Der Nordkaukasus ist nicht befriedet

Kaukasische Querelen

Die Konflikte im Nordkaukasus sind noch lange nicht gelöst. Russische und regionale Ordnungskräfte gehen beim Kampf gegen Jihadisten und Separatisten brutal vor.

Die tschetschenische Herkunft zweier mutmaßlicher Attentäter des Terroranschlags in Boston rief eine Konfliktregion ins internationale Gedächtnis zurück, die spätestens mit der offiziellen Beendigung des zweiten Tschetschenienkriegs 2009 aus der Wahrnehmung fast gänzlich verschwunden war. Aber eine schlüssige Erklärung für das Vorgehen der beiden Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev bietet der Jihad nordkaukasischer Warlords nicht. Der Kampf gegen die USA zählte jedenfalls bislang nicht zu deren Repertoire, ihr Feind befindet sich vor Ort und in Moskau, in Gestalt der von der russischen Regierung eingesetzten Statthalter samt ihrem Machtapparat.
Im vergangenen Jahr intensivierte der russische Sicherheitsapparat den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Nicht zuletzt aufgrund der bevorstehenden Olympischen Spiele in Sotschi steht die russische Regierung unter Erfolgsdruck. 391 getötete Jihadisten vermeldet die Statistik für 2012 im gesamten Nordkaukasus, darunter 50 führende Warlords. Deren Anführer und Oberhaupt des sogenannten Emirats Kaukasus, Doku Umarow, war jedoch nicht darunter. Das Vorgehen von Sonderheiten des russischen Innenministeriums und des Inlandsgeheimdiensts FSB gegen Jihadisten schließt Folter ein – betroffen davon sind auch vermeintliche Unterstützer und religiöse Autoritäten. Strafaktionen gegen Familienmitglieder gehören ebenfalls zur Strategie. Wie hoch die im Antiterrorkampf zumindest in Kauf genommenen Verluste unter Zivilisten sind, die keine Verbindung zu jihadistischen Gruppen haben, lässt sich nur vermuten. Nach verschiedenen offiziellen Quellen kamen in Dagestan im selben Zeitraum etwa 200 Menschen ums Leben. Für Tsche­tschenien liegen keine Zahlen vor.
Mitte April erkannte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof erstmals in einer Entscheidung die Verantwortlichkeit der tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden für die Entführung und den Tod eines Menschen an. In der Begründung führte das Gericht an, die Entführer seien als organisierte Gruppe vorgegangen und hätten Militärposten mühelos passieren können. Im August 2009 entführten drei bewaffnete maskierte Männer in Militäruniform ohne jegliche Erklärung Abdul-Jazid Askhabow aus dessen Wohnhaus. Offenbar musste er für einen seiner Brüder büßen, der sich als Kämpfer dem Widerstand angeschlossen hatte und wenige Monate zuvor von Ordnungskräften getötet worden war. Spätere Hausdurchsuchungen brachten kein Beweismaterial gegen Askhabow zum Vorschein. Seine Spur verlor sich im Polizeigewahrsam in der Stadt Schali.
Doch kommen neben purer Gewalt auch andere Mittel zum Einsatz. Der 2010 ins Amt eingeführte und Anfang 2013 wieder abgesetzte ehemalige Präsident Dagestans, Magomedsalam Magomedow, führte einen Dialog mit gemäßigten Salafisten und Verhandlungen mit Jihadisten. Inguschetiens Präsident Junus-Bek Jewkurow versuchte ebenfalls, mit Argumenten zu überzeugen. Er rief Untergrundkämpfer dazu auf, ihn direkt zu kontaktieren, und suchte die Nähe zu deren Verwandten mit der Absicht, Abtrünnige zur Umkehr zu bewegen. Diese Taktik führte tatsächlich zu einer Entspannung. Tschetscheniens Führung wiederum stärkt gezielt den Sufismus als Gegenpol zu salafistischen Strömungen unter Beibehaltung der erwähnten Gewaltexzesse.

