den Aufsätzen im vierten Band seiner »Gesammelten Schriften« nachgelesen werden, die unter dem Titel »Faschismus ohne Revision« erschienen sind.
Gleich nach dem Abitur meldete sich Agnoli bei der Waffen-SS, die für die Rekrutierung von ausländischen Freiwilligen zuständig war, und kam zu den Gebirgsjägern der Wehrmacht. Er kämpfte unter anderem gegen Partisanen in Jugoslawien und geriet in britische Kriegsgefangenschaft in Ägypten. 1948 wurde Agnoli nach Deutschland entlassen, arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Holzfabrik und studierte in Tübingen, wo sich ihm durch intensive Marx-Lektüre eine neue Welt eröffnete. Nach seiner Promotion unterrichtete er in Tübingen und Stuttgart, trat dann eine Assistentenstelle in Köln an, die er aufgrund seines Engagements für die Anerkennung der DDR schnell wieder verlor, und wurde Assistent an der FU Berlin, wo er sich Anfang der siebziger Jahre habilitierte. Als in Westberlin unter anderem wegen Verunglimpfung des Staats gegen ihn ermittelt wurde, verunsicherte er seinen Arbeitgeber und die Justiz ebenso wie seine akademischen Kollegen, indem er sie mit Texten wie dem »Versuch, Strafkammer und Staatsanwaltschaft über Faschistoides und Form Staat aufzuklären« traktierte. (Nachzulesen in den im Freiburger Ça-Ira-Verlag gewissenhaft edierten, aber aufgrund von aberwitzigen juristischen Auseinandersetzungen mit den Erben Agnolis leider nicht mehr lieferbaren »Gesammelten Schriften«, Band 5: »1968 und die Folgen«. Weiterhin erhältlich sind die ebenfalls bei Ça Ira erschienenen Festschriften zu Agnolis 70. und 75. Geburtstag: »Geduld und Ironie« und »Kritik der Politik«. Die »Gesammelten Schriften« sind mittlerweile komplett im Internet verfügbar.)
Über sein Wissenschaftsverständnis schrieb der Staatsfeind mit Lehrstuhl, ausgehend von Kant, vom jungen Hegel und von Marx: »Die Abschaffung des objektiven, durchaus interessierten, also besonderen Interessen zweckdienlichen Zwangscharakters der Gesellschaft: Zu diesem Ende soll Politische Wissenschaft betrieben werden.« Protagonisten der postmodernen und poststrukturalistischen pseudokritischen Affirmationstheorien, die spätestens Ende der achtziger Jahre ihren Siegeszug an den Universitäten antraten, mussten sich durch Agnolis strengen Materialismus provoziert fühlen, etwa wenn er schon früh gegen modische Sprachtheorien festhielt: »Gewiss: Sprachlich durchsetzen können sich nur die Herrschenden, aber nicht weil sie sprechen, sondern weil sie herrschen.« Konservative sahen in Agnoli stets einen Störenfried des akademischen Betriebs. In einer Prüfungssituation soll ein Professorenkollege ihn einmal angefahren haben: »Wenn Sie an die Macht kommen, stellen Sie mich sicher an die Wand!« Worauf Agnoli ebenso verschmitzt wie trocken erwiderte: »Wo denken Sie hin, Herr Professor. Wenn wir an die Macht kommen, sind Sie auf unserer Seite. Sie sind doch immer auf der Seite der Macht.«
Für jemanden, der 30 Jahre als beamteter Wissenschaftler tätig war, hat Agnoli ein vergleichsweise schmales Gesamtwerk hinterlassen. Er konzentrierte sich auf Aufsätze, die sehr oft in nichtakademischen Publikationen erschienen, anstatt dicke Wälzer zu schreiben, die ungelesen in den Bibliotheken verstauben; und er las lieber, als sich wie viele seiner Universitätskollegen in ein professorales Textverarbeitungsprogramm zu verwandeln, was ihn einmal zu der Äußerung animierte: »Lesen kostet Zeit, während Habermas schreibt.«

Negation als eigenwillige Vernunft
Einen Eindruck von Agnolis Lehrtätigkeit vermittelt die Lektüre des Bandes »Subversive Theorie«, eine Mitschrift seiner vorletzten Vorlesung an der FU Berlin, die als dritter Band seiner »Gesammelten Schriften« erschienen ist. Liest man diese Ausführungen, wird einem schnell klar, dass in den Hörsälen der Lehranstalten nicht zwangsläufig jene akademische Langeweile herrschen muss, die heutzutage fast alle Studierenden erleiden müssen. Agnoli stand im schroffen Gegensatz zu den akademischen Theorieverwaltern und universitären Sachbearbeitern, die selbst noch Marx den kritischen und polemischen Stachel gezogen haben. Er blieb stets ein zu Empathie fähiger Denker, dem es um eingreifende Kritik ging. Nicht theoretische Stimmigkeit um ihrer selbst willen war Agnoli ein Anliegen, sondern es ging ihm um in Begriffe zu fassende reflektierte Erfahrung zum Zwecke der Intervention in die gesellschaftliche Wirklichkeit.
