Das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« und die Kritik daran

Ihr seid doch alle irre!

In diesem Monat erscheint die 5. Auflage des Diagnosekatalogs für psychische ­Störungen. Bereits vor Erscheinen gibt es scharfe Kritik an einigen geplanten Neuerungen. Die Schwelle zur Krankheit wird immer weiter gesenkt.

Es ist eine uralte Frage, die zu allen Zeiten die Menschheit beschäftigt hat: Was ist krank und was ist gesund? Es ist auch die Schlüsselfrage in der Debatte um die geplante Neuauflage des »Diagnos­tic and Statistical Manual of Mental Disorders« (Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen, kurz DSM). Demnächst soll die 5. Version des Handbuchs erscheinen und das über 1 000 Seiten unfassende DSM-4 ersetzen, das 1994 veröffentlicht wurde.
Das DSM kann man sich wie ein Lexikon psychischer Erkrankungen vorstellen. Es soll einen Bereich systematisieren, in dem fließende Übergänge an der Tagesordnung sind. Jede Krankheit erhält dabei ihr eigenes Kürzel. In den USA muss die ärztliche Diagnose sich in einem DSM-Kriterium widerspiegeln. Kritiker befürchten nun, dass das DSM-5 es ermöglichen könnte, größere Bevölkerungsteile denn bisher als krank zu stigmatisieren. Neue Störungen sollen in die Neuauflage aufgenommen werden. Hatte man bislang ab und an Heißhunger, hat man in Zukunft eine Krankheit namens »Fressattacken-Störung«. Und ein trotziges Kind könnte künftig unter einer »disruptiven Launenfehlregulationsstörung« leiden.
Klingt verrückt? Da ist die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) anderer Meinung. Sie hat die Erstellung des DSM seit Ende des Zweiten Weltkriegs übernommen und kann weltweit so etwas wie eine Meinungsführerschaft auf dem Gebiet für sich beanspruchen. »Das DSM wird in unterschiedlichem Ausmaße weltweit verwendet. In Deutschland dient es vor allem als Forschungsinstrument. Angesichts der Dominanz amerikanischer Forschung auf dem Gebiet der psychischen Störungen ist schon allein aus Gründen der Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen die – zusätzliche – Verwendung des DSM geboten«, meint Prof. Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

Der Ursprung des Diagnosesystems liegt in einer Volkszählung aus dem Jahre 1840 in den USA, bei der erstmals eine Kategorie »Schwachsinn/Wahnsinn« verwendet wurde. Einige Jahrzehnte später gab es schon sieben Kategorien für Geisteskrankheiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten die Veteranenverbände und die US-Armee eine umfassendere Klassifikation zur besseren Behandlung psychisch erkrankter Soldaten. Schließlich übernahm die APA die Ausarbeitung des DSM und die erste Version erschien im Jahr 1952. Seitdem ist das DSM auch ein Spiegel seiner Zeit. »In früheren Auflagen enthielt das DSM die Homosexualität als Störung, heutzutage wird ADHS beinahe inflationär attestiert«, sagt Margret Osterfeld vom erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Sie gibt zu bedenken, dass die Psychiatrie keine Naturwissenschaft, sondern immer von gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt sei. Aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen fiel 1974 auch die Homosexualität aus dem Kreis der »Störungen« heraus. Neue Diagnosen kamen hinzu. »Man darf nicht vergessen, dass in der APA mitunter auch Fachleute sitzen, die an ihrem eigenen Ruf interessiert sind. Da gibt es schon den einen oder anderen, der mit der Entdeckung einer ›eigenen Störung‹ in die Geschichte eingehen möchte«, meint Osterfeld. So hat die Ärztin selbst erlebt, wie ein Professor mit einer »Verbitterungsstörung« unbedingt gehört werden wollte. Durchsetzen konnte er sich nicht. Ein ähnliches Beispiel ist das »Sissi-Syndrom«, das 1998 für Wirbel sorgte. Es ging von der Annahme aus, dass bei sehr aktiv wirkenden Frauen eigentlich eine eigene Form der Depression, gekennzeichnet durch Unrast, Sprunghaftigkeit und übertriebenem Körperkult, vorliege. Erst 2003 wurde das »Sissi-Syndrom« als unhaltbar verworfen.
»Die angebliche Entdeckung des Sissi-Syndroms passt zeitlich ideal zur Markteinführung einer neuen Generation von Psychopharmaka – den Medikamenten der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer«, erklärt Margret Osterfeld, die selbst jahrzehntelang als Psychiaterin gearbeitet hat. Mit dem Anstieg der medizinischen Diagnosen sind die Verschreibungszahlen von Psychopharmaka ebenfalls drastisch gestiegen. »Medikamente sind oft die einzige Antwort auf menschliche Probleme«, sagt Matthias Seibt, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener. Sein Verband lehnt Handbücher wie das DSM komplett ab. Seibt sagte: »Es handelt sich doch bei allen vermeintlichen ›psychischen Krankheiten‹ strenggenommen nicht um Krankheiten. Sie sind weder klassisch heilbar, denn Psychopharmaka heilen nicht, noch sind die angeblichen Stoffwechselkrankheiten diagnostizierbar.«