Das Konfliktpotential in der Region ist jedoch nicht allein aufgrund islamistischer Tendenzen deutlich gestiegen und erinnert an die Zuspitzung der Verhältnisse im Jahr 1992, kurz vor dem ersten Tschetschenienkrieg. Territoriale Ansprüche führen immer wieder zu Sonderoperationen. Im August vorigen Jahres forderte Tschetscheniens Präsident Ramzan Kadyrow eine auf föderaler Ebene gesetzlich geregelte Festlegung der Grenzen zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Ohne jedoch ein Entscheidung der russischen Regierung abzuwarten, legte die tschetschenische Regierung im Januar ein eigenes Gesetz vor, wonach eine Reihe von Ortschaften in das Hoheitsgebiet der größeren der beiden zu Sowjetzeiten in einer Verwaltungseinheit vereinten Kaukasusrepubliken übergeht. Seit deren Auflösung Ende 1992 im Zuge der tschetschenischen Separatismusbestrebungen ist die Grenzziehung ungeklärt.
Mitte April schließlich drangen etwa 300 Angehörige tschetschenischer Ordnungskräfte bei dem Dorf Arschty auf das Gebiet der benachbarten Republik Inguschetien vor, wobei als Vorwand die Suche nach Umarow diente. Inguschetische Grenzposten versuchten vergeblich, die ungebetenen tschetschenischen Gäste an der Weiterfahrt zu hindern, und meldeten später sechs Verletzte. Derweil führten etwa 30 aus Tschetschenien mit angereiste Zivilpersonen, de facto unter Aufsicht jener Sicherheitskräfte und von mehreren Kameras gefilmt, eine Kundgebung durch, um dort entgegen den lokalen Präferenzen ein klares Votum für eine Zugehörigkeit zu Tschetschenien abzugeben. Augenzeugen wollen außerdem einen hochrangigen tschetschenischen Staatsvertreter gesehen haben.

Der Präsident von Inguschetien, das gerade einmal 3 500 Quadratkilometer umfasst, reagierte empört: Die Staatsführung bemühe sich angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele im nahegelegenen Sotschi um eine Minimierung eventueller Bedrohungen und werde nun erpresst, das sei Wahnsinn. Kadyrow hält sich seinerseits nicht mit Anschuldigungen zurück. Im November noch beließ er es bei dem Vorwurf, Jewkurow lasse Nachsicht gegenüber Terroristen walten. Nach dem jüngsten Konflikt droht der tschetschenische Präsident nun deutlicher: Die Erwähnung der Olympischen Spiele im Zusammenhang mit den Grenzstreitigkeiten sei eine Provokation. Bis zum Erscheinen Jewkurows sei es zwischen beiden Republiken nie zuvor zu einem Konflikt gekommen und er habe für seine Worte früher oder später geradezustehen. Die russische Regierung hält sich bislang mit Reaktionen zurück. Jewkurows anfänglich relativ großer Rückhalt in der Bevölkerung wich der Skepsis und nach dem Auslaufen seiner Amtszeit im Spätsommer wird womöglich ein anderer Kandidat seine Nachfolge antreten.
Zur Stabilisierung der Region braucht es jedoch mehr als ein Führungspersonal, das Loyalität gegenüber dem Machtzentrum sichert. Im vergangenen Dezember verabschiedete die russische Regierung nach mehrjähriger Vorarbeit einen überaus ambitionierten Entwicklungsplan für die gesamte Kaukasusregion bis 2025. Erstmals seit dem Zerfall der Sowjetunion werden darin langfristige Ziele für eine Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage im Nordkaukasus genannt.

Angesichts der desolaten wirtschaftlichen Situation sind Investitionen in astronomischer Größenordnung erforderlich, zumindest veranschlagte das Regionalministerium Summen in einer Höhe, die, privates Kapital eingeschlossen, bei etwa der Hälfte des russischen Gesamtbudgets für ein Jahr liegt, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Die russische Regierung bewilligte schließlich umgerechnet sechs Milliarden Euro bis zum Jahr 2020.
In der Anfangsphase soll das Investitionsklima verbessert werden, bevor konkrete Projekte in Angriff genommen werden, allen voran im Tou­rismus und in der Landwirtschaft. Immerhin 400 000 neue Arbeitsplätze sieht der Plan vor. Das klingt vielversprechend, doch allein der Blick nach Sotschi, wo unter hohem Termindruck und mit riesigen Investitionssummen gearbeitet wird, macht skeptisch. Aber bis 2025 kann noch viel passieren.