Agnoli versucht in »Subversive Theorie« von den antiken und christlichen Mythen über das Mittelalter bis zur Neuzeit die Geschichte der theoretisch-intellektuellen und der praktischen Subversion nachzuzeichnen. Er liefert Beispiele für einen möglichen anderen Umgang mit politischer Philosophie- und Ideengeschichte und zeigt, wie widerständige, subversive oder auch einfach nur unbequeme Denker und vor allem Denkerinnen im Mainstream der Wissenschaften missachtet, fehlinterpretiert oder auch pathologisiert wurden und werden. Den Begriff der Subversion bestimmt er als Form menschlicher Emanzipation in finsteren Zeiten. Hinsichtlich der Universität empfiehlt Agnoli die »Destruktion als Bestimmung des Gelehrten in dürftiger Zeit«, wie der Titel eines 1990 zuerst in Konkret erschienenen Beitrags lautet. Subversion bedeutet »Negation sans phrase, Negation als destructio, als eigenwillige Vernunft«. Sie ist eine sowohl theoretische als auch praktische Tätigkeit, welche die Ordnung angreift, ohne jedoch, wie Protagonisten einer konformistischen Revolte, eine »noch ordentlichere Ordnung« einzufordern.
In Agnolis Streifzug durch die Philosophiegeschichte lassen sich immer wieder die Grundzüge seiner Staats- und Politikkritik erkennen, wie er sie in seinen bekannteren Texten wie »Die Transformation der Demokratie« entwickelt hat, der als »Bibel der Außerparlamentarischen Opposition« galt und weit über linksakademische Kreise hinaus rezipiert wurde. Wenn es zum Wesen der Subversion gehört, dass der Mensch sich dagegen wendet, immer nur Gegenstand, reines Objekt zu sein, so müsse sich die Subversion auch gegen die Politik richten, denn der Mensch sei »nie Mittelpunkt der Politik (wie die Parteien sagen), sondern er ist ein Mittel der Politik – etwa im Wahlakt als bloßes Mittel der Machtverteilung der Parteien untereinander«.
Gegen die Institutionalisierung der Subversion setzte Agnoli seine Parlamentarismuskritik, in der er auf eine Involutionstendenz der modernen Demokratien hinwies. Agnoli legt dar, dass Macht nicht dann wirksam kontrolliert und schon gar nicht sabotiert werden kann, wenn sich die Subversion auf die Institutionen der Macht einlässt, sondern nur dann, »wenn die Vernunft auf der Straße in Permanenz tagt«. Dementsprechend war er ein strikter Gegner jenes »Marsches durch die Institutionen«, mit dem sich viele der von ihm zunächst inspirierten Achtundsechziger ihre Anpassung ans Bestehende und ihren Aufklärungsverrat schöngeredet haben. Er wusste, dass die Institutionen in aller Regel stärker sind als die Menschen, die sich in sie hineinbegeben.

Postnazismus und Islamismus
Die Debatten über Staats- und Kapitalkritik vor dem Hintergrund der Besonderheiten der israelischen Staatlichkeit, die für die Auseinandersetzungen in der deutschsprachigen Linken seit Beginn der neunziger Jahre zentral waren, hat Agnoli interessiert verfolgt, sich aber nicht mehr an ihnen beteiligt. Dennoch hob er sich auch in diesen Fragen vom Rest der Linken ab. Zwar existiert von ihm ein antizionistischer Text, den er als Vorwort zu Mario Offenbergs Dissertation »Kommunismus in Palästina« in den siebziger Jahren ganz im Mainstream der damaligen Linken verfasst hat. Es ist dies aber ein Beitrag, der ihm später so unangenehm war, dass er ihn nach Auskunft einer seiner Verleger am liebsten vergessen machen wollte. In den achtziger Jahren war es in der Linken noch nahezu Konsens, von Israel nur als einem »naziähnlichen«, »zionistisch-imperialistischen Gebilde« zu reden. Nach Auskunft einiger seiner ehemaligen Studenten intervenierte Agnoli in öffentlichen Veranstaltungen zumindest dahingehend, dass er gegen die Titulierung des Staates der Shoa-Überlebenden als »Brückenkopf des Imperialismus« in Erinnerung rief, dass Israel im Westen lange Zeit als Brückenkopf des Sozialismus wahrgenommen wurde und insbesondere in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung ein starker Einfluss linkssozialistischer Gedanken in der israelischen Gesellschaft existierte. Agnoli formulierte damit keine fundierte Kritik am antizionistischen Mainstream, brachte aber immerhin seine Skepsis gegenüber den linken Phrasen zum Ausdruck, die er auch in diesem Fall nicht als unhintergehbare Dogmen zu akzeptieren bereit war.
