Prozesse gegen Journalisten in der Türkei

Die Gesinnung ist Beweis genug

In der Türkei sitzen 70 Journalisten in Untersuchungshaft, den meisten werden terroristische Vergehen vorgeworfen. Die Verfahren ziehen sich jahrelang hin.

Der Vorsitzende der Plattform für inhaftierte Journalisten in der Türkei, Necati Abay, erfuhr in Deutschland von der Revision seines Urteils. Der vorherigen Entscheidung des Sondergerichts für politischen Terrorismus in Istanbul, das den Journalisten zu 18 Jahren und neun Monaten Haft verurteilt hatte, stimmte das Revisionsgericht in Ankara im Oktober 2012 nicht zu. Die Richter sahen es nicht als bewiesen an, dass Abay eine Leitungsfunktion in einer terroristischen Vereinigung innegehabt habe, und empfahlen den Kollegen in Istanbul, ihn lediglich wegen Mitgliedschaft zu einer Haftstrafe zwischen zehn und 15 Jahren zu verurteilen. Für den seine Unschuld beteuernden Angeklagten war dies keine entscheidende Verbesserung. Abay zog es vor, in München Asyl zu beantragen. Er befürchtete, wie bereits 2003, zu Beginn der Anklage, in Untersuchungshaft genommen zu werden.

Abays Fall ist exemplarisch. 2011 wurde er nach acht Jahren Verfahren zu jenen 18,75 Jahren Haft verurteilt, weil er angeblich zu den Führungskadern der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) gehört. Der ehemalige Redakteur der kommunistischen Zeitung Atılım bestreitet das vehement und ging in Revision. Er fühlt sich als Bauernopfer. 2002 arbeitete er in der Endredaktion von Atılım. Sein Name stand deshalb häufig unter kleineren Meldungen über die damals besonders zahlreichen Bombenanschläge in Istanbul. Ende März 2003 mahnten ihn zwei Polizisten, er solle nicht ständig Werbung für Bombenleger machen. Die Festnahme erfolgte am 13. April jenes Jahres, sein Computer wurde mit der Begründung beschlagnahmt, er werde verdächtigt, Koordinator von Bombenanschlägen einer linksradikalen Organisation zu sein. Beweise hatten die Ermittler nicht, auch bei der Überprüfung des Computers wurden keine Indizien gefunden. Der Journalist blieb sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erreichte bei dem folgenden Prozess eine Verurteilung. Nicht etwa aufgrund von Beweisen, sondern weil Abays »Gesinnung ganz offensichtlich dem Geist der Anschläge« entspreche. Er ging in Berufung, die Entscheidung des Revisionsgerichtes zwang ihn zur Flucht. Das Verfahren wurde dieses Jahr wieder aufgenommen, der erste Verhandlungstag ist am 7. Mai in Istanbul. Abay bleibt vorerst als Asylbewerber in München. Er unterschreibt seine E-Mails nun als »exilierter Vorsitzender der Plattform für inhaftierte Journalisten«.
Mehr als 2 000 Gerichtsverfahren und etwa 4 000 Ermittlungen beschäftigen Richter, Staatsanwälte und Polizisten derzeit in der Türkei. 70 Journalisten sind in Haft. Die Ermittlungen würden oft unprofessionell durchgeführt, kritisiert selbst der Staatsrechtler und Mitverfasser des türkischen Anti-Terror-Gesetzes, Adem Sözüer. »Die Ermittler basteln sich Legenden aus persönlichen Vorurteilen und aus den in den Medien verbreiteten Verschwörungstheorien«, sagte der Jurist.
Lange Inhaftierungszeiten sind das stärkste Druckmittel. Füsun Erdoğan, die ehemalige Chefredakteurin des linken Özgür Radyo (»Freies Radio«), sitzt seit fast sechs Jahren in Untersuchungshaft. Ihr wird Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Pro Jahr schafft das Gericht durchschnittlich nur drei Verhandlungstage, die Beweisführung zieht sich endlos hin. Auch Erdoğan kann bislang keine Straftat nachgewiesen werden. Die Staatsanwaltschaft versucht, ihre publizistische Tätigkeit als Indiz für ihre Militanz heranzuziehen. Auch ihr wird vorgeworfen, Mitglied der MLKP zu sein. In den ersten zwei Jahren nach ihrer Verhaftung am 8. September 2006 wussten weder Erdoğan noch ihre Anwälte, was ihr vorgeworfen wird. Ersuche um Gespräche mit ihrem ebenfalls inhaftierten Ehemann, İbrahim Çiçek, wurden unzulässigerweise abgelehnt. Nach zwei Jahren tauchten plötzlich Computerdokumente auf, die die Polizei bei einer Razzia in einer MLKP-Wohnung gefunden haben will und in der die Journalistin als Mitglied des Zentralkomitees genannt wird.

Füsun Erdoğan wandte sich am 17. Januar dieses Jahres in einem Brief an die Öffentlichkeit, weil sie mittlerweile schwer erkrankt ist. »Ich habe 300 Seiten Anklageschrift gelesen und keinen einzigen Beweis gegen mich gefunden«, schreibt sie und analysiert die vielen Widersprüche im Prozess. Önder Öner, der heutige Chefredakteur von Özgür Radyo, kann nicht verstehen, warum die ehemalige Kollegin immer noch im Frauengefängnis in Gebze, einem Vorort von Istanbul, sitzt. Sie ist eine von 26 Verdächtigen im sogenannten MLKP-Prozess. »Alle wurden freigelassen, nur Füsun nicht, das ist nicht zu begreifen, es gibt überhaupt keine Beweise gegen sie«, sagt Öner in einem Telefongespräch. Der Sender berichtet regelmäßig über den Prozess. Seit Erdoğans Verhaftung wurde er immer wieder für insgesamt drei Jahre mit Sendeverbot belegt. »Wir arbeiten mittlerweile mit der Schere im Kopf«, so Öner. Doch zumindest ist das Radio noch auf Sendung. Für die ehemalige Chefredakteurin gibt es jedoch keinen Hoffnungsschimmer. Eine Haftentlassung Füsun Erdoğans wurde am 12. März erneut abgelehnt. Ihr Gesundheitszustand hat sich mittlerweile sehr verschlechtert. Nachdem in den vergangenen Jahren bereits Knoten in beiden Brüsten diagnostiziert worden sind, mussten vergangenen November Karzinome aus der Schilddrüse entfernt werden. Erdoğan wird zwar medikamentös behandelt, eine gründliche Krebsnachsorge ist in Haft jedoch nicht möglich. Ihren Brief beschließt die Journalistin mit den Worten: »Aufgrund all der genannten Punkte kann meine weitere Inhaftierung nicht mehr als Sicherheitsaufbewahrung gerechtfertigt werden, sondern sie gleicht meiner Hinrichtung.«