Zuspruch erfahren die Kritiker von prominenter Seite. Der US-Psychiater Allen Frances, der selbst maßgeblich das DSM-4 mitentwickelt hat, warnt jetzt in seinem Buch »Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen« vor neuen Diagnosen, die ohne ausreichende wissenschaftliche Belege und zureichende Praxistests eingeführt werden. Er weist vor allem auf »drei neue falsche Epidemien« bei Kindern hin: Autismus, ADHS und bipolare Störungen. Behandelt werden sie oftmals mit Psychopharmaka. »Kinder sind für die Pharmaindustrie der größte Markt. Wenn man früh an sie rankommt, hat man Kunden fürs Leben. Ob Psychopharmaka bei Kindern überhaupt etwas bringen, ist weit weniger erforscht als bei Erwachsenen«, meint Frances. Deren inflationären Gebrauch kritisiert er scharf: »20 Prozent der Amerikaner nehmen jeden Tag eine Tablette. Das ist eine bemerkenswerte Zahl. 20 Prozent der Leute sind abhängig von Pillen.« In Deutschland gibt es ähnliche Tendenzen. Dem Arzneiverordnungsreport 2012 zufolge hat sich die Zahl der verschriebenen Tagesdosen an Antidepressiva in Deutschland in den zehn Jahren zuvor bereits mehr als verdoppelt.
Das DSM-5 weitet diesen Kreis möglicherweise noch weiter aus. »Konkret scheinen im DSM-5 zunehmend mehr Beeinträchtigungen, Belastungen und/oder Lebenskrisen im Privat- und Berufsleben zu psychischen Erkrankungen erklärt zu werden, was wiederum durch sachfremde, ökonomische Interessen motiviert sein kann. Beispiele hierfür sind Trauer und altersbedingte Leistungseinschränkungen«, sagt Wolfgang Maier. Wenn Traurigkeit, Apathie, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit und Appetitmangel noch zwei Wochen nach dem Tod eines Angehörigen anhalten, könnten sie Symptome einer Depression sein. So steht es in den bekannt gewordenen Passagen des DSM-5. Das DSM-4 gab einem noch zwei Monate Zeit zum Trauern, bevor man als krank klassifiziert wurde, davor stand einem ein Jahr zu. Diese Entwicklung hat positive wie negative Seiten. »Generell bedeutet das, dass Maßnahmen in früheren Krankheitsstadien, also bevor sich eine Trauerreaktion zu einer Depression auswachsen kann, von den Krankenkassen finanziert werden. Auf der Kehrseite können verfrühte Diagnosen negative Konsequenzen haben: Stigmatisierung und Stress auf Seiten des Patienten«, erklärt Maier. Im schlimmsten Fall bleiben bei einer Zunahme »leichter« Fälle für die schwer psychisch Kranken weniger Behandlungsmöglichkeiten übrig, »jedenfalls solange die verfügbaren finanziellen und personellen Ressourcen nicht erweitert werden«, sagt Maier. Das sei aber nicht zu erwarten. Die »Vorstufendiagnostik« macht deutlich größere Teile der Bevölkerung zu potentiellen Kranken.

Während in den USA das DSM darüber mitentscheidet, ob Krankenkassen eine Therapie zahlen und ob verurteilte Straftäter ins Gefängnis oder in eine psychiatrische Klinik müssen, hat die Veröffentlichung des DSM-5 für das Gesundheitssystem in Deutschland zunächst keine konkreten Auswirkungen. Es ist primär für die Forschung wichtig, um international anerkannt zu werden. In den Deutschen Kodierrichtlinien, herausgegeben vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus, wird das DSM kein einziges Mal erwähnt.
Für das Abrechnungswesen in Deutschland ist die »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (ICD-10) der WHO maßgeblich. Und die ICD-10 enthält weniger umstrittene Krankheiten, obgleich auch sie ADHS zur Krankheit erklärt hat und sich am DSM orientiert. Für die ICD steht spätestens 2015 eine Revision ins Haus. »Die ICD orientierte sich in der Vergangenheit schon deutlich am DSM, so dass zu befürchten ist, dass die Revision ebenfalls einige Neuerungen des DSM-5 enthalten wird«, meint Margret Osterfeld. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde gibt jedoch auch zu bedenken, dass im DSM-5 notwendige Anpassungen im Diagnosesystem vorgenommen werden. Und schließlich sei immerhin das allseits beliebte Burn-out nicht zur Krankheit erhoben worden.