Dass Johannes Agnoli sich auch am Ende seines Lebens sehr deutlich vom Mainstream der Linken abhob, kann man in dem Interview-Buch »Das negative Potential« von 2002 nachlesen. Er spricht hier – kurz nachdem sich ein maßgeblicher Teil der globalen Linken im Abfeiern der zweiten Intifada und mit Rechtfertigungsversuchen von 9/11 endgültig von jeder kritischen Aufklärung verabschiedet hatte – mit einer großen Selbstverständlichkeit von den islamischen Jihadisten als einer ähnlichen Bedrohung für die Emanzipation, wie es historisch die Faschisten gewesen sind: »Auch sie wollten und wollen niemals Freiheit, im Gegenteil. Ihr Wunschtraum ist es, die ganze Welt zu islamisieren. Dass sie das Befreiung nennen, liegt an der ideologischen Verwendung der Begriffe.«
Agnoli hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass wir es bei den europäischen Nachkriegsstaaten keineswegs mit Gesellschaften zu tun haben, die aus dem Nichts entstanden sind, sondern mit postfaschistischen Gesellschaften, die zahlreiche Elemente des Faschismus in modifizierter Form aufgenommen haben. Wenig Beachtung hingegen erfährt bei ihm die Tatsache, dass es sich bei der BRD nicht nur um einen postfaschistischen Staat, sondern vor allem um eine postnazistische Gesellschaft handelt – eine Kritik, an der er sich bei seinem letzten Wien-Besuch im April 2001 ausgesprochen interessiert zeigte.
Die Auseinandersetzungen über Antisemitismus und falsche Kapitalismuskritik, wie sie spätestens seit Anfang der neunziger Jahre in der deutschsprachigen Linken geführt werden, konnten aus Agnolis Texten kaum Impulse erhalten. Das liegt in erster Linie daran, dass jene grundlegende Gemütslage nationalstaatlicher Warenmonaden, die sich darin äußert, dass man sich permanent betrogen und übervorteilt fühlt, einen diffusen Hass gegen »die da oben« hegt und womöglich noch von geheimen Mächten im Hintergrund phantasiert, die am eigenen Elend Schuld sein sollen, bei Agnoli nicht Gegenstand der Kritik ist. Ganz im Gegenteil, sie muss immer wieder als Beleg für die grundsätzliche Widerständigkeit der abhängigen Massen dienen. Die antisemitischen Implikationen jenes antikapitalistischen Ressentiments, das einzelne Kapitalisten und Politiker kritisiert, aber nicht das Kapital und die Form Staat, bekommt Agnoli nur selten in den Blick. Selbst noch der rigide Antiintellektualismus deutscher Werktätiger, der fast nie ohne antisemitische Einfärbung auskommt, schien ihm bisweilen eine Bestätigung für die ursprüngliche Aversion der Arbeitenden gegen Herrschaft jeglicher Art zu sein.
Doch seine Kritik eines autoritären Staates rechtsstaatlicher Prägung, seine Überlegungen zur Notwendigkeit von Fundamentalopposition und zum Staat als »Gesellschaftsplaner«, wie sie sich in dem Band »Der Staat des Kapitals« finden, sowie seine Charakterisierung der postnazistischen Parteienlandschaft der BRD als »plurale Fassung einer Einheitspartei«, haben nichts an Aktualität verloren. Bei aller Kritik an seiner positiven Bezugnahme auf »die Beherrschten«, an seiner mitunter traditionsmarxistischen Interpretation der Kritik der Politischen Ökonomie, an einem funktionalistischen Antisemitismusbegriff in seinen faschismus­theoretischen Schriften und an seiner praxisfetischistischen Ablehnung der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers (eine Ablehnung, über die er sich in seinen letzten Lebensjahren allerdings sehr selbstkritisch geäußert hat), bleibt seine stets vom basso continuo der Ironie begleitete Kritik allein schon angesichts des staatsidealistischen Konformismus und der verbiesterten Humorlosigkeit großer Teile der heutigen Linken aktuell.