Giftgaseinsatz in Syrien

Jenseits der roten Linie

Die Indizien für den Einsatz von Giftgas in Syrien häufen sich.

Wenn in Syrien mehr als 70 000 Menschen dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, Millionen auf der Flucht und Hunderttausende inhaftiert oder »verschwunden« sind und selbst hohe UN-Vertreter von der »größten humanitären Katastrophe nach Ende des Zweiten Weltkriegs« sprechen, so ist das sehr bedauerlich, einen Grund zum Eingreifen stellt es nicht dar. Zumindest aus Sicht der US-Regierung, die stattdessen aber gerne »rote Linien« zieht. Man werde es nicht dulden, wenn das syrische Regime seine Chemiewaffen durchs Land zu bewegen beginne, hatte 2012 Präsident Barack Obama erklärt. Das syrische Regime begann, seine Chemiewaffen scharf zu machen. Nichts geschah. Ein Einsatz solcher Waffen sei ein »game changer«, hieß es danach. Seit Herbst vorigen Jahres mehrten sich die Anzeichen, dass chemische Kampfstoffe, wenn auch lokal begrenzt, zum Einsatz kamen. Die USA fanden die Quellen nicht überzeugend. Am 19. März, ausgerechnet fast auf den Tag 25 Jahre nach dem Chemiewaffenangriff der irakischen Armee auf die kurdische Stadt Halabja, gingen Bilder von Toten aus dem Dorf Khan al-Asal um die Welt, die einmal mehr auf Einsatz von Giftgas hinwiesen.
Frankreich und Großbritannien gingen jüngst in die diplomatische Offensive: Man habe, hieß es aus London, Bodenproben und andere Beweise, dass Giftgas mehrmals und an verschiedenen Orten verwendet worden sei. Vergangene Woche erklärte Brigadegeneral Itai Brun vom israelischen Militärgeheimdienst, alles weise darauf hin, dass in Syrien das tödliche Gift Sarin eingesetzt worden sei. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel bestätigte, dass es Beweise für die Verwendung von Sarin »in geringem Ausmaß« gebe.
Syrien verfügt über wohl annähernd 1 000 Tonnen verschiedener Giftgase sowie über ein Arsenal biologischer Kampfstoffe, und das Regime dürfte von seinen Ba’ath-Parteigenossen aus dem Irak wissen, dass sie in der Tat ein »game changer« sein können. Ohne Giftgas wäre es Saddam Hussein kaum gelungen, die kurdische Widerstandsbewegung im Irak zu zerschlagen. Verlockend also die Vorstellung für die bedrängten Machthaber in Syrien, des Aufstandes mit nichtkonventionellen Waffen Herr werden zu können.
Umso wichtiger ist deshalb die Frage, wie ernst die USA es mit ihrer »roten Linie« meinen, denn einzig die Furcht vor einer militärischen Intervention dürfte das syrische Regime bremsen können. Wenn, wie seit Wochen vermutet wird, Präsident Bashar al-Assad die Grenzen gerade austestet, indem er nur begrenzt chemische Kampfstoffe einsetzt, so wäre diese Strategie erfolgreich. Er und seine Generalität könnten nach den jüngsten Reaktionen der USA glauben, man könne ein zweites Halabja riskieren. Wer Wohnviertel mit Scud-Raketen beschießen lässt und für seinen Machterhalt bereit ist, ein ganzes Land in Schutt und Asche zu legen, dürfte auch vor diesem Schritt nicht zurückschrecken.
Als irakische Kurden mit Giftgas bombardiert wurden, dauerte es ein paar Tage, bis die Bilder um die Welt gingen. In Syrien erlebt man das Grauen in Echtzeit. Statt nun alles zu unternehmen, um ein zweites Halabja zu verhindern, diskutiert die »internationale Gemeinschaft«, was »rote Linien« bedeuten. Die allerdings sind inzwischen alle längst überschritten worden.